Kampf gegen Studiengebühren – eine Simulation sozialer Gerechtigkeit

Nur noch zwei Bundesländer, nämlich Bayern und Niedersachsen, erheben Studiengebühren an ihren Universitäten. Und wenn es nach den Freien Wählern in Bayern geht, dann gehören die Studiengebühren an Bayerischen Universitäten bald der Vergangenheit an. 500 Euro müssen Studenten in Bayern und Niedersachsen pro Semester bezahlen und so viel mussten Sie einst in Nordrhein-Westfalen bezahlen. Nicht mehr, denn bereits zum Wintersemester 2011/2012 wurden die Studiengebühren in Nordrhein-Westfalen abgeschafft. Studiengebühren widersprechen der Bildungsgerechtigkeit, so die Begründung und hindern vor allem Menschen aus “bildungsfernen” Schichten daran, sich für ein Studium einzuschreiben, aus Angst vor Verschuldung!

Die so genannten bildungsfernen Schichten, also die Kinder aus der Unter- oder Arbeiterschicht, müssen immer herhalten, wenn gegen Studiengebühren vorgegangen werden soll. “Allgemeine Studiengebühren verschlechterten die Bildungschancen junger Menschen aus einkommensschwachen Familien”, wird aus der SPD-Fraktion in der Hamburger Bürgerschaft heraus behauptet. Die Grünen in Göttingen kennen die selben Zusammenhänge im Hinblick auf Studiengebühren: “Diese Gebühren sind sozial ungerecht, da sie den Hochschulzugang vom Geldbeutel abhängig machen, einen abschreckenden Effekt haben und Menschen aus einkommensschwachen Familien benachteiligen”. Und auch die Linke in Nürnberg/Fürth, als Teil eines größeren Ganzen, bezieht gegen die ungerechte “Campus Maut” und zum Schutz der bildungsfernen Schichten, Stellung: “Das [bayerische] Volksbegehren „Abschaffung der Studienbeiträge“ wird vom 17. bis zum 30. Januar 2013 stattfinden. Jetzt geht es darum mit aller Kraft parteiübergreifend gemeinsam mit Gewerkschaften, Verbänden und Initiativen für das Volksbegehren zur Abschaffung der Studiengebühren mobilisieren, um der ungerechten Campus Maut auch in Bayern ein Ende zu setzen”.

Ich habe mich in diesem blog schon des öfteren gegen die Versuche gewendet, die Arbeiter-, die Unter- oder die so genannte bildungsferne Schicht für die eigenen Zwecke zu vereinahmen und die eigenen Motive  als solche auszugeben, die anderen helfen. Wenn also Kinder aus der Mittelschicht und Parteien, die sich vornehmlich aus Mittelschichtsangehörigen rekrutieren, gegen Studiengebühren Stellung beziehen, dann versuchen Sie damit nicht, einer Unter-, Arbeiter- oder “bildungsfernen” Schicht zu helfen, die sie sowieso nur vom Hörensagen kennen, sondern sie versuchen für sich selbst Kosten zu vermeiden, denn sie sind es, die studieren, sie sind es, deren Kinder studieren, wie jede Untersuchung des Hochschulinformationssystems zeigt, in der wieder einmal bestätigt wird, dass Kinder aus der Arbeiter-, Unter- oder der so genannten bildungsfernen Schicht an deutschen Hochschulen eine seltene Spezies sind, die erheblich unterrepräsentiert ist, während Kinder aus der Mittelschicht deutlich überrepräsentiert sind. Studiengebühren treffen entsprechend die Mittelschicht und nicht die Unter-, Arbeiter- oder “bildungsferne” Schicht. Damit sollte der “wir-setzen- uns-für-sozial-Schwache-ein”-Mythos begraben sein.

Darüber hinaus basiert dieses ganze Gerede von der so genannten bildungsfernen Schicht auf der unter Mittelschichtlern verbreiteten naiven Vorstellung, dass der Erwerb eines Bildungszertifikats mit dem Erwerb von Bildung gleichzusetzen sei (eine Feststellung aus dem Hause Dr. habil. Heike Diefenbach). Dies ist ebenso wenig der Fall, wie der Kunstdruck von Joan Miró an der Wand des Wohnzimmers mit künstlerischem Sachverstand gleichzusetzen ist. Beides, Bildungszertifikate und Kunstdrucke an Wohnzimmerwänden, sind, wie Pierre Bourdieu beschrieben hat, nur Ausdrücke bestimmter Kapitalien, kultureller und symbolischer, die von der Mehrheitsgesellschaft gerade als “wichtig”, “gut” oder “en vogue” angesehen werden. Über die qualitative Ausprägung der jeweiligen Symboliken ist damit jedoch nichts ausgesagt.

