Ignoranz in Deutschland 2012: Der neue Bildungsbericht

“Mit dem Bildungsbericht 2012 legt eine unabhängige Gruppe von … Wissenschaftlern zum vierten Mal eine umfassende und fundierte Bestandsaufnahme des deutschen Bildungswesens vor. Zu der Autorengruppe gehören neben dem federführenden Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) das Deutsche Jugendinstitut (DJI), die Hochschul-Informations-System GmBH (HIS), das Soziologische Forschungsinstitut an der Universität Göttingen (SOFI) sowie die statistischen Ämter des Bundes und der Länder (Destatis und StLÄ). Die Erarbeitung des Berichts, ‘Bildung in Deutschland 2012’ wurde von der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK) und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert”.

Die zitierte Passage stammt nicht aus Grimms Märchen. Die zitierte Passage steht am Anfang der Presse-Hintergrundinformationen zum Bildungsbericht 2012. Die Autoren dieser Presse-Hintergrundinformationen wollen ihren Lesern tatsächlich weismachen, dass am Bildungsbericht 2012 eine “unabhängige Gruppe von … Wissenschaftlern” gearbeitet habe, unabhängig von jeglicher Einflussnahme von außen. Unabhängig, obwohl die Kosten des Bildungsberichts von der Kultusministerkonferenz und dem BMBF und somit von zwei Institutionen getragen wurden, von denen bekannt ist, wie wenig sie auf Transparenz halten, oder sind die PISA-E-Daten, denen man die Unterschiede im Bildungsniveau und somit das Versagen bzw. den Erfolg der jeweiligen Landeskultusministerien entnehmen kann, zwischenzeitlich veröffentlicht worden? Nein, was für ein Gedanke. Selbstverständlich ist es der entsprechende PISA-E-Datensatz nicht öffentlich zugänglich. Und das DJI, ein Institut, dessen Grundfinanzierung vom BMFSFJ gesichert wird, als unabhängig zu bezeichnen, nun ja, in gewisser Weise führt auch eine Marionette ein unabhängiges Leben, man muss die Definition von unabhängig nur weit genug fassen, dann werden auch Wissenschaftler an staatlichen Universitäten, deren Gehalt von eben den Kultusministerien angewiesen wird, die auch die Finanzierung des Bildungsberichts gesichert haben, zu unabhängigen Geistern.

Diese Ansammlung von unabhängigen Wissenschaftlern hat also die unabhängigen Mittel von KMK und BMBF in unabhängiger Weise und unter unabhängiger Breitsstellung von Daten durch die unabhängigen Statistischen Landesämter und das besonders unabhängige Statistische Bundesamt dazu genutzt, um ein Dokument der Unabhängigkeit zu schaffen, das deutlich zeigt, wo es im deutschen Bildungssystem im Argen liegt. Es ist dies ein schockierendes Dokument des Scheiterns öffentlicher Institutionen, in dem die Bildungsinstitutionen in die Pflicht genommen werden und das Versagen einer Bildungspolitik angeprangert wird, die nun schon im siebzigsten Jahrzehnt seit Schaffung des verheerenden Bildungsföderalismus und im zweiten Jahrzehnt seit der Dokumentation der erheblichen Nachteile von Jungen im Bildungssystem es nicht geschafft hat, ihre Selektionskriterien in einer Weise anzupassen, die gewährleistet, dass die Leistung von Schülern der Gegenstand der Beurteilung ist, nicht die sozialen Attribute, die ihnen z.B. von Lehrern angeheftet werden.

