Werden Jungen durch Lehrerinnen benachteiligt?

Jungen machen im Vergleich zu Mädchen die schlechteren Schulabschlüsse. Dieser Befund wird inzwischen kaum mehr von jemandem in Deutschland bestritten. Und weil der Befund nicht mehr bestritten werden kann, hat die Suche nach den Ursachen der Nachteile von Jungen im deutschen Bildungssystem begonnen. Eine These, die seit der Befund zum ersten Mal veröffentlicht wurde, immer wieder aufgestellt wird, ist die These von der Feminisierung der (Grund-)Schule. So sind rund 80% der Grundschullehrer weiblich und dies, so die These, sei der Leistung von Jungen abträglich. Eine etwas offensivere These sieht die Nachteile von Jungen als Ergebnis einer aktiven Benachteiligung durch Lehrerinnen. So hat die Laustudie (Lehmann & Peek, 1997, S.89-91) gezeigt, dass Jungen bei gleichen schulischen Leistungen als Mädchen seltener eine Empfehlung für das Gymnasium erhalten; ein sehr starkes Indiz für die Benachteiligung von Jungen in der Grundschule.

An der These der Benachteiligung von Jungen, so Helbig (2010) sowie Neugebauer, Helbig und Landmann (2010) sei jedoch nichts dran; dass Mädchen bessere Abschlüsse erreichten als Jungen sei vielmehr darauf zurükzuführen, dass Mädchen “lernwilliger” (Helbig, 2010, S.5) seien als Jungen. In keinem Fall, so die Autoren, treffe Lehrerinnen eine Schuld. Diese Generalamnestie macht neugierig auf welcher Grundlage die Autoren zu dieser umfassenden Absolution kommen.

Der Großteil der Erkenntnisse, die die Generalamnestie für Lehrerinnen zur Folge haben, sind in dem Beitrag “Can Teacher’s Gender Explain the ‘Boy Crisis’ in Educational Attainment?” versammelt. Darin rechnen Neugebauer, Helbig und Landmann, nachdem Sie den Leser mit ihren (rudimentären) Kenntnissen in Vektor- und Matrizenrechnung beeindrucken wollen, ordinary least square regressions, um die Testergebnisse von Jungen und Mädchen vorherzusagen. Das Ergebnis, das am Ende von 24 Modellen steht, lautet: Jungen profitieren nicht davon, dass sie von männlichen Lehrern unterrichtet werden, und es schadet ihnen nicht, von weiblichen Lehrern unterrichtet zu werden. Auf dieser Grundlage folgert Helbig (2010): “Lehrerinnen trifft keine Schuld an der Schulkrise der Jungen”.

Dieser Schluß ist mutig, denn alle mathematischen Modelle und alle Kunststücke aus der Kiste der Variablensoziologie helfen nicht über das knock-out Problem der Studie von Neugebauer. Helbig und Landmann hinweg: Die abhängige Variable der Autoren mißt Testleistungen von Jungen und Mädchen, also die angewandten Kenntnissen von sowohl Jungen und Mädchen. Gemeinhin sind aber nicht unabhängig gemessene Testleistungen für Versetzung oder Grundschulempfehlung relevant, sondern Noten und die Bewertungen von Lehrern. Wie die Lau-Studie gezeigt hat, sind es gerade nicht die Leistungen von Jungen, die ein Problem bei der Wahl der weiterführenden Schule am Ende der Grundschule darstellen, sondern die Bewertung dieser Leistungen durch mehrheitlich Lehrerinnen. Insofern geht die Studie der Autoren völlig am Punkt vorbei, denn ein Merkmal von Benachteiligung ist es, dass man trotz der guten eigenen Fähigkeiten keine entsprechende Note oder Bewertung vom Lehrer erhält. Dies scheinen die Autoren sich entweder nicht vorstellen zu können oder nicht vorstellen zu wollen.

Dabei hätte Ihnen dieses Problem auffallen können, denn die Tabelle der deskriptiven Statistiken (Neugebauer, Helbig & Landmann, 2010, S.9) zeigt ein interessantes Muster: Wenn Jungen bessere Testergebnisse haben als Mädchen, wie dies in Mathematik und “Wissenschaft” der Fall ist, dann sind ihre schulischen Noten relativ zu Mädchen weniger besser als ihre Testleistungen. Im umgekehrten Fall, wenn Mädchen bessere Testleistungen zeigen als Jungen, wie dies in Deutsch der Fall ist, sind die Noten der Mädchen im Vergleich zu Jungen deutlich besser als ihr Testvorsprung (So sind die Testleistungen von Mädchen in Deutsch um durchschnittlich 2% besser als die von Jungen, während ihre Deutschnoten im Durchschnitt um 12% besser sind). Dieses Muster korrespondiert mit Ergebnissen, die Heike Diefenbach auf Grundlage einer Analyse der PISA-Daten publiziert hat und in der sie den Zusammenhang zwischen Testergebnissen und Schulnoten untersucht. Darin heißt es: “… so zeigt sich, dass der Anteil derer, die bei der Benotung unterbewertet wurden, unter Jungen deutlich größer ist als unter Mädchen …, währen der Anteil derer, die der [im PISA-Test] erreichten Punktzahl entsprechend benotet … oder überbewertet wurden, unter Mädchen größer ist als unter Jungen” (Diefenbach, 2007, S.104).

Angesichts dieser Befunde fragt man sich unwillkürlich, warum die Autoren ihre Analysen auf die Testleistungen und nicht auf die Noten stützen. Drei Antworten auf diese Frage fallen mir ein:

1. Es rächt sich die fehlende theoretische Fundierung, aus der man eine Hypothese über die für den schulischen Erfolg relevanten Variablen hätte ableiten können.

2. Die Testwerte sind als metrische Variable erfasst, während Schulnoten ordinales Skalenniveau haben, entsprechend hätten die Autoren ihre schönen Modellchen nicht mit Schulnoten rechnen können, da eine metrische oder eine binäre abhängige Variable notwendig ist.

3. Den Autoren ging es nicht darum, ein wissenschaftlich fundiertes Ergebnis zu produzieren, sondern darum, eine ideologische Botschaft zu verbreiten.

Welche Antwort die richtige ist, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Da ich den Kontext der Mannheiner Universität, dem diese Studie entstammt, jedoch kenne, tendiere ich zu Antwort 2 und kann mir die Bemerkung nicht verkneifen, dass es der Arbeit der Autoren sicher zuträglich gewesen wäre, die für Deutschland vorhandene umfängliche Literatur zum Thema zur Kenntnis zu nehmen.

Literatur

Diefenbach, Heike (2007). Die schulische Bildung von Jungen und jungen Männern in Deutschland. In: Hollstein, Walter & Matzner, Michael (Hrsg.). Soziale Arbeit mit Jungen und Männern. München: Reinhardt, S.101-115.

Helbig, Marcel (2010). Lehrerinnen trifft keine Schuld an der Schulkrise der Jungen. Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, WZBrief Bildung 11, Mai 2010.

Lehmann, Rainer H. & Peek, Rainer (1997). Aspekte der Lernausgangslage von Schülerinnen und Schülern der fünften Klassen an Hamburger Schulen. Bericht über die Untersuchung im September 1996. Hamburg: Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung.

Neugebauer, Martin, Helbig, Marcel & Landmann, Andreas (2010). Can the Teacher’s Gender Explain the ‘Boy Crisis’ in Educational Attainment? Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung, Working Paper Nr. 133, 2010. Auf dem Server nach Neugebauer suchen!

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