Drogen gegen ADHS und Kriminalität?

Derzeit wird u.a. im Spiegel eine Studie des schwedischen Karolinska Instituts gefeiert, die im “New England Journal of Medicine”  unter dem Titel “Medication for Attention Deficit- Hyperactivity Disorder and Criminality” veröffentlicht wurde. Das Ergebnis der Studie lautet im Wesentlichen: ADHS-Patienten, die mit Methylphenidat, Atomoxetin, Amphetamin oder dextro-Amphetamin behandelt werden, haben eine geringere Wahrscheinlichkeit, wegen einer Straftat verurteilt zu werden als ADHS-Patienten, die nicht behandelt werden:

“The estimated probability of not being convicted [Hervorhebung von mir, MK] for a crime during a 4-year treatment period was 0.49 for men and 0.75 for women. The same probability during the nontreatment period was 0.37 for men and 0.69 for women. … Since patients receiving medication might be different from untreated patients, a critical test of the association was whether there were differences in crime rates in the same person during treatment periods, as compared to nontreatment periods. The stratified Cox regression estimates of the within-patient hazard ratios were 0.68 for men and 0.59 for women” (p.2010).

Die Wahrscheinlichkeit, wegen einer Straftat verurteilt zu werden, ist demnach für Männer und Frauen, die mit Psychopharmaka behandelt wurden, geringer als für Männer und Frauen, die nicht mit Psychopharmaka behandelt wurden, und die Wahrscheinlichkeit ist für dieselben Männer und Frauen in Zeiten, in denen sie behandelt werden, geringer als in Zeiten, in denen sie nicht behandelt werden. Das scheinen eindeutige Ergebnisse zu sein, die die Aussage  rechtfertigen, dass “Schwedische Forscher” herausgefunden haben, dass “ADHS-Patienten weniger Verbrechen begehen, wenn sie behandelt werden”, wie der Spiegel untertitelt.

Stört Sie etwas an diesem Ergebnis? Finden Sie es eingängig? Nun, mich stört zunächst, dass es so ungemein politisch korrekt ist. Straftaten begehen nur “Kranke” oder Menschen, die sich nicht anders zu helfen wissen und denen man entsprechend helfen muss. Man hört schon die Münzen klimpern, bei all den professionellen Helfern und denen, die die Hilfsmittel produzieren. Was ist nur aus Hans Haferkamps Einsicht, “Kriminalität ist normal” geworden? Was ist aus den sozialstrukturellen Theorien der Kriminalität geworden, die Kriminalität dadurch erklären, dass bestimmte Mitglieder einer Gesellschaft nicht die legalen Mittel zur Verfügung haben, die zur Erreichung gesellschaftlich geteilter Ziele notwendig sind und deshalb zu illegalen Mitteln greifen, wie sie Merton formuliert hat? In Zeiten des Staatsfeminismus, in denen der Biologismus in Form von Frauenquoten neue Hochzeiten feiert, kehrt wohl auch die biologische, heute eher genetische oder neurobiologische Fundierung von Kriminalität wieder. Und während man früher Schädel vermessen hat, um Straftätern auf die Spur zu kommen, werden heute fragwürdige Klassifikationssysteme (wie ICD-10) zum Einsatz gebracht, um ADHS festzustellen und mit dieser Diagnose nunmehr auch gleichzeitig das Potential an Straftätern zu erfassen.

