Berauscht von Pressemeldungen: erbärmlich unkritischer Journalismus in Deutschland

“Journalismus hat … den … Auftrag eine Kritik- und Kontrollfunktion in der Gesellschaft wahrzunehmen: also Missstände aufdecken, Gegebenheiten hinterfragen und Kritik üben” (Burkhardt, 2009, S.77)

Gestern (18. September 2012) hat Tagesschau Online eine Erfolgsmeldung veröffentlicht, die man wie folgt zusammenfassen kann: Seit 2009 gibt es die Aktion “Alkohol? Kenn dein Limit”, die vom Verband der Privaten Krankenversicherung (PKV) und dem Bundesgesundheitsministerium finanziert wird. Das Geld ist gut angelegt, denn die Anzahl der “Zwölf bis 17-jährigen, die mindestens einmal im Monat volltrunken waren, sank laut einer Studie binnen vier Jahren von 20,4 auf 15,2 Prozent”. Heureka! Aber: Mehr öffentliche Finanzierung ist trotz des Erfolgs notwendig, denn: “Bei den 16- bis 17-jährigen männlichen Jugendlichen, die am meisten trinken, besserte sich hingegen wenig. 45 Prozent haben sich in den letzten 30 Tagen in einen Rausch getrunken”. Gutes gibt es auch zu vermelden, denn “[i]hr Verhalten verändert haben den Angaben zufolge jedoch hauptsächlich Mädchen und zwölf bis 15-jährige Jungen”. Die Pressmeldung stellt im Wesentlichen drei Behauptungen auf:

  • Eine “Studie” hat herausgefunden, dass eine Aktion gegen Alkohol eine Verhaltensänderung bei Jugendlichen erreicht hat, vor allem bei 12- bis 15jährigen Jungen und bei Mädchen.
  • Dieselbe Studie zeigt, dass der Anteil der Volltrunkenen unter 12- bis 17jährigen gesunken ist.
  • Schließlich zeigt die Studie, dass 16- bis 17jährige männliche Jugendliche weiterhin exzessiv trinken, weshalb weitere öffentliche Mittel zur Bekämpfung von übermäßigem Alkoholkonsum notwendig sind.

Wie ich nunmehr zeige werde, ist keine der Aussagen aus der Pressemitteilung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, auf die sich die Tagesschau-Redakteure ausschließlich und der Einfachheit halber verlassen haben, richtig.

Verhaltensänderungen bei Jugendlichen

Die “Studie”, auf die sich der Bericht auf Tagesschau-Online bezieht, ist keine Studie, die es möglich macht, Verhaltensänderungen zu identifizieren. Es handelt sich bei der “Studie”, um eine: “[w]iederholte Repräsentativbefragung der 12- bis 25jährigen Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland in mehrjährigen Abständen”. Die Befragten werden nahezu jährlich aufs Neue zufällig ausgewählt und telefonisch befragt. Im Jahr 2011 wurden 5001 Personen befragt und die Ausschöpfungsquote betrug 60,9%, d.h. es wurden 8212 Telefonnummern zufällig ausgewählt und angerufen, um die 5001 Befragten im Alter von 12 bis 25 Jahre zusammen zu bekommen. Die selbe Übung wird von forsa, dem Institut das sehr gut an der Befragung verdient, in unregelmäßigen Abständen durchgeführt. Die Zufälligkeit der Auswahl der Befragten, soll sichern, dass die Befragten repräsentativ für die 12- bis 25jährigen in Deutschland sind. Diese Form der Querschnittsbefragung führt aber dazu, dass mit jeder neuen Befragung andere12- bis 25jährige befragt werden. Entsprechend kann man keinerlei Aussagen über Verhaltensänderungen machen, denn dazu wäre es notwendig, die selben Befragten über einen bestimmten Zeitraum hinweg, mehrfach zu befragen.

