Freiheit vom Wohlfahrtsstaat

Richard Thaler und Cass Sunstein waren bereits Gegenstand auf diesem Blog, und zwar mit ihrem Versuch, den Eingriff in die Freiheitsrechte Einzelner durch angeblich gutgemeinte Interventionen von Regierung und Regierungshelfern zu legitimieren. Das Ergebnis vermeintlich “liberalen Paternalismus'”, den Thaler und Sunstein predigen, ist demokratischer Despotismus, wie Alexis de Tocqueville dies genannt hat, die Diktatur der selbsternannten guten Menschen über diejenigen, die nicht einsehen wollen, worin eigentlich ihr Glück besteht. Nun sind staatliche Eingriffe in so genannten modernen Gesellschaften an der Tagesordnung. Sie strukturieren unter dem Begriff “Wohlfahrtsstaat” des Leben ihrer Bürger von der Wiege bis zur Bahre und mit einer Flut von bürokratischen Vordrucken, auf denen Geburt, Anmeldung im Kindergarten, Anmeldung in der Schule, Anmeldung bei der gesetzlichen Krankenversicherung als mitversichert, Anmeldung zur Vorsorgeuntersuchung, Anmeldung zur Einschulungsuntersuchung, zum Schulbesuch, zum Freiwilligendienst, zur Berufsschule oder zum Studium in staatlichen Schulen, beim Arbeitsamt, beim Finanzamt, bei der Rentenversicherung und bei all den anderen staatlichen Wohltaten, die der Wohlfahrtsstaat bereit hält und für deren Unterhalt er seine Bürger zur Kasse bittet, zu dokumentieren sind.

Im Gegenzug für ihre Steuergelder erhalten die Wohlfahrtsstaatsbürger dann eine schlechte Versorgung in der Krankenversicherung (z.B. sind Zahnärzte gezwungen, Zysten zu vernähen ohne sie zu füllen (zu teuer), so dass die entsprechende Zyste sich nach ein paar Jahren wieder mit Eiter füllen kann und die Wiederholung der Behandlung erforderlich ist), eine miserable Rendite in der Rentenversicherung oder eine hohe Wahrscheinlichkeit im Pflegeheim durch Iatrogenese um die Ecke gebracht zu werden (Iatrogenese beschreibt die Krankheit, die durch pflegerische Maßnahmen verursacht wird, z.B. der wunde Rücken, weil man nicht aufstehen darf, die Inkontinenz, weil es einfacher ist, alte Menschen mit einem Katheder zu versorgen, als sie mehrfach am Tag zur Toilette zu bringen usw.). Die hohe Steuerlast erleichtert die Zementierung sozialer Schranken, denn Angehörigen der Unterschicht ist wirkungsvoll jede Bildung von Reichtum verwehrt, während die Erbengeneration auf dem aufbauen kann, was Vorgenerationen, die noch besteuert wurden, bevor die staatliche Wohlfahrt das Ansparen nennenswerter Summen verhindert hat, profitieren kann. Zudem reduziert die hohe Steuer- und Abgabenlast das wirtschaftliche Wachstum, das allein die Mittel bereitstellen würde, um ungleiche soziale Startchancen zu überwinden. Schließlich sorgt ein bürokratischer Moloch dafür, dass jede Initiative in einem Wust offizieller Genehmigungen und Formularvordrucke erstickt wird, so dass auch auf diesem Weg, vertikale soziale Mobilität verhindert werden kann.

All diese negativen Konsequenzen des Wohlfahrtsstaats hat James Bartholomew in seinem Buch “The Welfare State we’re in” haarklein aufgezeigt, bewertet und die Konklusion der Summe seiner Einzelanalysen lautet schlicht: Ein Wohlfahrtsstaat geht mit viel mehr negativen Konsequenzen einher als er Positives bewirkt. Nun ist Bartholomew Engländer und von daher als Autorität für Fragen des Wohlfahrtsstaats in Deutschland vermutlich nicht anerkannt. Deutschland geht nämlich einen Sonderweg, und deshalb ist in Deutschland alles anders. Erkenntnisse darüber, wie Bildungsgerechtigkeit herbeigeführt werden kann, die in anderen Ländern gewonnen wurden, gelten nur dann, wenn sie der eigenen Ideologie entsprechen, Erkenntnisse darüber, welche Wirtschaftsform den meisten Nutzen verspricht, sind den herrschenden Seilschaften meist nicht genehm und werden daher “eingedeutscht”, und Erkenntnisse darüber, dass Gesellschaften sich dann am besten entwickeln, wenn sie sich als civic society konstituieren, was eine weitgehende individuelle Freiheit vor staatlicher Bevormundung voraussetzt, werden als dem deutschen Wesen nicht angemessen abgelehnt.