Doch warum sollte das so sein? Warum sollte ADHS etwas mit Kriminalität zu tun haben? Warum nicht denken, dass eine ADHS-Diagnose nur ein weiterer Bestandteil eines Syndroms ist, vielleicht eines sozialstrukturellen Syndroms, dessen Gemeinsames die Ausgrenzung der Angehörigen bestimmter Schichten vom Zugang zu Ressourcen ist, ein Syndrom, zu dem auch delinquentes Verhalten gehört? Das wäre möglich, aber es wäre gleichzeitig ein theoretischer Gedanke, und wenn man eines nicht findet, in den vielen klinischen Studien, in denen z.B. die Anzahl der Pickel mit der Wahrscheinlichkeit, an Mumps zu erkranken, korreliert wird, dann ist das eine Theorie: Wie nur stellen sich die Autoren, Paul Lichtenstein, Linda Halldner, Johann Zetterqvist, Arvid Sjölander, Eva Serlachius, Seena Fazel, Niklas Längström und Henrik Larsson die theoretische Verbindung zwischen ADHS und Delinquenz vor? Sind Menschen die viel zappeln, unaufmerksam sind, die impulsiv reagieren, eher bereit, sich delinquent zu verhalten, und ist das Zappeln, die Unaufmerksamkeit und die Impulsivität der deliquenten Karriere nicht eher hinderlich? Wie hat man sich das vorzustellen, mit anderen Worten: Warum sollen Personen, die mit ADHS diagnostiziert werden, häufiger eine Straftat begehen? Und warum soll sie die Behandlung mit Methylphenidat oder Atomoxetin von der Begehung einer Straftat abhalten? Ich habe keine Idee, wie eine Theorie aussehen könnte, die diesen Zusammenhang anders beschreibt als auf Grundlage biologischer Disposition zu ADHS und Straftaten und für eine derart gewagte Aussage scheinen mir die Daten, die die Autoren präsentieren, alles andere als geeignet zu sein.

Es fängt damit an, dass die Autoren “Verurteilungen” betrachten. Das ist seltsam und hat eine ganze Reihe von Problemen im Schlepptau, denn gewöhnlich vergeht zwischen einer Straftat und einer Veruretilung Zeit, d.h. wenn die Autoren kontrollieren, ob ein mit ADHS-Diagnostizierter zum Zeitpunkt als er verurteilt wurde (und nur das können sie kontrollieren) gerade nicht mit Ritalin abgefüllt war, dann können sie nur hoffen, dass die Straftat(en) die zur Verurteilung geführt hat/haben in zeitlicher Nähe zur Verurteilung steht/stehen und dass der ADHS-Diagnostizierte zu diesem Zeitpunkt, also zum Zeitpunkt der Begehung einer Straftat tatsächlich nicht unter Einfluß von Ritalin stand. Da Hoffnung kein Fundament ist, auf das man wissenschaftliche Aussagen bauen kann, kommen mir die Ergebnisse der Untersuchung aus Schweden bereits hier seltsam vor. Und ich sehe keine Möglichkeit, das Problem, das sich daraus ergibt, dass es nicht möglich ist sicherzustellen, dass der Zeitraum der nicht-Einnahme von Ritalin (oder der Einnahme von Ritalin) auch mit dem Zeitraum (k)einer Begehung einer Straftat zusammenfallt, zu lösen. Entsprechend sind die Ergebnisse nicht interpretierbar. (Im übrigen sind auchVerurteilte eine hoch selegierte Population, denn zum einen, haben Mitglieder unterschiedlicher sozialstruktureller Gruppen unterschiedliche Erfassungs- und Verurteilungsrisiken, zum anderen haben Staatsanwälte eine ganze Latte von Maßnahmen zur Verfügung, um eine Straftat auch ohne Gerichtsverhandlung zu “erledigen” – aber das nur am Rande.)

