Der Missbrauch “bildungsferner Schichten” – Ein Kommentar

Der demographische Wandel macht es möglich: Plötzlich interessieren sich Politiker für Kinder aus Arbeiterfamilien, Kinder aus “bildungsfernen Schichten”, wie das in den entsprechenden Kreisen heißt. Kinder aus “bildungsfernen Schichten”, das sind Kinder, im Hinblick auf die Johanna Wanka, Bildungsministerin in Niedersachsen, “schon jetzt (!sic)” etwas tun will, um sie “zu gewinnen”. Gewonnen werden sollen die “bildungsfernen Schichten”-Kinder “schon jetzt” für ein Studium an einer Universität oder besser noch einer Fachhochschule, und wie immer wenn Politiker denken und gleich reden, offenbaren sie ihre Vorurteile in einer Weise, die einem Schaudern lässt, denn: um Kinder aus bildungsfernen Schichten zu gewinnen, müsse man eine “offene Hochschule” schaffen, was letztlich bedeutet, dass die Zugangsvoraussetzung für die Universität und die Fachhochschule nicht mehr in der Fachhochschulreife bzw. dem Abitur bestehen, sondern z.B. in einer abgeschlossenen Ausbildung: “Wenn eine Arzthelferin Medizin studieren will, hat sie doch mehr Einblick in den Beruf gehabt als ein Schulabgänger”, weiß die Ministerin, von der ich mich frage, in was sie Einblick hatte, ehe sie zur Ministerin gemacht wurde.

Bildungsferne Schicht?

Die Prämisse, auf der die Idee der “offenen Universität” basiert, lautet: Kinder aus “bildungsfernen Schichten” sind zu dumm oder im Elternhaus zu wenig unterstützt oder zu langsam im Lernen oder in welcher Weise auch immer defizitär, als dass sie es auf dem normalen Wege schaffen könnten, einen Studienplatz an einer Universität oder einer Fachhochschule zu ergattern. Weil aber der demographische Wandel Lücken in die Besetzung der Hörsäle schlägt, muss man die freiwerdenden Plätze nun notgedrungen mit Kindern aus “bildungsfernen Schichten” besetzen und ihnen entsprechend ihrer defizitären Ausgangslage für Bildung entgegenkommen: Ansprüche reduzieren, unter die Arme greifen, helfen, leiten und führen, wie man das halt so tut, als wohlmeinender Onkel bzw. wohlmeindende Tante.

Mich bringt eine derartig offene Geringschätzung von Kindern aus Arbeiterfamilien und die Instrumentalisierung der Verfügungsmasse aus der “bildungsfernen Schicht”  mitterweile derart in Rage, dass ich dazu übergegangen bin, zurückzuschlagen. Warum? Nun, ich bin ein Kind aus der “bildungsfernen Schicht”, ich komme aus der Arbeiterschicht und habe es geschafft, ganz ohne die Hilfe von wohlmeindenen Ministerinnen aus der Mittelschicht, ein Studium zu absolvieren. Ich habe die Ansprüche erfüllt, von denen Frau Ministerin der Ansicht ist, sie seien einfach zu hoch für Kinder aus der “bildungsfernen Schicht”, und ich habe die Heuchelei von Politikern wie Ministerin Wanka nun endgültig satt, diese Heuchelei, der die Unterschicht, die Arbeiterschicht oder die “bildungsferne Schicht” immer dann einfällt, wenn es darum geht, für sich selbst und seinesgleichen einen Vorteil zu erheischen und wenn es darum geht, eine Industrie institutionalisierter Hilfe und Sonderbehandlung für ausnahmslos alle aus der “bildungsfernen Schicht” zu etablieren, damit man Horden von Sozialpädagogen, Sozialarbeitern und sonstige Helfer in Lohn und Brot bringt und in jedem Fall verhindert, dass Kinder aus der “bildungsfernen Schicht” ein selbstbestimmtes und von der Mittelschicht nicht beeinträchtigtes Leben führen können.