Dabei war die Ideologie des “guten” Wohlfahrtsstaates, das vermeintliche Wissen darum, in der einzig möglichen und besten aller möglichen Welten zu leben, nicht immer so unbestritten wie es derzeit in Deutschland der Fall ist. Es gab nicht nur Zeiten, in denen Philosophen darüber nachgedacht haben, wie man selbst so göttlich gegebene Verfassungen wie die der Bonner Republik verbessern könnte, es gab auch Zeiten, zu denen deutsche Philosophen den Wohlfahrtsstaat ob seiner negativen Konsequenzen abgelehnt haben. Letzteres ist zugegebener Maßen lange her, aber die Kritik, die Wilhelm von Humboldt am Wohlfahrtsstaat geübt hat, ist auch heute noch aktuell.

Für Humboldt gibt es zwei Dinge, die es vor allen zu wahren gilt: Freiheit und Verschiedenheit. Vor dem Hintergrund dieser beiden Grundwerte, wenn man so will, formuliert er die folgende Kritik am Wohlfahrtsstaat:

  • Staatliche Anstrengungen, Wohlfahrt herbeizuführen haben unweigerlich eine Uniformität (durch Gleichschaltung) zur Folge, d.h. sie zerstören die von Humboldt so hoch geschätzte Verschiedenheit und schaden auf diesem Wege der allgemeinen Wohlfahrt mehr als sie ihr nützen. Dies ist unmittelbar einleuchtend, denn ein Wohlfahrtsstaat zwingt seine Bürger dazu, den Formularvordrucken und dem darin vorgegebenen Lebensweg zu entsprechen. Wer dies nicht tut und z.B. kinderlos bleibt, wird (finanziell) bestraft.
  • Wohlfahrtsstaatliche Einrichtungen, wie sie z.B. in den verschiedenen Sozialversicherungssystemen vorhanden sind, führen individuelle Akteure dazu, ihre eigenen Unzulänglichkeiten und zu geringen Fähigkeiten nicht zum Anlaß zu nehmen, um an sich zu arbeiten, sondern dazu, die Schuld an der eigenen Situation den Umständen, den Bonzen oder wem auch immer zu zu schieben (und selbst wenn es inhaltlich richtig wäre, würde es die Situation des Einzelnen nicht verbessern).
  • Staatliche Einrichtungen der Wohlfahrt, wie z.B. der Anspruch auf Sozialhilfe, zerstören Nächstenliebe und Caritas, sie töten entsprechend die “lebende Kraft der Sympathie [Empathie]” und die Bezogenheit der Gesellschaftsmitglieder aufeinander. Wer arbeitslos ist und seinen Unterhalt vom “Amt” bekommt, muss auf seine Nachbarn keine Rücksicht nehmen und kann lautstark durch die Nacht “feten”.
  • Der Wohlfahrtsstaat führt zu einem bürokratischen Moloch. Da staatliche Regulierungen nie den Einzelfall betrachten können, ist es notwendig, die Einhaltung “allgemeiner Vorgaben” auf individueller Ebene durch eine Unzahl von staatlichen Helfershelfern kontrollieren zu lassen. Humboldt erweist sich hier geradezu als Prophet der Verwaltungsbeamten-, Anwalts-, Sozialarbeiter- und Sozialpädagogenschwemme der heutigen Zeit.

Die Einwände, die Wilhelm von Humboldt 1791 gegen den Wohlfahrtsstaat formuliert hat und die posthum 1852 veröffentlicht wurden, belegen nicht nur, dass deutsche Philosophen schon früh vor dem drohenden Unheil gewarnt haben, sie sind angesichts von “moderenen Wohlfahrtsstaaten”, die sich mit ihren Vasallen über die Welt verbreiten, wie Wasserpest in einem Binnensee und vor deren Zugriff fast nur noch der Gang auf die Toilette geschützt ist, aktueller denn je.

Bartholomew, James (2004). The Welfare State we’re in. London: Menthuen.

Humboldt, Wilhelm von (1996[1852]). The Sphere and Duties of Government. Chippenham: Thoemmes Press.

Einen Einblick in die Philosophie von Wilhelm von Humboldt gibt:
Wohlgemuth, Michael (2011). The Boundaries of the State. Freiburg: Freiburger Diskussionspapiere zur Ordnungsökonomik 11/3.

Bildnachweis:

http://blog.zakel.at

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