Sinn und Unsinn in den Sozialwissenschaften

In seiner berühmten Definition des Begriffs der “Soziologie” schreibt Max Weber: “Soziologie (im hier verstandenen Sinn dieses  sehr vieldeutig gebrauchten Wortes) soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will” (Weber, 1988, S.542). Verallgemeinernd könnte man den Sinn der Sozialwissenschaften darin sehen, dass sie einerseits versuchen, einen Gegenstand, ein Problem, ein soziales Faktum zu verstehen, um von diesem Verständnis ausgehend, Zustandekommen und Wirkungen des entsprechenden sozialen Faktums zu erklären.

Diese allgemeine Aufgabenstellung für die Sozialwissenschaften lässt sich zudem noch in einen Entdeckungs- und einen Begründungszusammenhang unterscheiden, wie dies Hans Albert (1984) getan hat und, so will ich an dieser Stelle hinzufügen, in einen Verwertungszusammenhang. Mit dieser Unterscheidung verbinden sich die Forderungen, dass ein Forschungsgegenstand in seinem Entdeckungs- und Begründungszusammenhang weitgehend wertfrei (oder “objektiv”) beschrieben, oder um mit Max Weber zu reden, verstanden und erklärt werden soll, während mit dem Verwertungszusammenhang die Forderungen einhergehen, dass die Anwendung von Forschung bzw. Forschungsergebnissen in ihren Wirkungen und Konsequenzen bzw. in ihrer Nutzung zur Lösung von Problemen, wertneutral erfolgen soll, was zur Voraussetzung hat, dass Forschung überhaupt ein Ergebnis produziert, das angewendet werden kann.

Es ist eine Frage der Moral, dass Forschung mit dem Blick auf einen Verwendungszusammenhang betrieben wird, denn die Mehrzahl der Forschenden werden aus öffentlichen Mitteln, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und somit letztlich von Steuerzahlern finanziert, die wiederum arbeiten müssen, um den Mehrwert zu erwirtschaften, der dann bereit steht, um Forschende und ihre Forschungstätigkeiten zu finanzieren. Entsprechend stehen Wissenschaftler im Allgemeinen und Sozialwissenschaftler im Besonderen in einem Verantwortungsverhältnis gegenüber den Steuerzahlern:  Ihnen gegenüber müssen sie den Nachweis erbringen, dass ihre Forschung nicht der Erbauung der eigenen Person dient, sondern einen Nutzen für die Allgemeinheit stiftet.

Wie eine ganze Reihe von Beiträgen in diesem blog zeigen, ist es mit der Verantwortung von Sozialwissenschaftlern gegenüber denen, die ihre “Studien” finanzieren, nicht allzu weit her. Ich habe hier “Arbeiten” besprochen, in denen Sozialwissenschaftler ihre utopischen Hirngespinste ausbreiten, um auf der Basis ihrer romantischen Vorstellungen gegen den Kapitalismus zu Felde zu ziehen; “Arbeiten”, in denen Sozialwissenschaftler erst einen Popanz errichten, um dann gegen den Popanz zu Felde ziehen zu können, weil ihnen dieser Feldzug vermutlich eine Befriedigung verschafft. Ich habe über “Arbeiten” berichtet, die einen Kniefall vor der herrschenden Ideologie machen und Dicke auf die Anklagebank setzen oder in das endlose und unglaublich langweilige Lamento einfallen, dass Frauen in … [Passendes bitte einfügen] Nachteile haben, wobei das neueste Beispiel beklagt, dass es immer noch männer- bzw. frauentypische Berufswahlen gibt, wobei die Autoren freilich nicht die Konsequenz ihrer Forschung bedacht haben, die man mit der Forderung: “Frauen zur Müllabfuhr” zusammenfassen könnte. Vielmehr geht das Beklagen der Nachteile von Frauen bei der Berufswahl nur in die Richtung von Männerberufen mit relativ hohem Status und hohem Verdienst, nicht jedoch in die Richtung von Männerberufen mit niedrigem Status und entsprechend geringem Verdienst.

Diese Beispiele machen deutlich, dass es mit der Forderung von Max Weber, nach der Sozialwissenschafter ihren Forschungsgegenstand verstehen und erklären sollen, ebenso nicht weit her ist, wie mit der Forderung nach einer möglichst “objektiven” Beschreibung des Forschungsgegenstands. Auch die Forderung einer zumindest dem Anspruch nach “objektiven” Ableitung der Konsequenzen einer  an “objektiv nachvollziehbaren” Kriterien ausgerichteten Erklärung eines sozialen Faktums ist weitgehend vergessen.

Statt dessen wird munter Ideologie, werden munter eigene Bewertungen in die Diskussion geworfen. Es wird behauptet, in Deutschland herrsche Armut, obwohl die Daten “relative Armut” abbilden, es wird behauptet, “Dicke seien unglücklich und fänden keinen Partner” obwohl nichts davon in den Daten zu finden ist, es wird behauptet, Frauen wollten unbedingt Männerberufe ergreifen, obwohl die Realität ganz anderes zeigt, und es wird beklagt, dass sich die kapitalistische Welt von den pardisischen Vorstellungen, wie sie dem Neanderthal angedichtet werden, entfernt habe. Man kann diese Durchsetzung der Sozialwissenschaften mit politisch korrekter Ideologie und das damit verbundene “crowding out” kritischer Sozialwissenschaftler als Indiz dafür nehmen, dass die in Deutschland und an deutschen Universitäten herrschende Atmosphäre nur noch Gehorsam mit der herrschenden Ideologie toleriert, dass mit anderen Worten, die wissenschaftliche Landschaft in Deutschland einer Brache gleicht, auf der außer dem politisch korrekten Unkraut nichts mehr gedeiht.

