Wann ist eine Körperverletzung eine Körperverletzung?

Die Bewertung der Beschneidung von Jungen als “Körperverletzung”  in einem Urteil des Landgerichts Köln hat eine Diskussion ausgelöst, die kaum mehr als rational zu bezeichnen ist, die hitzig geführt wird und zudem weitgehend am eigentlich interessanten Punkt vorbeigeht: der Kriminalisierung von Handlungen, die in bestimmten sozialen Gruppen ausgeführt werden, eine Kriminalisierung, die vor dem Hintergrund der eigenen Überzeugung erfolgt, dass genau zu bestimmen sei, was Kriminalität, was kriminelles Verhalten ist. Aber ist dem wirklich so?

Kriminalität ist normal, so hat Hans Haferkamp Anfang der 1970er Jahre eine Monographie zum Thema Kriminalität betitelt. Kriminalität, so Haferkamp, sei kein gesellschaftliches Geschwür, keine biologische Disposition und keine angeborene Krankheit, die wahlweise den einen oder anderen befällt:

“Man sagt heute, die Gesellschaft muss vor Kriminalität geschützt werden. Man unterstellt, Kriminalität sei etwas wie eine Aggression getragen von Wesen, die, außerhalb der Gesellschaft stehend, persönlichen, ungezügelten Leidenschaften nachgehen, und denen das Gesellschaftsleben mit seiner Ruhe, Ordnung uns Ausgeglichenheit fremd ist” (Haferkamp, 1972, S.v).

Die Vorstellung, gegen die sich Haferkamp explizit gewandt hat, ist die Vorstellung eines essentiell “Kriminellen”, die Vorstellung, dass es die kriminelle Handlung in der Weise gebe wie es die Sonne am Himmel gebe: ohne das Zutun von Menschen, die Vorstellung, dass objektiv bestimmbar sei, was Kriminalität ist. Kriminalität so Haferkamp und in seiner Nachfolge die meisten deutschen Kriminologen (die entsprechende Entwicklung ist im angelsächsischen Ausland schon lange vor den 1970er Jahren zu beobachten gewesen) ist das Ergebnis individueller Entscheidungen, die sich aus den Umständen der Entscheidung erklären lassen. Kriminalität beschreibt daher den bewussten Verstoß gegen gesellschaftliche Normen, gegen Normen, die von der/den herrschenden gesellschaftlichen Gruppen gesetzt werden. In diesem Sinne hat Robert K. Merton bereits in den 1930er Jahren kriminelles (oder delinquentes) Verhalten als Verhalten beschrieben, das Mitglieder gesellschaftlicher Gruppen zeigen, die zwar die gesellschaftlichen Ziele von z.B. Status und Besitz teilen, denen aber die Mittel fehlen, um die entsprechenden Ziele auf legalem Weg zu erreichen.

Was kriminelles Verhalten darstellt, ist somit eine Frage gesellschaftlicher Konvention. Die entsprechende Konvention findet sich in Deutschland im Strafgesetzbuch wieder, woraus man den Schluss ziehen kann, dass es ohne gesetzliche Kodifizierung keine Kriminalität gibt, anders formuliert: “criminal law gives behaviour its quality of ciminality” (Adler, 1931, S.5). Oder, wie Tappan im Jahre 1947 geschrieben hat: Kriminalität ist “an intentional act or omission in violation of criminal law” (Tappan, 1947, S.100). Derartige legalistische Definitionen haben Probleme: Das, was z.B. im Strafgesetzbuch als Kriminalität erfasst ist, hat sich im Verlauf der letzten Jahrzehnte verändert. Betrachtet man Jahrhunderte, dann sind die Veränderungen dessen, was als Kriminalität angesehen wird/wurde noch dramatischer (z.B. kennt man erst seit kurzem Drogendelikte, Homosexualität ist erst seit kurzem straffrei und cyber-Criminality eine ganz neue Entwicklung). Zudem sind Verhaltensweisen, die als Kriminalität angesehen werden, kontextabhängig, da z.B. ein Arzt, der ein Bein bricht, um einen Knochen zu richten, zwar eine Körperverletzung begeht, dafür aber nicht belangt wird, während ein Beinbruch als Ergebnis einer Schlägerei mit hoher Wahrscheinlichkeit strafrechtlich verfolgt wird. Gleiches gilt für den Mord, der dann, wenn er im Krieg begangen wird, zumeist ungeahndet bleibt.

Gesellschaftlicher Konsens?

