Sind Menschen soziale Wesen?

Sklaven in Athen – zoon politikon?

Schon eine solche Frage zu stellen, ist für manche eine Provokation. Natürlich ist der Mensch ein soziales Wesen, sagen sie, Menschen können gar nicht ohne andere Menschen leben und überleben, gar nicht “Mensch” werden, wie das Fichte ausgedrückt hat. Das “Soziale” ist daher die höhere Weihe, das, was “den” Mensch zum Menschen macht, das, was ihm seine Bestimmung gibt. Die Überzeugung, dass Menschen soziale Wesen sind, ist entsprechend weit verbreitet:

“Der Mensch als soziales Wesen definiert sich im Rahmen sozialer Beziehungen und gesellschaftlicher Werte. Er kann seine Individualität nur in einem sozialen Kontext verwirklichen”, so schreibt Ansgar Stracke-Mertes auf Seite 164 seiner “Soziologie” und “Der Mensch ist ein soziales Wesen und auf Beziehungen zu anderen Menschen angewiesen”, so weiß er auf Seite 252.

Wolf Ritscher lässt in seiner systemischen Bearbeitung sozialer Arbeit keinen Zweifel aufkommen: “Der Mensch als soziales Wesen: Er ist im Sinne von Aristoteles ein zoon politikon jemand, der sich um die Belange seiner Gemeinschaft kümmert, weil er von ihr abhängig ist” (Ritscher, 2007, S.55). Ritscher transportiert hier, bewusst oder unbewusst, eine Konnotation, die die Beschreibung von Stracke-Mertes um die Dimension des sich-um-andere-Kümmerns erweitert. Sozial wird unmerklich vom Bezug auf andere Menschen, zum Kümmern um andere Menschen.

Braun beschreibt in seiner Einführung in die Rechtsphilosophie eine deutsche Tradition, die sich z.B. bei Fichte oder bei Hegel findet. Braun hat für seine Darstellung Puffendorf gewählt: “Puffendorfs Rechtsdenken nimmt seinen Anfang von einem Menschenbild, das sich von dem des abstrakten Rationalismus signifikant unterscheidet. Der Mensch erscheint bei Puffendorf nicht als eine Monade, die sich erst aufgrund eines willkürlichen Beschlusses mit anderen Monaden vereinigt, sondern als ein soziales Wesen, das sich von Anbeginn an in Gemeinschaft mit anderen befindet. Die menschliche Gemeinschaft ist daher keineswegs zur Gänze ein willkürliches Konstrukt; zu einem Gutteil ist sie vielmehr der natürliche Boden, aus dem der Mensch erst erwächst” (Braun, 2006, S.279).

Dreimal wird ein Mensch als soziales Wesen beschrieben. Dreimal in pointiert unterschiedlicher Weise, und die Mischung, die sich aus den drei Beschreibungen ergibt, ist es, die das “Soziale” in Deutschland zu einer mythischen Entität werden lässt, die denjenigen mit dem Mantel der Göttlichkeit umhüllt, der dem göttlichen Bild vom Menschen entspricht und

  • die Gesellschaft anderer sucht,
  • mit diesen anderen eine Gemeinschaft des gegenseitigen sich Kümmerns bildet und
  • erst durch sein sich Kümmern und sich mit anderen in Gemeinschaft befinden, überhaupt seine Menschlichkeit erfährt.

Erst durch den sozialen Ritterschlag wird der Mensch also nach dieser Ansicht zum Menschen. Ohne den sozialen Ritterschlag bleibt er “Monade”, ohne die gesellschaftliche Salbung ist er nicht vollständig. Diese verklärte Sicht des Menschen, die ihn nur als Teil einer Gemeinschaft und nicht als eigenständigen Akteur zulässt, die das Soziale per se als “gut” deklariert und “sozial” als funktionales Adjektiv zur Beförderung (oder Erhöhung, oder Verklärung) ganzer Herrscharen von Nomen nutzt, hat nicht erst in jüngster Zeit Sprünge erlitten, was angesichts zweier Weltkriege und unzähliger militärischer Auseinandersetzungen auch verwunderlich wäre. Aber man kann sich ja nie genug wundern, und deshalb habe ich mich gewundert, als ich zwei sozialpsychologische Studien aus einer Myriade vergleichbarer Studien in die Hände bekam, die das für die Autoren doch erstaunliche Ergebnis produziert haben, dass das Zusammensein mit anderen Menschen, der Gipfel des Sozialen nicht von allen Menschen als “positiv”, “konstruktiv”, “gut”, gar “förderlich” empfunden wird, sondern sich zuweilen sogar (man höre und staune) negativ auswirken kann.

  • So hat Shelley E. Taylor (2010) und eine ganze Horde Ko-Autoren in einem Beitrag, den man nur als soziales Happening bezeichnen kann, herausgefunden, dass soziale Unterstützung von anderen, selbst wenn sie noch so gut gemeint ist, sich negativ auf den, dem die Unterstützung widerfahren soll, auswirken kann. Soziales muss nicht immer gut sein!
  • Dieses Ergebnis hat Häusser et al. (2012) nicht ruhen lassen, und entsprechend haben sie den unbefleckten Zustand des “Sozialen” insoweit wieder hergestellt, als die negative Wirkung anderer nur dann eintritt, wenn sie mit dem, dem sie ihre Anwesenheit zumuten, nicht bereits eine gemeinsame Gruppenidentität teilen.

