Heute schon geärgert?

Wie oft waren Sie in den vergangenen vier Wochen ärgerlich?

  1. Sehr selten?
  2. Selten?
  3. Manchmal?
  4. Oft?
  5. Sehr oft?

HB-MaennchenWenn Sie das Glück oder das Pech haben, zu den Freiwilligen zu gehören, die im Rahmen des Sozioökonomischen Panels (SEOP) befragt werden, dann kennen Sie diese Frage, denn Sie wurde Ihnen schon mehrfach gestellt (sofern Sie dauerhaft am Panel teilnehmen und nicht die Panelmortalität vorziehen). Was antwortet man auf eine solche Frage? Also, ehrlich gesagt, mich würde eine solche Frage ärgerlich machen und – wo ich das so vor mich hintippe, kommt gerade vom Benutzer des Computers links von mir der Hinweis: “Ach, ärger’ Dich doch nicht!” Die weibliche Person vor dem Computer kennt mich zu gut und weiss bereits anhand der Frequenz, mit der ich die Tastatur bediene, dass ich ärgerlich bin. Hmm, wahrscheinlich sollte ich “sehr oft” angeben. Gut. Gebe ich “sehr oft” an. Was jetzt? Was macht man als Sozialforscher mit einer solchen Frage und was, um aller Götter Willen mit einer Antwort wie der meinigen?

Katja Rackow, Jürgen Schupp und Christian von Scheve von der Freien Universität Berlin und vom DIW-Berlin gehören zu den wenigen Sozialforschern, die behaupten und vielleicht auch von sich denken, sie könnten mit Fragen, wie der oben gestellten, etwas anfangen, die denken, sie könnten Erkenntnisse über ärgerliche Menschen gewinnen, Erkenntnisse wie die folgenden:

  • Die Häufigkeit von Ärger sinkt mit steigendem Einkommen.
  • In mittleren und höheren Schichten der Sozialstruktur ist man ärgerlicher als in der Unterschicht.
  • “In mittleren und hohen Bildungsschichten zeigt sich eine deutlich höhere Frequenz des Erlebens von Ärger als in bildungsfernen Schichten” (405-406) (Ja, da sind sie wieder, meine besonderen Freunde, die bildungsfernen Schichten!).
  • Und das Schmankerl: “Unter der erwerbstätigen Bevölkerung empfinden vor allem die höheren beruflichen Statusgruppen vergleichsweise häufig Ärger. Dass insbesondere Angehörige der oberen Dienstklasse sowie Selbständige mit Mitarbeitern häufiger Ärger verspüren, deutet darauf hin, dass die Arbeitsbedingungen etwa von leitenden Angestellten, Managern oder Akademikern mit Leitungsfunktionen trotz hohem Prestige, Autonomie und Verantwortung offenbar auch dem Erleben von Ärger Vorschub leisten” (406) (Astreine Tautologie – fast ein Aspirant für die Kategorie “Unsinn der Woche”).

miffed michaelUnd jetzt? Jetzt wissen wir, dass man die oben dargestellte Frage eben einmal zur abhängigen Variable umfunktionieren und metrisch interpretieren kann, und wir wissen, dass dann, wenn man die entsprechende abhängige Variable mit einer Reihe unabhängiger Variablen in ein multivariates Modell wirft, tatsächlich ein paar signifikante Ergebnisse auftauchen. Und sonst? Was wissen wir sonst? Ich meine, warum ist es noch einmal interessant zu wissen, dass Menschen aus bildungsnahen Schichten (das ist übrigens das Antonym zur bildungsfernen Schicht, die bildungsnahe Schicht, somit wiederum eine Schicht, die Bildung nicht erreicht, sondern ihr nur nahe kommt), sich häufiger ärgern? Was bedeutet das? Was kann ich mit diesem Ergebnis anfangen? Welche Erkenntnis teilt sich mir da mit? Was haben die Autoren überhaupt gemessen? Und warum ist es interessant, das zu wissen? Leider ist der Text, wenn es um Fragen wie die genannten geht, wirklich leer, und ich habe den Eindruck, dass man die Autoren mit der Frage nach einer theoretischen Anbindung, der  Frage “Warum soll man sich für den Zusammenhang zwischen Ärger und was auch immer interessieren?”, massiv verstören und in Anomie versetzen könnte.

Aber ich kann zumindest damit aufwarten, dass ich sage, was die Autoren denken, gemessen zu haben: “Ärger wird als … Reaktion auf unerwünschte Ereignisse verstanden, verweist … auf die Blockierung eigener Ziele und Wünsche … und geht in der Regel mit Feindseligkeit und einem Handlungsimpuls zur Beseitigung des Ärgerobjekts einher” (394). Dies ist ein sehr psychologisches Verständnis von Ärger, das man Befragten, die man fragt, wie oft sie in den letzten vier Wochen ärgerlich gewesen sind, vielleicht besser mitgeteilt hätte. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Mehrzahl der Befragten, die Frage danach, wie oft sie in den letzten vier Wochen ärgerlich gewesen sind, auf Basis ihres Alltagsverständnisses beantwortet hat und nicht auf Basis dieser ausgesprochen künstlichen Bestimmung von “ärgerlich”. Die häufige Ärgerlichkeit kann sich entsprechend auf die Mängel in der Gebrauchsanweisung einer Kaffeemaschine beziehen, auf die als ärgerlich empfundene Regelmäßigkeit, mit der einem die EU-Kommissarin für u.a. Justiz mit ihrem Pet-Projekt “Frauenquote” in den Ohren liegt oder darauf, dass die Post ein Paket ins Off geliefert hat, jedenfalls nicht dahin, wo es hin geliefert werden sollte. All diese alltäglichen Ärgernisse haben Befragte im Hinterkopf, wenn sie die Frage beantworten, die von unseren Berliner Soziologen so gänzlich anders interpretiert wird. Für die drei Autoren ist Ärger nämlich eine negative Emotion, die es zu vermeiden gilt: Der distinguierte Mensch Berliner Prägung ist nicht ärgerlich, er erduldet treu und brav alle Verletzungen seiner Prinzipien und Standards, was – wie böse Zungen behaupten – einfach nur der Ausdruck seiner eigenen Feigheit ist – aber das sei hier nur in den Raum gestellt.