Auf diese Weise wäre es z.B. möglich zu untersuchen, ob und ggf. wie Jugendliche, die im Alter von 12 Jahren schon Alkohol getrunken haben, ihr Trinkverhalten mit zunehmendem Alter verändern. Und es wäre mit dieser Art der Panel-Befraung möglich, eindeutig zu klären, ob die Aktion von Bundesministerium für Gesundheit und PKV irgend einen Effekt auf die Jugendlichen und ihr Trinkverhalten hat. Aber das genau, wollen die Verantwortlichen offensichtlich nicht. Ihnen reicht eine in die Öffentlichkeit geworfene falsche Behauptung, nach der es (a) eine Verhaltensänderung bei Jugenlichen gegeben habe und (b) diese Verhaltensänderung auf die Aktion von Ministerium und PKV zurückzuführen ist (denn sie können sich darauf verlassen, dass sie mit Sicherheit nicht auf einen kritischen Journalisten treffen, der ihre Behauptungen hinterfragt oder gar prüft). Anders formuliert: die Steuermittel von Ministerium und die Versichertenbeiträge der PKV sind sinnvoll eingesetzt. Und forsa, forsa hat natürlich wenig Interesse an einer Panelbefragung, denn damit lässt sich weniger leicht Geld verdienen als mit einer fast jährlich und mit hohem Aufwand durchgeführten Querschnittsbefragung.

Der gesunkenen Alkoholkonsum und das weiterhin exzessive Trinken

Da die “Studie” von forsa keine Panelstudie ist, kann also nichts über Verhaltensänderung ausgesagt werden. Aussagen können allenfalls dahingehend getroffen werden, wie sich Personen, die zum Befragungszeitpunkt 2011 12 Jahre alt waren, in ihrem Trinkverhalten von anderen Personen, die z.B. im Jahr 2009 12 Jahre alt waren, unterscheiden. Und weil forsa angeblich zu beiden Zeitpunkten eine repräsentative Befragung durchgeführt haben will, sollen die entsprechenden Aussagen repräsentativ für alle im Jahr 2011 und 2009 12jährigen sein. Ich habe in diesem blog schon öfter unsere, Dr. habil. Heike Diefenbachs und meine Vorbehalte gegen die vermeintliche Repräsentativität von Befragungen dargelegt und will es an dieser Stelle nur insoweit tun als wir anzweiflen, dass man mit telefonischer Befragung keine selektive Population erreicht, schon weil weder die Zeiten, zu denen man Jugendliche zu Hause antrifft, noch die Jugendlichen, die man zu Hause antrifft, Repräsentativitätskriterien gehorchen. Wir sind uns hier mit z.B. Andreas Diekmann einig, der schreibt: “Die Redeweise von der ‘repräsentativen Stichprobe’ ist nicht mehr als eine Metapher, eine bildhafte Vergleichung” (Diekmann, 2003, S.368). Überleitend zum nächsten Absatz noch ein Zitat von Schnell, Hill und Esser zur Repräsentativität: “Keinesfalls reicht bei sozialwissenschaftlichen Erhebungen der Nachweis, dass bestimmte Merkmale in der Grundgesamtheit mit der selben Häufigkeit vorkommen, wie in der Stichprobe aus, um zu beweisen, dass die Stichprobe alle interessierenden Merkmale in der korrekten Häufigkeit wiedergibt” (Schnell, Hill & Esser, 1992, S.316).

So war es notwendig, dass forsa die erhaltenen Daten nach Alter (!sic), Geschlecht und Region gewichtet, also z.B. 12jährige, weil sie in der Befragung im Vergleich zur Gesamtbevölkerung um den Faktor 1.5 seltener vorkommen, mit eben diesem Faktor multipliziert, so dass ihre Antworten 1.5fach zählen. Ein größeres Eingeständnis des Scheiterns als eine schiefe Verteilung im Hinblick auf Alter in einer Befragung die explizit 12- bis 25jährige addressiert, kann ich mir kaum vorstellen. Aber gut. Ich denke nicht, dass die Ergebnisse repräsentativ sind, forsa und seine Auftraggeber behaupten es (bislang ohne Beleg), aber das soll uns nicht weiter interessieren, denn die Behauptung, der exzessive Alkoholkonsum Jugendlicher sei im Verlauf der letzten vier Jahre, als von 2008 bis 2011 gesunken, ist schlicht falsch. Jeder Journalist, der sich die Mühe gemacht hätte, die Studie, die es auf den Seiten der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zum Download gibt, zu lesen, hätte dies sehr schnell bemerken können. Ein Blick auf den Teil der Studie, der sich mit Trends beschäftigt und auf die Daten für die Jahre 2008, 2010 und 2011, hätte genügt.

Hier eine Zusammenstellung der Ergebnisse für die Jahre 2008, 2010 und 2011.