Aber selbst wenn man dieses Problem lösen könnte, so gehen bei einem Kriminologen, der sich Table 1 im Aufsatz der Autoren ansieht, alle Warnlampen an, wenn er die Schiefe der Altersverteilung in der Grundgesamtheit sieht: 54,3% der “Männer” in der Stichprobe und 46,3% der “Frauen” in der Stichprobe und damit weit mehr als im Bevölkerungsdurchschnitt sind zwischen 15 bis 24 Jahre alt und somit in dem Alter, in dem die Jugendkriminalität floriert. Gerade die Altersgruppe, die in der Polizeilichen Kriminalstatistik als Jugendliche und Jungerwachsene bezeichnet wird, ist deutlich aktiver als andere Altersgruppen, wenn es um die Begehung von Straftaten geht (bzw. die Angehörigen der entsprechenden Altersklasse werden überdurchschnittlich häufig als Tatverdächtige ermittelt und verurteilt). Insofern ist die Stichprobe der Autoren deutlich verzerrt, was kein Problem wäre, wenn die Verzerrung kontrolliert werden könnte, z.B. indem man sie auf die Verteilung in der Gesamtbevölkerung standardisiert. Aber diese Standardisierung würde – selbst wenn die Autoren sie vorgenommen hätten – das Killer-Problem der Studie nicht lösen, das sich aus einen Umstand ergibt, der sich unter Kriminologen bester Bekanntheit erfreut und der in vielen Studien wieder und wieder belegt wurde: Delinquentes Verhalten stirbt mit dem Alter ab, d.h. mit zunehmendem Alter haben Menschen ein immer geringeres Risiko, eine Straftat zu begehen (für Deutschland z.B.: Spiess, 2010 vor allem die Kapitel 5 und 6, für die USA und International: Burfeind & Bartusch, 2011, Chapter 6). Folglich muss man davon ausgehen, dass ein (großer?) Teil der Verringerung der Wahrscheinlichkeit verurteilt zu werden, die die Autoren messen und auf Psychopharmaka zurückführen, auf den so eben beschriebenen Prozess des Absterbens delinquenten Verhaltens mit zunehmendem Alter zurückgeht. Ich sehe nicht, wie die Autoren diesem Umstand in ihrer Analyse Rechnung tragen wollten, selbst wenn er ihnen bekannt wäre.

Damit hat es sich, für die Untersuchung. Ihre Ergebnisse sind nicht verwendbar, weil zum einen nicht interpretierbar, da nur das Prinzip Hoffnung dabei hilft, einen Zusammenhang zwischen Medikamentierung und gerichtlicher Verurteilung herzustellen (also, dass sie nicht nur zum Zeitpunkt ihrer Verurteilung, sondern auch zum Zeitpunkt der Begehung der Stratftat, wegen der sie verurteilt wurden, (nicht) unter dem Einfluss von z.B. Ritalin standen), zum anderen sind die Ergebnisse nicht relevant, weil die verzerrte Stichprobe in keiner Weise “adjustiert” werden kann. Dessen ungeachtet mutmaßen schon die ersten, dass man besonders Schwerkriminelle durch Ritalin und andere Psychopharmaka ruhig stellen könnte. Nach wir vor stellt die Gabe von Psychopharmaka, auch wenn sie bei Kindern, bei denen ADHS diagnostiziert wurde (was nicht bedeutet, dass die entsprechenden Kinder auch eine entsprechende Störung haben), mittlerweile zur Norm geworden ist, einen Eingriff in die Selbstbestimmungsrechte derjenigen dar, denen die entsprechenden Psychopharmaka verabreicht werden. Einen derartigen Eingriff auf eine Untersuchung stützen zu wollen, die auf derart wackeligen Beinen steht, wie die vorliegende, die mit derart großen methodischen Problemen belastet ist, wie die vorliegende, und die derart im theoretischen Nirvana angesiedelt ist, wie die vorliegende, ist sträflich und erfüllt zumindest den Straftatbestand der Nötigung.

Literatur

Burfeind, James W. & Bartusch, Dawn Jeglum (2011). Juvenile Delinquency: An Integrated Approach. Sudbury: Jones & Bartlett.

Lichtenstein, Paul, Halldner, Linda, Zetterqvist, Johan, Sjölander, Arvid, Serlachius, Eva, Fazel, Seena, Längström, Niklas & Larsson, Henrik (2012). Medication for Attention Deficit-Hyperactivity Disorder and Criminality. The New England Journal of Medicine 367(21): 2006-2014.

Spiess, Gerhard (2010). Jugendkriminalität in Deutschland – zwischen Fakten und Dramatisierung. Kriminalstatistische und kriminologische Befunde. Konstanz: Konstanzer Inventar zur Kriminalitätsentwicklung.

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