Fat-Tax: Wo endet die “Solidarität” im Gesundheitswesen?

Im Vereinigten Königreich und in den USA wird zur Zeit heftig darüber diskutiert, ob eine “fat tax” eingeführt werden soll. Hintergrund ist ein in The Lancet veröffentlichter Artikel, der vorhersagt, dass 50% aller Erwachsenen in den USA und 40% aller Erwachsenen im Vereinigten Königreich im Jahr 2030 die Kriterien für Adipositas erfüllen (Als adipös gelten Personen mit einem Body Mass Index (BMI) von mehr als 30kg/m2. Der  BMI berechnet sich aus dem Gewicht geteilt durch die quadrierte Größe). Die USA und das Vereinigte Königreich finden sich wie Deutschland auch in der Spitzengruppe der “gewichtigen” Länder mit einem durchschnittlichen BMI von jeweils 27.4 kg/m2 bzw. 27.2 kg/m2 (Deutschland). Übergewichtige und Adipöse haben eine höhere Wahrscheinlichkeit an Diabetes, Herz-Kreislauf-Krankheiten oder Krebs zu erkranken und zu sterben als Normalgewichtige. Entsprechend haben Übergewichtige und Adipöse in den Leistungsausgaben von Krankenkassen ein erhebliches Gewicht. Den Kassen öffentlicher Krankenversicherer, ohnehin schon chronisch leer, steht also mit der vorhersehbaren Zunahme adipöser Erwachsener eine weitere finanzielle Herausforderung bervor.

Vor diesem Hintergrund wird im Vereinigten Königreich darüber diskutiert, ob es nicht an der Zeit ist, eine “fat tax” einzuführen, die Essgewohnheiten, die letztlich im Übergewicht enden, verteuert. Geführt wird diese Diskussion unter der Überschrift der im Vereinigten Königreich so wichtigen Fairness. Da der National Health Service ausschließlich aus Steuermitteln finanziert wird, fragen viele normalgewichtige Steuerzahler wieso sie für das ausufernde Essen anderer und dessen Folgen zahlen sollen. Letztlich ist dies eine Frage, die man in Deutschland unter der Überschrift “Solidarität” diskutieren würde (wenn man sie diskutieren würde), und deren Diskussion für Deutschland ebenso angemessen wäre, wie sie es im Vereinigten Königreich ist.

Die Geschichte der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in Deutschland, dem “solidarischen” Krankenversicherungssystem, bei dem Erwerbstätige alle nicht-Erwerbstätigen Mitversicherten mitfinanzieren, ist spätestens seit den 1980er Jahren davon überschattet, dass die Einnahmen aus Beitragszahlungen hinter den Leistungsausgaben zurückbleiben. Die Konsequenzen dieses Missverhältnisses haben sich in unzähligen Reformen niedergeschlagen, die zumeist eine Reduktion der Leistungen der GKV, eine Erhöhung der Zuzahlung durch die Versicherten, eine Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze, um weniger Versicherte in die private Krankenversicherung abwandern zu sehen oder eine Erhöhung des Beitragssatzes zum Gegenstand hatten. Genannt seien nur (1) das Gesundheitsreformgesetz (1989), (2) das Gesundheitsstrukturgesetz (1993), (3) das Beitragsentlastungsgesetz (1997), (4) das erste und das zweite GKV-Neuordnungsgesetz (1997), (5) das Gesetz zur Stärkung der Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung (1999), (6) die Gesundheitsreform (2000), (7) das Beitragssatzsicherungsgesetz (2003), (8) das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (2004), (9) das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (2007), (10) das Gesetz zur nachhaltigen und sozial ausgewogenen Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (2011).