Diese Probleme einer legalistischen Bestimmung von Kriminalität haben ihren Niederschlag in der Entstehung zweier kriminologischer Schulen gefunden, nämlich einer Schule, die man als Konsensschule bezeichnen kann und einer Schule, die man als Konfliktschule bezeichnen kann. Die Konsensschule geht davon aus, dass in Gesellschaften ein Konsens über grundlegende Normen und Werte herrscht und dass Verstöße gegen diesen Konsens als Kriminalität angesehen werden. Diese Schule ist mit Emile Durkheim und seiner Ansicht von der Existenz eines kollektiven Bewusstseins verbunden. Kriminalität sind demnach alle Handlungen, die das kollektive Bewusstsein erschüttern. Die Probleme, die mit dieser Auffassung verbunden sind, sind offenkundig, denn die Frage, wer den Inhalt des kollektiven Bewusstseins entdeckt bzw. bestimmt, ist ungelöst und mit ihr die oben angesprochene Problematik der Kontextabhängigkeit dessen, was als kriminelles Verhalten, was als Kriminalität angesehen wird. Zivilisten, die im Rahmen einer kriegerischen Auseinandersetzung sterben, werden z.B. zum Kollateralschaden und das “kollektive Bewusstsein” der Gesellschaft, der die Kollateralschäden entstammen, wird deren Tod anders bewerten als das “kollektive Bewusstsein”  – oder besser: die berobten Hüter des kollektiven Bewusstseins der Gesellschaft, aus der diejenigen stammen, die die Kollateralschäden verursacht haben. Kurz: Die Idee eines kollektiven Bewusstseins, in dem sich höhere und geteilte Werte und Normen niederschlagen, führt nirgendwo hin.

Entsprechend teilen die meisten Kriminologen heute die Ansicht der Konfliktschule, nach der Kriminalität ein Verstoß gegen gesellschaftlich ausgehandelte Normen darstellt bzw. gegen Normen, die von der herrschenden Gruppe durchgesetzt wurden: “society is made up of groups that compete with one another over scarce resources. The conflict over different interests produces differing definitions of crime. These definitions are determined by the group in power and are used to further its needs and consolidate its power. Powerless groups are generally the victims of oppressive laws … As well as being based on wealth and power, groups in society form around culture, prestige, status, morality, ethics, religion, ethnicity, gender, race, ideology, human rights … and so on” (Lanier & Henry, 1998, S.17). So besehen sind Strafgesetze das Ergebnis von Aushandlungsprozessen zwischen gesellschaftlichen Gruppen, die mit dem Ziel geführt werden, die eigenen Interessen zu befördern und bei denen sich Gruppen mit entsprechenden Machtpositionen durchsetzen. Strafgesetze, die ein bestimmtes Verhalten verbieten, sind somit immer der Ausdruck der Interessen von und Machtverteilung zwischen gesellschaftlichen Gruppen, zuweilen sind sie das Ergebnis eines ausgehandelten Konsens, der über mehrere gesellschaftliche Gruppen reicht, immer sind sie Verhaltensregeln, die von Herrschaftsgruppen Gruppen, die nicht an der gesellschaftlichen Macht beteiligt sind (z.B. die Unterschicht oder ethnischen Minderheiten), aufgezwungen werden.

Was es bedeutet, dass gesellschaftliche Normen von Kriminalität von herrschenden Gruppen (durch-)gesetzt sind, kann man sich am Beispiel des § 223 StGB “Körperverletzung” vergegenwärtigen. Die “einfache” Körperverletzung wird im § 223 des Strafegestzbuch kurz und bündig wie folgt beschrieben:

“Wer eine andere Person körperlich mißhandelt oder an der Gesundheit schädigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.”

Die einfach Formulierung lässt bei näherem Hinsehen eine weite Bandbreite der Interpretation offen. Wann wird eine Person körperlich misshandelt? Ist eine Ohrfeige eine körperliche Misshandlung? Wann wird die Gesundheit strafrechtlich relevant geschädigt? Wenn zwei Jungen raufen und ein Milchzahn auf der Strecke bleibt, ist dann der Tatbestand des § 223 erfüllt? Wenn ein Arzt eine Beschneidung durchführt, stellt dies eine gesundheitliche Schädigung dar? Ist es als körperliche Misshandlung zu ahnden? Wie ist es mit dem Zahnarzt, der Zähne zieht? Wer entscheidet, wann ein körperlicher Eingriff eine Körperverletzung darstellt, wann nicht? Die Antworten auf diese Fragen sind offensichtlich, wenn man z.B. überlegt, wie viele Tote durch Alkohol und alkoholbedingte Unfälle jährlich zu verzeichnen sind, wie viele Tote durch den Genuss von Haschisch und eine anschließende Autofahrt und sich dann überlegt, wer von beiden, der Alkoholkonsument oder der Haschischgenießer, sich bereits durch die Einnahme der entsprechenden Droge strafbar macht. Offensichtlich sind die gesellschaftlichen Interessengruppen, die erfolgreich dafür eingetreten sind, bereits Haschischkonsum unter Strafe zu stellen, mächtiger als die entsprechenden Gruppen (so es sie gibt), die bereits den Konsum von Alkohol strafrechtlich verfolgen wollen oder, umgekehrt formuliert, offensichtlich sind die Gruppen, die für eine Selbstverantwortung und damit einhergehend den freien Zugang zu Alkohol und Haschisch eintreten, im Falle von Alkohol mächtiger bzw. im Falle von Haschisch ohnmächtiger. Die Setzung strafrechtlicher Normen zeigt sich einmal mehr als Ergebnis von Macht- und Interessekonstellationen.