Der eingerückte Absatz ist natürlich eine Phantasie meinerseits, die schon deshalb nicht zutreffen kann, weil man Mut braucht, um die Hand zu beißen, die einem füttert und mit dem Füttern den Zweck verbindet, einem den Mund zu stopfen. Und so unabhängig sind “unabhängige Wissenschaftler” dann doch nicht. Entsprechend ist der neue Bildungsbericht 2012 nichts anderes als das periodisch wiederkehrende Manifest der Ignoranz, das er die drei Male zuvor auch gewesen ist. Dass dem so ist, ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass den “unabhängigen Wissenschaftlern” durch ihre Geldgeber ganz klar gemacht wurde, was in dem Bericht zu stehen hat und was nicht. Derartige Anweisungen zum richtigen Unabhängigsein, gehen mittlerweile so weit, dass den “unabhängigen Wissenschaftlern” klare Vorgaben zum Inhalt ihrer “unabhängigen” Berichte gemacht werden. Eine entsprechende Erfahrung hat Dr. habil. Heike Diefenbach, die von der Antidiskriminierungsstelle gebeten wurde, sich an einer Ausschreibung zur Erstellung eines Berichts zur Situation von Migranten zu beteiligen, gemacht, denn mit der Bitte um Beteiligung kam auch gleich die Gliederung und damit der festgelegte Inhalt, der dann im Bericht zu stehen hat und viel wichtiger noch: was nicht im Bericht zu stehen hat. Dass sich Dr. habil. Heike Diefenbach nicht bereit gefunden hat, eine  derartige Ausschreibung durch ihre Teilnahme zu legitimieren ist ein Beleg für ihre Integrität, wobei Integrität scheinbar eine Qualität ist, die man im Wissenschaftsbetrieb nicht mehr so häufig findet.

Doch zurück zum Ignoranzbericht 2012 und dort zum Kapitel “Chancengleichheit”, in dem man einen Hinweis und vielleicht auch eine Erklärung dafür erwarten würde, warum Jungen im deutschen Bildungssystem so viel schlechter abschneiden als Mädchen. Doch was man hier erfährt, ist folgendes: “Die Entwicklung des Bildungssystems der letzten Jahrzehnte geht mit einer Erfolgsgeschichte für die Frauen einher … In der Altersgruppe der 30- bis unter 35jährigen besitzen mit 42% mehr als doppelt so viele Frauen einen Hochschulabschluss als in der Altersgruppe der 60- bis unter 65jährigen. … Im Verlauf der schulischen Entwicklung können Mädchen ihren Vorteil im Bereich der Lesekompetenz weiter ausbauen. … Mädchen bzw. junge Frauen verlassen seltener die Schule ohne Schulabschluss … oder mit einem Hauptschulabschluss …, auch erlangen sie etwas häufiger einen Mittleren Schulabschluss und erwerben vor allem zu größeren Anteilen das Abitur [wenn Sie das Wort “Jungen” vermissen, also die Vergleichsbasis, die Autoren können sich nur in Klammern, nicht im Satz durchringen, das Wort “Jungen” zu gebrauchen] … Allerdings entscheiden sich Frauen seltener als Männer für ein Studium … In der Weiterbildung sind Frauen aktiver als Männer. Im Vergleich zu den Männern weisen Frauen in allen Qualifikationsgruppen niedrigere Beschäftigungsquoten auf, und sie sind im Vergleich zu Männern deutlich seltener vollzeitbeschäftigt” (210-211).

Ein bemerkenswertes Dokument psychologischer Störung. Männer oder Jungen werden nur dann im Satz aufgeführt, wenn es darum geht, einen vermeintlichen Nachteil von Frauen oder Mädchen in Relation zu setzen. Müsste man einen Nachteil von Jungen oder Männern den Jungen oder den Männern zuschreiben, wird dagegen auf deren Nennung verzichtet. Bestand eine der Vorgaben der Geldgeber des Bildungsberichts (des Ignoranzberichts) darin, dass die Begriffe Männer und Jungen nur dann gebraucht werden dürfen, wenn es darum geht, vermeintliche Nachteile von Mädchen oder Frauen zu beschreiben? Oder sind die Autoren eigenständig zu dieser Vermeidungs-Pschose fähig? Wie dem auch sei, “die Erfolgsgeschichte” macht es den Autoren sehr schwer, überhaupt noch einen Nachteil für Mädchen und Frauen aus den Daten quetschen zu können. Da aber kein politisch korrekter Bericht ohne die Beschreibung von Nachteilen auskommt, die Mädchen und Frauen angeblich – trotz der Erfolgsgeschichte – haben, muss ein Nachteil her. Und siehe da: Frauen entscheiden sich seltener als Männer für ein Studium. Und sie weisen niedrigere Beschäftigungsquoten auf, sind seltener vollzeitbeschäftigt.