Soziales ist also immer dann gut, wenn die Sozialen miteinander übereinstimmen. Derartige Erkenntnisse machen jemanden, der einem ökonomischen Menschenbild anhängt, sprachlos, und wäre Thomas Hobbes nicht längst tot, er würde vermutlich auch verstummen und sich noch einmal überlegen, ob er das mit der menschlichen Vernunft, als der Kraft, die das menschliche Dasein bestimmt, strukturiert und anleitet, nicht vielleicht noch einmal überdenken sollte.

Ein vernünftiger Mensch ist ein Mensch, der Handlungsentscheidungen trifft, deren Ergebnis für ihn einen Nutzen bereit stellt. Je nach den Präferenzen unseres vernünftigen Menschen kann die eine oder anderen Handlung als nützlich erscheinen. Herr Maus mag seinen Nutzen daraus ziehen, dass er seiner alten Nachbarin über die Straße hilft (was allerdings dann egoistisch ist, wenn die alte Dame nicht über die Straße wollte). Frau Hund mag ihren Nutzen daraus ziehen, dass sie Herrn Maus in eine gemeinsame Ehe lullt, deren Ziel für sie darin besteht, ein einigermaßen gesichertes Auskommen zu erheischen. Schließlich mag Herr Vereinsmeier seinen Nutzen daraus ziehen, dass er immer der erste ist, wenn es darum geht, die Feuerwehrübung zu beginnen und immer der erste, wenn es darum geht, mit Bier in froher Runde zu löschen. Alle drei, Herr Maus, Frau Hund und Herr Vereinsmeier haben eine soziale Handlung ausgeführt. Alle drei haben eine Entscheidung zum sozialen Handeln auf Grundlage ihrer jeweiligen Interessen/Präferenzen getroffen und damit keinen weiteren sozialen Zweck verbunden. Mit anderen Worten, für keinen der drei stand das Finden der Erfüllung in sozialer Gemeinschaft im Vordergrund, wie dies die reine Lehre des Sozialen vorausgesagt hätte, sondern die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse.

Die soziale Gemeinschaft des Ku-Kux-Klan

Wie könnte es auch anders sein. Menschen werden durch ihre Vernunft (naja, durch mehr oder weniger Vernunft) angetrieben. Die soziale Sogwirkung, die sie unwiderstehlich in die Gemeinschaft zieht, um dort “Soziales” zu leisten, gibt es nicht. Soziales ist das Ergebnis rationaler Erwägungen. Wenn sich das Soziale lohnt, dann gibt es das Soziale, lohnt sich das Soziale nicht, dann ist es nicht vorhanden. Die Legionen von Bänden, die über Kooperation und vor allem über die Probleme, zu einer Kooperation zu gelangen, geschrieben wurden, sprechen in dieser Hinsicht eine eindeutige Sprache. Träfe die Sozial-Phantasie, wie sie in der Mähr vom Menschen als sozialem Wesen zum Ausdruck kommt, zu, es gäbe kein Kooperationsproblem, die Welt wäre voller Kooperationswütiger, die nur darauf warten, mit anderen zu kooperieren. Dies ist, wie jeder weiss, der sich schon einmal an der samstäglichen Schlacht mit dem Einkaufswagen beteiligt hat, nicht der Fall. Und deshalb sind Menschen auch keine sozialen Wesen. Menschen sind rationale Wesen, die sich für Handlungen entscheiden, von denen sie sich einen Nutzen versprechen. Sie sind keine Wesen, denen die Muse des Sozialen einredet, was genau sie zu tun haben, um sich im sozialen Tun zu veredeln und Aufnahme in die Gemeinschaft der Heiligen zu finden.

Das mag eine schlechte Nachricht für die Wertekommission der CDU sein, die der Ansicht ist, dass “der Mensch” ein soziales Wesen ist, “das ohne Gemeinschaft nicht leben kann” (Würde eigentlich jemand allen Ernstes behaupten Robinson Crusoe sei kein Mensch?), aber daran ist leider nichts zu ändern.

Literatur

Braun, Johann (2006). Einführung in die Rechtsphilosophie. Tübingen: J.C.B. Mohr.

Häusser, Jan Alexander, Kattenstroth, Maren, van Dick, Rolf & Mojzisch, Andreas (2012). ‚We‘ are not Stressed: Social Identity in Groups Buffers Neuroendocrine Stress Reactions. Journal of Experimental Social Psychology (in press). Doi:10.1016/j.jesp.2012.02.020

Ritscher, Rolf (2007). Soziale Arbeit: systemisch. Ein Konzept und seine Anwendung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Stracke-Mertes, Ansgar (2003). Soziologie. Der Blick auf soziale Beziehungen. Hannover: Vincentz.

Taylor, Shelley E., Seeman, Teresa E., Eisenberger, Naomi, I., Kozanian, Tamar A., Moore, Amy N. & Moons, Wesley G. (2010). Effects of a Supportive or an Unsupportive Audience on Biological and Psychological Responses to Stress. Journal of Personality and Social Psychology 98(1): 47-56.

Bildnachweis:
Datamation

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