Indikator 2008 2010 2011
Alkoholkonsum innerhalb der letzten 30 Tage: männliche Befragte 86,9% 82,8% 87,0%
Alkoholkonsum innerhalb der letzten 30 Tage: weibliche Befragte 70,6% 74,4 76,5%
regelmäßiger Alkoholkonsum 12-17jährige 17,4% 12,9% 14,2%
regelmäßiger Alkoholkonsum 18-25jährige 37,1% 34,5% 39,8%
Konsum für Erwachsene riskanter Mengen: 12-17jährige 8,6% 5,5% 5,9%
Konsum für Erwachsene riskanter Mengen: 18-25jährige 18,1% 15,6% 19,1%
6 und mehr Alkoholrauscherfahrungen im Leben: 12-17jährige 6,4% 4,7% 5,1%
6 und mehr Alkoholrauscherfahrungen im Leben: 18-25jährige 31,7% 27,9% 32,0%
Pro-Kopf-Verbrauch reiner Alkohol 12-17jährige 43,3gr 28,8gr 30,9gr
Pro-Kopf-Verbrauch reiner Alkohol 18-25jährige 82,3gr 75,2gr 84,1gr

Keiner, der in der Tabelle dargestellten Indikatoren zeigen für den Vergleich der Jahre 2010 und 2011 einen Rückgang. Alle zeigen einen Anstieg. Wollte man aus diesen Daten einen Rückschluss auf die Wirkung der im Jahre 2009 gestarteten Aktion von Techniker Krankenkasse und Bundesministerium ziehen, dann müsste man sagen: Die Aktion hat dazu geführt, dass Jugendliche wieder mehr trinken. Zum Glück für Ministerium und Krankenkasse ist die Frage, in welcher Weise sich die Aktion auf das Trinkverhalten von Jugendlichen ausgewirkt hat, mit den vorliegenden Daten aber nicht zu beantworten, weder im Positiven noch im Negativen, denn die Wahrscheinlichkeit, dass die Aktion das Trinkverhalten von Jugenlichen beeinflusst hat, entspricht der Wahrscheinlichkeit, dass die Sonnenfinsternis im Jahre 2010 sich auf das Trinkverhalten ausgewirkt hat. Wollte man wirklich einen Effekt messen, man müsste ein Studiendesign wählen, dass nicht die Einkünfte von forsa maximiert und das zudem die Gefahr mit sich bringt, dass sich zeigt, dass Jugendliche die Aktion von Ministerium und Krankenkasse schlicht nicht beachten.

Entsprechend stellt sich auch die Behauptung, es seien vor allem die 16- bis 17jährigen Jungen, die keinen Rückgang im exzessiven Trinken zeigen, weshalb die Aktion mit mehr finanziellen Mitteln der Geschlechtstypik entsprechend ausgeweitet werden müsse, als das dar, was sie eigentlich ist: Ein plumper Versuch den Einsatz von noch mehr Steuergeldern und Krankenkassenbeiträgen zur Finanzierung von Aktion (Mitarbeiter und Material) und forsa zu rechtfertigen.

Zum Abschluss will ich den Lesern ein Bonmot, das Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr von sich gegeben hat, nicht vorenthalten. In der Pressemitteilung, in der der Erfolg der gemeinsamen Aktion, den ich hier hinterfragt und widerlegt habe, gefeiert wird, wird er wie folgt zitiert:

“Kinder und Jugendliche wachsen hierzulande in einer Gesellschaft auf, in der Alkoholkonsum weit verbreitet ist. Da sie sich stark an dem orientieren, was Erwachsene tun, ist es im Sinne der Prävention entscheidend, junge Menschen frühzeitig über die Sucht- und Gesundheitsrisiken von Alkohol aufzuklären”.

Im Klartext: Jugendliche sehen sich mit sinnlos saufenden Erwachsenen konfrontiert und müssen daher über die Folgen des sinnlosen Saufens aufgeklärt werden, z.B. in dem Ihnen ein sinnvoller Umgang mit Alkohol beigebracht wird etwa in Form des Schwenkens des Rotweinglases, Nase in das Glas stecken, den ersten Schluck kauen und dann die Flasche nachschütten. (Der letzte Zusatz war von mir, er lässt sich nicht unmittelbar aus Bahrs Aussage ableiten.)

Zum Abschluss noch ein Wort zum kritischen Journalismus in Deutschland: Zumindest auf Tagesschau Online ist er nicht existent.

Literatur
Burkhardt, Steffen (2009). Praktischer Journalismus. München: Oldenbourg.

Diekmann, Andreas (2003). Empirische Sozialforschung. Grundlagen, Methoden, Anwendungen. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt.

Schnell, Rainer, Hill, Paul & Esser, Elke (1992). Methoden der empirischen Sozialforschung. München: Oldenbourg.

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