Zum ersten Nachteil: Frauen entscheiden sich seltener für ein Studium; hier reicht ein Blick auf die Belegtabelle F1, um den Aberwitz dieser Behauptung zu sehen. Das “seltener” bezieht sich auf Prozentwerte. Maximal 84% der männlichen und 75% der weiblichen Abiturienten nehmen ein Studium auf (Daten aus dem Anhang des Bildungsberichts). Ich habe das schon einmal erklärt, aber ich erkläre es gerne noch einmal, insbesondere “unabhängigen” Wissenschaftlern erkläre ich es gerne noch einmal. Zunächst, wenn man eine solche Aussage tätigt, dann sollte man zumindest etwas überrascht darüber sein, dass an Universitäten mehr weibliche als männliche Studenten eingeschrieben sind. Wenn man diese Überraschung zu erklären versuchen sollte, dann könnte es passieren, dass man bei den Prozentwerten, die man gerade als Beleg für die Nachteile von weiblichen Abiturienten angeführt hat, ankommt. Sollte diese dramatische Erkenntnisfähigkeit gegeben sein, dann könnte der Schluss, dass Prozentwerte von der Basis, auf der sie gebildet werden, abhängig sind, die nächste Ebene der Erleuchtung einläuten, die Ebene auf der man dann folgende Verbindung zwischen dem im Vergleich zu männlichen Studenten “Mehr” weiblicher Studenten und dem im Vergleich zu männlichen Abiturienten “prozentualen Weniger” weiblicher Abiturienten herstellen kann. Nehmen wir doch einfach die Zahlen aus dem Bildungsbericht 2012, die sich auf der selben Seite wie der angebliche Nachteil zu finden sind. 29,4% der Jungen eines Schuljahrgangs machen ein Abitur, 37,8% der Mädchen desselben Schuljahrgangs machen ein Abitur. Um die “unabhängigen” Wissenschaftler nicht zu überfordern, gehen wir davon aus, dass in einem Jahr 294 Jungen und 378 Mädchen ein Abitur gemacht haben. Von den 294 Jungen nehmen 84% ein Studium auf, also 247 Jungen. Von den 378 Mädchen nehmen 75% ein Studium auf, also 284 Mädchen. Und schon ist der angeblich Nachteil verschwunden. Wäre ich einer dieser “unabhängigen” Wissenschaftler und für diesen Unsinn verantwortlich, ich würde einen Kurs in Prozentrechnen an der VHS besuchen.

Die beiden anderen Nachteile, niedrigere Beschäftigungsquoten und seltener vollzeitbeschäftigt, sind Ergebnis staatlicher Alimentierung durch Kindergeld, Elterngeld und alle sonstigen Finanzierungen zur Freistellung von Arbeit und entsprechender persönlicher Präferenzen, denn wer vollzeitbeschäftigt sein will, nachdem er z.B. ein Studium absolviert hat, der kann vollzeitbeschäftigt sein, und wenn er sich dafür selbständig machen muss.