Doch zurück zu den Studiengebühren, von denen so viele, z.B. die oben Zitierten, ganz genau zu wissen scheinen, dass sie sich insbesondere auf so genannte bildungsferne Studierwillige aus der Unter-/Arbeiterschicht negativ auswirken. Diese Behauptung ist bislang ungeprüft, wie so vieles, was Politiker oder solche, die sich dafür halten, über die Welt behaupten. Manchmal scheint es, dass das Hauptcharakteristikum, das Politiker aller Ebenen auszuzeichnen scheint, eine hervorragende Unkenntnis über die und ein hervorragndes Desinteresse an der Wirklichkeit ist, was damit begründet werden kann, dass man bestimmte ideologische Forderungen eben nicht aufstellen kann, wenn man etwas von der Realität weiß. Nun, Wissen über die Wirklichkeit kann man z.B. durch das Sammeln von Daten, Eindrücken oder Informationen erzielen, und genau das haben Marcel Helbig, Tina Baier und Anna Kroth in einem Beitrag für die Zeitschrift für Soziologie getan: Sie haben Daten zwar nicht gesammelt, aber Daten, die von anderen, in diesem Fall vom Hochschul-Informations-System (HIS) erhoben wurden, genutzt, um die Frage, die manche Politiker ohne geringste Kenntnis über die Realität beantworten zu können glauben, auf Grundlage der Realität zu beantworten: Die Frage lautet: Wie wirken sich Studiengebühren auf Studienberechtigte aus? Und besonders: Wie wirken sich Studiengebühren auf Studienberechtigte aus der Arbeiter-/Unterschicht aus?

Die letzte Frage hat die Autoren vor ein Realitätsproblem gestellt, denn, wie ich oben bereits geschrieben habe, sind Arbeiterkinder oder Kinder aus der Unterschicht an deutschen Universitäten ein seltenes Gut. Dafür sorgt ein erlesener Aussortierungsbetrieb, der sich Bildungssystem nennt, der nicht umsonst als Mittelschichtsinstitution (Rolff, 1997) beschrieben wird, und in dem das Vorankommen zwar nicht an guten Leistungen, aber doch daran scheitern kann, dass derjenige, der gute Leistungen in der Schule bringt, einen trinkenden Vater oder gar keinen (feststellbaren) Vater zu Hause hat und entsprechend im Urteil der Mittelschichtspädagogen, die über seine Grundschulempfehlung befinden, nicht genügend Unterstützung finden wird, um seinen Weg am Gymnasium erfolgreich zurückzulegen. Und damit der arme Junge nicht enttäuscht ist, wenn er am Gymnasium vermeintlich versagt, schicken wir ihn doch lieber gleich auf die Hauptschule. Als Ergebnis kommen nur sehr wenige aus der Arbeiter-/Unterschicht an Gymnasien an, was zum einen dazu führt, dass Mitglieder der Schicht, die im Wesentlichen dafür verantwortlich ist, dass die entsprechenden Kinder auf Haupt- und Realschulen umverteilt und am Zugang zum Gymnasium gehindert werden, ihnen nun auch noch attestieren “bildungsfern” zu sein, zum anderen dazu, dass man als Sozialforscher wie Helbig, Baier und Kroth es schwer hat, ausreichend Studierberechtigte aus der Arbeiter-/Unterschicht zu finden. Also muss man sich behelfen. Helbig, Baier und Kroth haben sich damit beholfen, dass sie Akademikerkinder gegen alle anderen kodiert haben, um in ihren Analysen die Frage, wie sich Studiengebühren auf die Studienhäufigkeit nach sozialer Herkunft auswirkt, beantworten zu können.

Ein recht aufwändiges und überraschend gutes Design, das Aussagen auf Grundlage von bis zu 33145 befragten Studienberechtigten und Studenten zulässt und es auf Grundlage longitudinaler Daten, die den Zeitraum von 2002 bis 2008 umfassen, zudem ermöglicht, die Befragten danach zu unterscheiden, ob sie zu einem Zeitpunkt an einer Hochschule eingeschrieben sind, ob sie ihre Studienabsicht angesichts der Einführung von Studiengebühren aufgegeben haben oder ob sie ihre Studienabsicht, aufgrund der Abschaffung von Studiengebühren wieder neu belebt haben, führt zu eindeutigen Antworten, auf die interessierenden Fragen. Und wie wirken sich Studiengebühren nun auf Studienberechtigte, auf Kinder aus nicht-Akademikerhaushalten aus?

Gar nicht. Das ist das einheitliche Ergebnis, das Helbig, Baier und Kroth in mehreren Analysen und immer wieder erzielen: “Die Ergebnisse dieser Studie weisen darauf hin, dass Studiengebühren Studienberechtigte nicht von einem Studium abhalten” (241). Ganz im Gegenteil: “Bundesländer, die Studiengebühren eingeführt haben, verzeichnen ein tendenziell geringeres Absinken der Studienneigung im Vergleich zu Ländern, die keine Studiengebühren eingeführt haben” (239).

