Deutsche Sprache: Voraussetzung für Integration und Exklusion?

Die deutsche Sprache gilt vielen als Kulturgut. Sie ist die Muttersprache von Goethe, Schiller und Einstein. Deutsch ist aber mehr als eine Sprache. Die deutsche Sprache gilt deutschen Politikern und vermutlich nicht nur ihnen als das Band, das das Land zusammenhält. Deutsch sein ist Deutsch sprechen, schreiben und lesen können. Die deutsche Sprache ist der Kitt, das, was die deutsche Welt “im Innersten zusammen hält”. “Wer Deutscher werden will, muss die deutsche Sprache beherrschen”, heißt es entsprechenden in einem Kommentar der “WELT”. Die deutsche Sprache ist, wie Guido Wersterwelle weiß, der “Schlüssel zur Integration” und deshalb will Hartmut Koschyk, die deutsche Sprache als “Schlüssel der Integration verankern” (leider sagt er nicht, wo er den Schlüssel verankern will – oder wie). Verankert ist die deutsche Sprache als “Voraussetzung für Integration” im von der Niedersächsischen Landesregierung verabschiedeten “Handlungsprogramm Integration in Niedersachsen”.

Wer, so kann man den vorausgehenden Absatz zusammenfassen, Deutsch nicht in hinreichender Weise lesen, schreiben und sprechen kann, ist in der deutschen Gesellschaft als randständig zu betrachten. Er kann sich im täglichen Leben, so die Annahme, nicht orientieren und kommt entsprechend in der deutsch sprechenden Welt nicht zurecht. Damit wird Deutsch zum Mittel der Integration und zum Mittel der Exklusion zugleich, und es wird nicht nur zum Maß für die gesellschaftliche Integration von Ausländern, sondern auch zum Maß für die gesellschaftliche Exklusion von Deutschen.

“Bund und Länder vereint im Kampf gegen Analphabetismus”, so ist eine Pressemeldung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung [BMBF] vom 16. Dezember 2011 überschrieben. Jährlich sollen rund 45.000 Menschen deutschlandweit mit “ausreichende[n] Kenntnissen der Schriftsprache” versorgt werden und rund 75 Millionen Euro sollen dafür aus BMBF und ESF [Europäischem Sozialfonds] fließen, um die Zahl der (funktionalen) Analphabeten zu verringern. Eine Pressemeldung wie die soeben zitierte, lässt zunächst einmal aufhorchen, denn für gewöhnlich werden soziale Probleme in Deutschland nicht zum Gegenstand einer entsprechenden Bearbeitung, wie man z.B. daran sehen kann, dass die Nachteile, die Jungen bei der Schulbildung haben, immer noch Gegenstand der Schuldigensuche (nachdem sie vor rund 10 Jahren deutlich aufgezeigt wurden) und immer noch nicht Gegenstand von Ursachensuche und Ursachenbeseitigung sind. Entsprechend habe ich mich gefragt, welche Datengrundlage diese Pressemeldung hervorgebracht hat. Wie gewöhnlich, geben deutsche Ministerien die Quelle ihrer Erkenntnis nicht preis und verweisen lieber auf andere, wie z.B. den alphabund. Der alphabund wiederum widmet sich der Alphabetisierung und Grundbildung in Deutschland, veröffentlicht sogar Zahlen zur Alphabetisierung, legt aber die Quelle der entsprechenden Zahlen nicht offen, so dass man nicht weiß, was man von den entsprechenden Zahlen halten soll.

Nach einiger Recherche bin ich auf leo.-Blog gestoßen, ein Projekt, angesiedelt an der Universität Hamburg, das sich mit der Gewinnung von Daten darüber beschäftigt, wie verbreitet die nicht-Beherrschung der deutschen Sprache in Deutschland ist.  Im Frühjahr 2011 wurde aus diesem Projekt eine Pressebroschüre veröffentlicht, die in deutscher und englischer Sprache erstellt wurde. Der Inhalt der entsprechenden Broschüre, die ersten Ergebnisse der Analphabetismus-Studie, sind folgenschwer.