Allgemeine Formulierungen wie die des § 223 StGB lassen sich vorzüglich zur sozialen Kontrolle einsetzen. Da bestimmte Formen körperlicher Auseinandersetzung in bestimmten sozialen Gruppen häufiger sind als in anderen, z.B. die Schlägerei in der Kneipe, auf dem Weg ins Fussballstadion oder die Beschneidung kleiner Jungen, lässt sich eine “Körperverletzung”, lassen sich Gesetze leicht nutzen, um bestimmte soziale Gruppen zu kontrollieren und zu kriminalisieren. Dies wiederum bedeutet, dass das Strafrecht ständig den Versuchen gesellschaftlicher Gruppen ausgesetzt ist, es zu ihrem Vorteil zu instrumentalisieren, und entsprechend ist es besonders wichtig, die strafrechtlichen Regelungen auf das Minimum der notwendigen Regelungen zu beschränken. Nur, wie identifiziert man die notwendigen Regelungen ohne wieder auf das kollektive Bewusstsein oder die göttliche Eingebung darüber, was Kriminalität ausmacht, ausweichen zu müssen?

Die Antwort auf diese Frage hat Thomas Hobbes bereits im 17. Jahrhundert in seiner Vorwegnahme des kategorischen Imperativs von Kant gegeben: Für Hobbes sind alle Menschen mit dem Recht auf alles geboren. Dies schließt z.B. das Recht, zu morden mit ein. Nur: Wer mordet läuft Gefahr, selbst ermordet zu werden, und die Situation, die sich im Hobbesschen Naturzustand ergibt, in dem jeder das Recht auf alles hat, ist jämmerlich: homo homini lupus, der Mensch ist des Menschen Wolf. Aus dieser Situation gibt es für Hobbes nur die Vernunft als Ausweg, die Einsicht, dass ein Verzicht auf bestimmte Rechte von Vorteil sein kann: Wenn alle Menschen in gleichberechtigter Verhandlung auf wenige ihrer Rechte verzichten und sich gemeinsame Spielregeln geben, die die Grundsicherheiten bereitstellen, die Einhaltung dieser Spielregeln durch einen Leviathan gewährleistet ist, dann, so Hobbes, sind die Menschen dem Elend des Naturzustands entkommen. Das Entscheidende an der Konzeption ist nun, das nur solche Regeln erlassen werden können, in denen sich die vernünftigen Interessen aller Menschen einer Gesellschaft niederschlagen, und nur Verhandlungen geführt werden können, an denen alle in gleicher Weise und mit gleichem Recht beteiligt sind. Es kann daher keine Rechtsetzung über die Köpfe und gegen die Interessen einer durch die Rechtsetzung betroffenen Gruppe hinweg erfolgen.

Rechtsetzung und damit die Einschränkung von Freiheit ist ein sparsam einzusetzendes Mittel, was für Hobbes im Wesentlichen auf die Sicherheit des Daseins, den Schutz davor, ermordet, ernsthaft verletzt oder dauerhaft beschädigt zu werden sowie den Schutz des Eigentums hinausläuft. Mehr, so Thomas Hobbes in seinem Leviathan, ist nicht vonnöten und mehr, so möchte man hinzufügen, führt nur dazu, dass ein Wettstreit um den Zugang zu Rechtssetzung stattfindet, denn wer Recht setzt, kann seine Interessen befördern, andere im Wettbewerb behindern und gesellschaftliche Macht und Prestige begründen, gut zu beobachten derzeit im Streit um das Beschneidungsverbot, den es nie gegeben hätte, wäre die Maxime des Minimalkonsenses wie sie Hobbes formuliert hat, ernst genommen worden, wären entsprechend alle, die von einem Verbot betroffen sind, an gleichberechtigten Verhandlungen beteiligt und wäre das Strafrecht nicht längst zum Mittel der Gängelung unliebsamer Lebensweisen und nicht-tolerierter Lebensstile geworden, zum Mittel, um bestimmte Verhaltensweisen für kriminell, für unnormal zu erklären.

Literatur:

Adler, Alfred (1931). What Life Should Mean to You. London: Allen & Unwin.

Haferkamp, Hans (1972). Kriminalität ist normal. Zur gesellschaftlichen Produktion abweichenden Verhaltens. Stuttgart: Enke.

Lanier, Mark M. & Henry, Stuart (1998). Essential Criminology. Boulder: Westview.

Merton, Robert K. (1938). Social Structure and Anomie. American Sociological Review 3(4): 672-682.

Tappan, Paul W. (1947): Who is the Criminal? American Sociological Review 12(1): 96-102.

Bildnachweis:
Word Day Funnies
Teach Net

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