Was nun? Was machen all die Politiker, die “wissen”, dass die Einführung von Studiengebühren dazu führt, dass vor allem Kinder aus “bildungsfernen” Arbeiter-/Unterschichten nicht mehr an Universitäten ankommen? Ich schlage vor, die entsprechenden Politiker sind ehrlich und geben zu, dass es nicht um die höheren Kosten für ein Studium geht, die für Kinder aus der “bildungsfernen” Arbeiter-/Unterschicht anfallen, sondern um die Kosten, die für eigenen Kinder bzw. die Kinder der Bekannten aus der Ökogruppe vor Ort anfallen, geht, und ich schlage zudem vor, sie suchen sich eine andere gesellschaftliche Gruppe die sie in ihrer gönnerhaften und herablassenden Art bemuttern können. Wie wäre es mit den vielen Opfern symbolischer Wichtigkeitszuschreibung, die seit Jahren unter dem Miró im Wohnzimmer leiden, aber ihn ertragen, damit die Bekannten sehen, wie viel Geschmack sie doch haben.

Noch ein theoretisches Epigramm

Darin der Beitrag zur Rational-Choice-Theorie von Dr. habil. Heike Diefenbach

Die Autoren der Studie, deren Ergebnisse ich hier vorgestellt habe, haben ihren Ergebnissen einen theoretischen Rahmen gegeben, weil es in bestimmten Bereichen der Sozialwissenschaft zum guten Ton gehört, dass man ein Theoriekapitel schreibt, aus dem man dann Hypothesen ableitet, mehr oder weniger sinnvolle Hypothesen. Die Autoren haben die Rational-Choice Theorie genutzt, von der sie uns erzählen, sie modelliere eine Studienaufnahme als individuelle Bildungsentscheidung  als Prozess, in “dessen Verlauf Kosten, Nutzen und Erfolgswahrscheinlichkeiten eines Studiums abgewogen werden” (228). In diesen theoretischen Rahmen von Rational Choice führen sie Studiengebühren als zusätzliche Kosten ein und folgern messerscharf, dass die Rational Choice Theorie nun vorhersagt, dass wegen höherer Kosten weniger Personen studieren werden. Studienbrechtigte “bildungsferner Herkunft” so lernen wir, werden durch die 500 Euro besonders häufig vom Studium abgehalten, weil für die armen Schlucker 500 Euro haben oder nicht eben wirklich der Unterschied ist. Außerdem reagieren, wie die Autoren wissen, “vor allem Frauen” und “im Vergleich zu den männlichen Studienberechtigten sensibler auf die Erhöhung der Kosten eines Studiums” (228).

Dies ist nun eine etwas kurze und doch sehr rustikale Verwendung der Rational-Choice Theorie, die zentrale Faktoren wie  Präferenzen und  Randbedingungen, unter denen (übrigens subjektive) Entscheidungen getroffen werden, kurzerhand vergisst. Ein armer Schlucker aus der bildungsfernen Schicht, der unbedingt ein Studium aufnehmen will (er hat eine starke Präferenz) und der weiß, dass er dieses Studium selbst und durch Arbeit wird finanzieren müssen, für den sind die 500 Euro mehr nicht im selben Maße verhängnisvoll wie sie es für die Tochter aus der Mittelschichtsfamilie sind, deren Studium von Papa finanziert wird, und zwar aus dem Topf, aus dem zudem die Raten für Haus, Auto und Mobiliar bezahlt werden. Da kann es schon eng werden. Entsprechend würde man aus Sicht der Rational-Choice Theorie, die, ich wage es kaum zu sagen, eine relative, keine absolute Theorie ist, erwarten, dass die Studierentscheidung eine subjektive Entscheidung ist, die auf Grundlage einer ganzen Menge von Faktoren getroffen wird, Studiengebühren sind einer dieser Faktoren und wie sie sich auswirken, ist eine relative Frage, relativ im Hinblick auf den zukünftigen Nutzen, der mit dem Studium verbunden wird, und relativ im Hinblick auf die sonstigen Kosten, die sich mit dem Studium verbinden. Es mag für Studierte aus der Mittelschicht insofern etwas Neues sein, wenn ich hier ein Geheimnis offenbare: Die 500 Euro sind für die meisten Kinder aus der “bildungsfernen” Arbeiter-/Unterschicht kein Problem, denn wenn man die Anfangshürde geschafft hat, die darin besteht, den eigenen Unterhalt, die Wohnung und die notwendigen Materialien selbst zu finanzieren, dann sind die 500 Euro geradezu ein Klacks, anyway, knapp eine halbe Woche Schichtdienst bei BASF – mehr nicht. (Das war jetzt eine Modellierung für N=1, und auf Grundlage der RC-Theorie).

Rolff, Hans-Günter (1997). Rolff, Sozialisation und Auslese durch die Schule. Weinheim: Juventa.

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