8.436 Personen wurden in Hamburg und Berlin befragt, um den Grad ihrer Lese-, Schreib- und Verständnisfähigkeit, also ihre Sprachkompetenz zu bestimmen. Dabei haben sich die Forscher auf die Bevölkerung im arbeitsfähige Alter (18 bis 64 Jahre) beschränkt und auf der Basis ihrer Ergebnisse die Verteilung in der deutschen Bevölkerung hochgerechnet. Hochgerechnet wurde u.a. der Anteil der funktional Sprachinkompetenten, d.h. von Menschen, die zwar einzelne Sätze lesen oder schreiben können, aber denen es nicht möglich ist, einen kontinuierlichen Text zu erstellen oder einem solchen Text zu folgen. Entsprechend sind diese Menschen “nicht in der Lage, die Anforderungen des täglichen Lebens in der angemessenen Weise zu meistern”, sie sind,  wie deutsche Politiker nicht müde werden zu betonen, nicht integriert. Von funktional Sprachinkompetenten werden zum einen Personen abgesetzt, die weder schreiben noch lesen können, also Analphabeten im eigentlichen Sinne des Wortes und Personen, die ein Standardvokabular beherrschen, aber das entsprechende Vokabular nicht in Schriftform umsetzen können, also deren Schreibkompetenzen nicht vorhanden sind. Die so systematisierten Ergebnisse sind wie folgt:

      • 4% der Bevölkerung Deutschlands im Alter von 18 bis 64 Jahren, rund 2.3 Millionen Personen sind Analphabeten im engen Sinne.
      • 10% der arbeitsfähigen Bevölkerung Deutschlands, rund 5.2 Millionen Personen sind funktionale Analphabeten.
      • Insgesamt 25.9% der arbeitsfähigen Bevölkerung Deutschlands, rund 13,3 Millionen Personen sind nicht in der Lage, sich kompetent in Schriftform auszudrücken.

Eine genauere Untersuchung dahingehend, um wen es sich bei den insgesamt 7.5 Millionen funktionalen Analphabeten handelt, erbringt folgende Ergebnisse:

    • für 58% der funktionalen Analphabeten ist Deutsch Muttersprache.
    • 60% der funktionalen Analphabeten sind Männer.
    • 57% der funktionalen Analphabeten sind erwerbstätig, rund 17% arbeitslos und rund 10% widmen sich der Kindererziehung oder Hausarbeit.
    • 47.7% der funktionalen Analphabeten verfügen über einen geringwertigen Schulabschluss, 12,3% [sic!] haben ein Abitur erreicht (wie auch immer).

Die Ergebnisse zeigen, dass die deutsche Sprache, die von Politikern als “Schlüssel zur Integration” angesehen wird, von 4.4 Millionen deutschen Muttersprachlern nicht beherrscht wird. Entsprechend müssen diese deutschen Muttersprachler als exkludiert angesehen werden. Sie stehen – um im Bild zu bleiben – vor den verschlossenen Türen der deutschsprechenden Gesellschaft. Ist der Kern der Deutschsprecher wie die Ergebnisse zeigen, bereits deutlich geschrumpft, so wird der Kern, betrachtet man die Fähigkeiten, sich in Schriftform korrekt zu artikuliern, noch kleiner: 13 Millionen Menschen in Deutschland sind nicht in der Lage, sich in adäquater Form schriftlich auszudrücken, 10.4 Millionen davon sind deutsche Muttersprachler.

Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse kann man die Ikonographie der deutschen Sprache verändern und Deutsch als ein Teil einer Kultur ansehen, die “Deutschland” kennzeichnet, deren bestimmender Teil aber nicht die Sprache ist – anders formuliert, die deutsche Sprache ist nicht mehr die alleinige Eintrittskarte in den Club der Deutschen, sondern ein Bestandteil dessen, was man dann als deutsche Bürgerkultur ansehen könnte. Man kann natürlich auch weiterhin eine Schlüsselphantasie aufrecht erhalten und die deutsche Sprache zur Weihe erklären, die über Deutschsein oder nicht entscheidet, dann wären die 4.4 Millionen deutsche Muttersprachler, die funktionale Analphabeten sind oder die 10.4 Millionen deutsche Muttersprachler, die sich schriftlich nicht adäquat auszudrücken vermögen, eben ein Kollateralschaden, den die Aufrechterhaltung der Gemeinschaft-durch-deutsche-Sprache-Illusion mit sich bringt.

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