Kaum ein Land unterhält ein Schulsystem, das in ähnlicher Weise selegiert wie das deutsche. Die Studien der OECD und nicht nur diese Studien, enden regelmäßig mit der Feststellung, dass Kinder aus der Arbeiterschicht Probleme haben, nach der Grundschule auf weiterführende Schulen zu gelangen. Läge es nicht nahe, wenn man die Anzahl von Kindern aus “bildungsfernen Schichten” auf Universitäten und Fachhochschulen erhöhen wollte, die Möglichkeiten, der entsprechenden Kinder zu verbessern, eine weiterführende Schule zu besuchen, um auf diesem Wege ein Abitur oder eine Fachhochschulreife zu erreichen? Warum wird statt dessen ein Weg gewählt, bei dem es gerade nicht darum geht, die Eigenständigkeit von Kindern aus “bildungsfernen Schichten”, deren Selbstbewusstsein dadurch zu stärken, dass man die offenkundigsten Formen von Benachteiligung z.B. bei der Grundschulempfehlung beseitigt. Z.B. hat die Antwort auf die Frage, ob ein Kind im Elternhaus Unterstützung findet, bei der Beantwortung der Frage, ob die schulischen Leistungen eine Empfehlung für ein Gymnasium rechtfertigen, nichts zu suchen: Entweder die Leistungen eines Kindes sind gut genug, um eine solche Empfehlung zu rechtfertigen oder sie sind es nicht. Wenn die Grundschulempfehlung dennoch auf Einschätzungen von Lehrkräften basiert, die nicht die schulische Leistung der Kinder zum Gegenstand hat, dann ist hier eine andere Agenda am Werk, deren Ziel nicht darin besteht, meritokratisch vorzugehen, sondern sozial zu selegieren, wie sich spätestens dann zeigt, wenn man sich ansieht, wer nach der Grundschule auf Haupt- und Realschulen landet und wer nicht. Doch derartige Zusammenhänge interessieren Ministerinnen offensichtlich nicht. Ihnen geht es ja auch – wie gesagt – nicht darum, Kindern aus “bildungsfernen Schichten” ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, sondern darum, ihnen einen Sonderstatus zu schaffen, der sie leicht als “Quereinsteiger” identifizierbar macht und zum leicht identifizierbaren Ziel von Hilfeleistung werden lässt.

Der entsprechende Ball ist bereits aufgefangen worden. So schreibt Prof. Günther Buchholz auf Cuncti:

“Die Lehre für und die Förderung von Studenten aus bildungsfernen Schichten (nicht zuletzt Migranten) ist für Fachhochschulen nichts Neues. Dieser Personenkreis hatte hier immer schon einen großen bis sehr großen Anteil. An den Universitäten dürfte sich das jedoch anders darstellen. Gesehen werden muss, dass die Hochschulen und die Hochschullehrer sich in besonderer Weise auf die Studenten einstellen müssen, weil die Studierfähigkeit nicht selten eben nicht einfach vorausgesetzt werden kann, sondern durch zusätzliche Lehrangebote und Trainings erst gezielt hergestellt werden muss. Denn Studenten aus bildungsfernen Schichten bringen kein familiengebundenes Wissen mit um das, was ein Studium eigentlich ist, nämlich ein prinzipiell selbstbestimmter, proaktiv zu gestaltender Bildungs- und nicht nur ein fremdbestimmter Ausbildungsprozess – und was es vom einzelnen fordert, aber in einer Lebensperspektive auch weit über das Ökonomische hinaus ermöglicht.”

Mit anderen Worten, Studenten aus “bildungsfernen Milieus” sind dümmer als der Rest, weniger versiert als der Rest und benötigen vom ersten bis zum letzten Tag Hilfe. Derat paternalisierende Ausbrüche treiben mir den Zorn ins Gesicht, u.a. deshalb weil wie Dr. habil. Heike Diefenbach sagt,  die Kinder aus der Arbeiterschicht, die es trotz widriger Verhältnisse an die Universität geschafft haben, keine besondere Aufmerksamkeit benötigen. Sie benötigen gute Lehre und gute Lernbedingungen an Universitäten und Fachhochschulen. Das setzt z.B. voraus, dass die entsprechenden Hochschulen sich in einem ordentlichen Bauzustand befinden und nicht wie die Elite-Universität München langsam vor sich hinverfallen. Es setzt voraus, dass die Mittel, die zur Bestückung der Bibliotheken in Universitäten zur Verfügung stehen, nicht so knapp bemessen sind, dass bereits im März das komplette Deputat für ein Jahr aufgebraucht ist. Es setzt voraus, dass die technische Ausstattung von Universitäten nicht zum Lachen, sondern zum Arbeiten auffordert, und es setzt voraus, dass Universitäten nicht in Kindertagesstätten umfunktioniert werden, wie dies der Wissenschaftsrat plant.

Aber von derartigen Maßnahmen profitieren die, die studieren wollen, nicht die vielen Helfer der Hilfeindustrie, die bereits in den Startlöchern sitzen, um die Kinder aus den “bildungsfernen Schichten” in Empfang zu nehmen und zu “behelfen”. Reicht es nicht langsam mit dem Missbrauch der “bildungsfernen Schicht”, als diejenigen, die in der gesellschaftlichen Hackordnung unten angesiedelt sind, so dass man daraus, dass man ihnen hilft, sozialen Status gewinnen kann? Reicht es nicht, auf die herunter zu schauen, die die gesellschaftliche Drecksarbeit leisten, die Horden von Sozialarbeitern in Lohn und Brot verhelfen, Gefängnisse zu rentablen Einrichtungen machen, als Gegenstand von Soap-Opern, Hausfrauenfernsehen und Schnulzenfilmen zur Erheiterung der Mittelschicht beitragen, deren Musik seit Jahrhunderten die Langeweile in der Mittelschicht vertreibt und – last but not least – ohne die es nicht möglich wäre, seine Gutheit durch vermeintliche Wohltätigkeit zu zelebrieren. Was mich angeht, ich habe davon wirklich die Nase voll.

Bildnachweis:
Stunted Reality

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