Alle genannten Gesetze sind Versuche, die Löcher in den Kassen der GKV zu stopfen. Der neueste Versuch, diesmal ein Versuch nachhaltiger Finanzierung, sieht den Beitragssatz zur GKV auf 15.5% des Bruttolohnes festgeschrieben und die Absicht, die Lücke zwischen den Einnahmen und den Ausgaben der GKV durch einen aus Steuermitteln finanzierten Bundeszuschuss und die Möglichkeit für GKV, Zusatzbeiträge zu erheben, zu stopfen. Und, nicht zu vergessen, Wettbewerb (innerhalb des gesetzlich vorgegebenen Rahmens – also kein Wettbewerb) zwischen den GKV soll leisten, was all die oben genannten Reformen nicht leisten konnten: Kosteneffizienz. Zentrales Instrument dazu ist der sogenannte Gesundheitsfonds, in den die Beiträge der GKV-Versicherten fließen und aus dem die einzelnen GKV Mittel nach einem bestimmten Schlüssel zugewiesen bekommen. Wichtig für diesen Schlüssel ist der sogenannte morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich, dessen Ziel darin besteht, ungleiche Mitgliederbestände auszugleichen. GKV, die verglichen mit anderen GKV relativ mehr Frauen, mehr Alte und mehr “Kranke” versichern, erhalten mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds. Überspitzt formuliert könnte man sagen, dass eine GKV, die in den zurückliegenden Jahren nachweislich mehr Mitglieder durch tödlich verlaufende Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs verloren hat, mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds erhält.

Auch wenn Versicherungen gehalten sind, bei ihren Versichtern durch Prävention ein Bewusstsein für Gesundheitsrisiken zu schaffen, scheint die Koppelung der Höhe der Zuweisung aus dem Gesundheitsfonds an die Anzahl der von der jeweiligen Versicherung Versicherten, die z.B.  an Krebs, Diabetes oder Herz-Kreislauf-Leiden erkranken, das falsche Signal für eine Kostendämpfung im Gesundheitswesen zu sein. Zudem werden Erwerbstätige mit der neuen Konstruktion des Gesundheitsfonds gleich dreimal zur Kasse gebeten, einmal über ihre regulären Beiträge zur GKV, einmal über die Steuern, die sie zahlen, und einmal durch die Zusatzbeiträge, die GKV erheben dürfen, um Lücken zu stopfen. Somit stellt sich die Frage, ob es nicht an der Zeit ist, ein Element der Eigenverantwortung in die GKV einzuführen und für bestimmte, das Erkrankungsrisiko erhöhende Gewohnheiten, dann, wenn daraus eine Erkrankung geworden ist, eine Zuzahlung zu den Behandlungskosten zu verlangen. Anders formuliert: Geht Solidarität immer nur in die Richtung von Leistungsempfängern oder ist auch eine Solidarität mit denjenigen möglich, die die Leistungen finanzieren?

Die Entlastungen für die beitragszahlenden Versicherten wären alleine durch ein in-die-Pflicht-Nehmen von Adipösen enorm. Prof. Steven Gortmaker von der Harvard School of Public Health hat errechnet, dass z.B. eine Steuer auf ungesunden Nahrungsmitteln (Chips, Schokolade, Cola usw.) den US-Bundesstaat California mit seinen rund 37 Millionen Einwohnern von Gesundheitsausgaben in Höhe von jährlich rund 1.5 Milliarden US-Dollar entlasten würde. Die Übergabe der Verantwortung für ihre Gesundheit an Bürger zahlt sich somit aus!

Dieses Ergebnis wirft daher die grundsätzliche Frage auf, ob die Solidarität der Erwerbstätigen, die die Leistungen von GKV finanzieren, soweit reichen muss, den Lebensstil anderer zu finanzieren? Müssen die allwinterlichen Beinbrüche von Skifahrern unbedingt von allen Beitragszahlern getragen werden? Muss die Lebenentscheidung, Kinder in vitro oder anders in den Welt zu setzen, Gegenstand der Solidarität aller Beitragszahler sein? Ist es notwendig, die Behandlungskosten für Krankheiten, die aus exzessiven Alkoholkonsum resultieren, auf die Gesamtheit der Beitragszahler umzuverteilen? Müssen Kosten für Krankheiten, die sich aus zu viel und zu fetthaltigem Essen ergeben, von allen Beitragszahlern getragen werden? Oder wäre es nicht sinnvoll, einen Grundtarif einzuführen, der einen Grundstock von Leistungen für alle Versicherten einer GKV abdeckt und darüber hinausgehende Krankheitsrisiken, wie sie z.B. aus Essgewohnheiten, Sportgewohnheiten, Trinkgewohnheiten oder Lebensentscheidungen entstehen, durch die individuellen Versicherten selbst tragen zu lassen?

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