Ein weiteres Indiz, neben der ideologischen Überfrachtung sozialwissenschaftlicher Studien und dem völligen Fehlen auch nur des geringsten Willens, einen Forschungsgegenstand in seinen realen Bezügen verstehen und erklären zu wollen, findet sich in der Zunahme völlig belangloser “Studien”, die Ergebnisse produzieren, deren Effekt auf den Erkenntnisfortschritt schlicht nicht vorhanden ist. Eine solche Studie haben Mario Mechtel, Tobias Brändle, Agnes Stribeck und Karin Vetter von der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen gerade veröffentlicht. Die Studie entstammt einem Projekt, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert wurde und hat zudem die Teilnehmer der Jahreskonferenz des Vereins für Socialpolitik in Kiel, die Teilnehmer des Treffens der “European Public Choice Theory” in Izmir sowie die Teilnehmer des “Economics Workshop” in Tübingen unterhalten. Man darf davon ausgehen, dass die Kosten für Anreise, Unterkunft und (im letzten Fall) die Ausrichtung des Workshops ebenfalls vom Steuerzahler getragen wurden und muss die im Folgenden berichteten Ergebnisse, vor diesem Hintergrund verdauen.

Mario Mechtel, Tobias Brändle, Agnes Stribeck und Karin Vetter berichten uns die folgenden Ergebnisse ihrer Forschung:

  • Wird ein Spieler der Heimmannschaft in einem Bundesligaspiel vom Platz gestellt, dann verschlechtert sich dadurch das Endergebnis für die Heimmannschaft.
  • Wird ein Spieler der Auswärtsmannschaft vom Platz gestellt, dann wirkt sich dies negativ auf das Ergebnis aus, wenn der Spieler vor der 70 Spielminute vom Platz gestellt wird, danach nicht mehr.
  • Im Hinblick auf das Endergebnis bzw. die Anzahl der Tore, die in einem Spiel erzielt werden, hat ein Platzverweis für Spieler der Auswärtsmannschaft negativere Folgen als ein Platzverweis für Spieler der Heimmannschaft.
  • Diese Ergebnisse haben zur Konsequenz, dass – aus theoretischer Sicht (!sic) – ein Platzverweis dazu führen kann, dass, da nunmehr weniger Personen zur Erfüllung einer gemeinsamen Aufgabe zur Verfügung stehen, die Team-Performanz schlechter wird, aber ein Platzverweis kann auch dazu führen, dass die verbleibenden Spieler ein Motivationshoch erleben und so tun, als wären sie noch 11, was bedeutet, dass man aus den Ergebnissen folgern muss, dass ein Platzverweis sich negativ auswirken kann oder auch nicht.

Ich weiß nicht, Steuergelder in welcher Höhe diese herausragenden Forschungsergebnisse, von denen ich mich frage, in welchem Verwendungszusammenhang sie je von Interesse sein könnten, verschlungen haben, ich weiß nur, dass sie es haben und dass ich die vier Sozialwissenschaftler aus Tübingen gerne fragen würde, mit welchem Nutzen für die Steuerzahler sie die Finanzierung ihrer “Forschungsergebnisse” gegenüber den Steuerzahlern rechtfertigen wollen. Das ist genau dieselbe Frage, die man Christoph Butterwegge, Marcel Helbig und Kathrin Leuze, Thomas Klein sowie Anna Klein und Wilhelm Heitmeyer stellen muss, von denen die oben berichteten ideologisch überfrachteten “Ergebnisse” stammen. Und dass man diese Fragen stellen muss, führt zurück zum Anfang dieses post. Sozialwissenschaften sind kein Selbstzweck. Sie dienen nicht dem Ausleben eigener Hobbies, nicht der Führung ideologischer Kreuzzüge, und ihr Zweck besteht auch nicht darin, vor der herrschenen Ideologie auf den Knien zu rutschen. Sozialwissenschaften sind dem Verständnis und der Erklärung sozialer Fakten gewidmet, und entsprechend muss am Ende einer sozialwissenschaftlichen Forschung ein Nutzen für diejenigen stehen bzw. erkennbar sein, die die Forschung finanziert haben, eine Erkenntnis, die uns im Leben weiterhilft, die Verbesserungen anstößt und die auf nachvollziehbarer und methodisch nicht zu beanstandender Forschung basiert. Von dieser Forderung scheinen die deutschen Sozialwissenschaften jedoch ungefähr so weit entfernt zu sein, wie der 1. FC Kaiserslautern davon, die Champions League zu gewinnen. Vielleicht kann ja einmal jemand untersuchen, wie sich die Höhenlage des Betzenberges auf die Chancen des 1. FcK, die Champions League zu gewinnen, auswirkt, aber bitte die Forschung aus eigenen Mitteln finanzieren!

Literatur

Albert, Hans (1984). Theorie und Prognose in den Sozialwissenschaften. In: Topitzsch, Ernst (Hrsg.). Logik der Sozialwissenschaften. Königstein/Taunus: Athenäum, S.126-144.
Mechtel, Mario, Brändle, Tobias, Stribeck, Agnes & Vetter, Karin (2010). Red Cards: Not Such Bad News For Penalized Guest Teams.
Weber, Max (1988). Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen: J.C.B. Mohr.

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