Dies mag genügen, um die Qualität des “unabhängigen” vom BMBF und der KMK finanzierten Ignoranzberichts zu bewerten. Aber, damit bin ich noch nicht am Ende, denn der eklatanteste Beleg dafür, dass der Bericht weder unabhängig ist noch ohne Vorgaben erstellt wurde, findet sich im vollständigen Fehlen jeglicher Kritik an staatlichen Institutionen. Hätten Wissenschaftler an diesem Bericht gearbeitet, irgend wann wären ihnen die folgenden Fragen eingefallen: Welchen Beitrag leisten eigentlich Schulen und sonstige Bildungseinrichtungen dazu, dass die “Entwicklung des Bildungssystems der letzten Jahrzehnte  … eine Erfolgsgeschichte für die Frauen” ist? Welchen Beitrag leisten die Schulen und die anderen staatlichen Bildungsinstitutionen dazu, dass die Entwicklung des Bildungssystems der letzten Jahrzehnte eine Geschichte des Misserfolgs für Männer ist? Das sind Fragen, die man von unabhängigen Wissenschaftlern erwartet. Aber es sind natürlich auch Fragen, die weder KMK noch BMBF in von ihnen finanzierten Berichten aufgeworfen und noch viel weniger beantwortet sehen wollen. Entsprechend gab es vermutlich die Vorgabe, nicht nur die Nachteile von Jungen im Bildungssystem zu unterschlagen bzw. zu verschweigen, sondern auch die Vorgabe, staatliche Institutionen und ihre Rolle bei der Schaffung von Bildungsungleichheit  nicht zu berücksichtigen. Unsere unabhängigen Wissenschaftler haben sich an die Weisung gehalten, und so harrt die Korrelation zwischen dem schlechten Abschneiden von Jungen in der Schule und dem Anteil weiblicher Grundschullehrer (je mehr weibliche Grundschullehrer, desto schlechter schneiden Jungen ab), die Dr. habil. Heike Diefenbach und ich vor mehr als 10 Jahren gezeigt haben, immer noch einer Erklärung, ebenso wie die vielfältigen Belege institutioneller Diskriminierung, also der Schaffung von Bildungsungleichheit durch staatliche Institutionen immer noch der Verarbeitung harren.

Statt dessen wird die Schuldfrage im Bildungsbericht wie dies für staatliche Opportunisten am genehmsten ist, auf die von der Benachteiligung Betroffenen verlagert. Blaming the victim war noch immer erfolgreich, und auch im “Bildungsbericht” scheint diese Strategie erfolgreich angewendet zu werden. Und so lernen wir, dass Bildunsgaktivitäten in der Familie dazu führen, dass Kinder in der Schule besser sind, und weil Mädchen mehr vorgelesen bekommen und mehr musizieren, sind sie in der Schule besser als Jungen. Dieses dahingeworfene, willkürliche Ergebnis ist offensichtlich so überzeugend, dass es selbst von Manndat in der Stellungnahme des Vereins zum Bildungsbericht aufgenommen und als Bestätigung der eigenen Bemühungen, die Leseleistung von Jungen durch eine Leseliste zu verbessern, genommen wird. Niemand kommt auf die folgenden Fragen: Wenn Lesen, Schreiben und Rechnen in Eigenleistung zuhause erlernt werden soll, warum brauchen wir dann noch Schulen bzw. wozu brauchen wir dann Schulen? Ist es nicht die Aufgabe von Schulen, Leselust oder auch Spass an Mathematik zu wecken, auch bei Kindern aus “bildungsfernen Schichten” und bei Jungen? Und sicher wirken sich Unterstützungsleistungen in der Familie auf die schulische Leistung aus, aber ist es nicht die Aufgabe von Schulen gerade bei Kindern, die nicht auf die Unterstützungsleistungen ihrer Familie zählen können, kompensierend zu wirken? Sollte nicht Schule die Unterschiede wie sie zwischen den so gerne bemühten “bildungsfernen” und “bildungsnahen” Schichten bestehen, einebnen? Statt dessen wird Schule zum Verstärker des Lebensstils der Mittelschicht, zur Institution der Mittelschicht, in der der Lebensentwurf prämiert wird, den die Mittelschicht lebt. Und Manndat findet es opportun, sich in die Reihe derer einzureihen, die die Schuld für den Bildungsmisserfolg von z.B. Jungen, aber auch von Migranten in deren Familien suchen. Und wieder einmal ist es staatlichen Institutionen gelungen, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Wieder einmal wird am Ende auf die bildungsfernen Schichten und die familiären Defizite gezeigt, und wieder einmal hat die Ignoranz scheinbar gesiegt. Und wieder einmal hat sich gezeigt, dass Berichte, die von “unabhängigen” Wissenschaftlern erstellt worden sein sollen, deshalb nicht für sich in Anspruch nehmen können, wissenschaftlich zu sein.

Bildnachweis:
Marionette

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