Sozialpsychologie
Es ist nicht nur dieses zwischen Sozialforscher und Befragten völlig divergierende Verständnis von Ärger bzw. “ärgerlich”, das die “Forschung” von Rackow, Schupp und von Scheve unbrauchbar macht, es sind auch ein paar weitere Defizite, die nur schwierig mit wissenschaftlicher Arbeit in Einklang zu bringen sind: So kennt die psychologische Forschung zum Thema “Ärger” einen Unterschied zwischen dem Gefühl von Ärger, das man allgemein darauf zurückführen kann, dass eine bestimmte und wichtige Erwartung nicht erfüllt wurde, und einem Verhalten, das aus Ärger resultiert. Nehmen Sie das nächstbeste Einführungsbuch in die Sozialpsychologie zur Hand und sie werden Sätze finden, wie den folgenden: “People can be angry with others and regard them with great hostility without ever trying to harm them” (Brehm & Kassin, 1996, p.289). Vom Ärger-Empfinden  ist es also selbst dann, wenn man die Definition von Ärger nutzt, die Rackow, Schupp und von Scheve ihren Befragten unterstellen, ein weiter Weg bis zu Verhalten aus Ärger (aber vielleicht ist das in Berlin nicht so). Entsprechend ist man wieder zurück zu square one und wieder bei der Frage angekommen, was mir das Wissen darüber bringt, dass Personen aus der Oberschicht, bildungsnahe Personen und Personen mit geringem Einkommen angeben in den letzten vier Wochen häufiger ärgerlich gewesen zu sein als Personen aus der Unterschicht, bildungsferne Personen und Personen mit geringem Einkommen?

Nun, um diese Frage zu beantworten, muss man wohl wild assoziieren wie Rackow, Schupp und von Scheve das tun. Denn da gibt es eine Reihe von Studien, die Einkommen und Zufriedenheit mit Gesundheit oder Leben oder was auch immer, korrelieren, warum, das wissen die Autoren dieser Studien so wenig wie die Autoren der vorliegenden Studie wissen, warum sie Sozialstruktur, Einkommen und Ärger miteinander in Verbindung bringen, aber wenn man diese Studien, von denen wir alle nicht wissen, was sie besagen, was der Zusammenhang, den sie berichten, nun bedeutet, miteinander kombiniert, dann sieht man, dass die Bezieher geringer Einkommen unzufriedener sind als die Bezieher hoher Einkommen und dass die Bezieher hoher Einkommen weniger ärgerlich sind als die Bezieher geringer Einkommen. Wir wissen zwar nicht, warum das so ist, aber wenn man Ergebnisse, von denen wir nicht wissen, was sie bedeuten, miteinander kombiniert, dann ist das doch auch etwas – oder?

chickenangerUnd mal ehrlich, ist die Erkenntnis, dass bildungsnahe Menschen ärgerlicher sind als bildungsferne Menschen nicht eine Erkenntnis, auf die Sie schon den ganzen Tag gewartet haben? Sagen Sie bitte nicht, diese Erkenntnis mache sie ärgerlich, ob der Verschwendung von Ressourcen, die Grundlage dieser ärgerlichen Erkenntnis ist. Und all das nur, weil die Autoren zu einer Art “Mensch” gehören, die sich nicht vorstellen kann, wie wohltuend es ist, überhaupt Gefühle zu erleben, Gefühle wie Ärger zum Beispiel, die es einem erlauben, mit bestimmten Dingen, Texten wie dem vorliegenden zum Beispiel, “fertig” zu werden, einen Schlussstrich zu ziehen, mit sich im Reinen zu sein und fundiert feststellen zu können, dass dieser Text von Rackow, Schupp und von Scheve einfach nur grober Unsinn ist. So, das gesagt, geht es mir nun besser, und Rackow, Schupp und von Scheve werden sich sicher nicht über mein Verdikt ärgern, schließlich ist Ärger eine negative Emotion, die es zu vermeiden gilt.

Wie ich gerade von links und ägerlicher Weise, da ich mit dem post fertig war, zu hören bekomme, ist die Zeitschrift (für Soziologie), die diesen groben Unsinn gedruckt hat, sind die Gutachter (anonym versteht sich), die diesen groben Unsinn als druckwürdig eingestuft haben, zu gut weg gekommen. Dieser ärgerlichen Kritik an einem, wie ich finde, gelungenen post, habe ich hiermit den Boden entzogen. Zudem hat mich die Kritik veranlasst, noch einmal den Text zur Hand zu nehmen und, ich weiß nicht, wie mir das entgehen konnte (ärgerlich ist das): Der Text stammt aus dem “Exzellenzcluster “Languages and Emotion”” an der Freien Universität Berlin. Noch ein Grund, ärgerlich zu sein, und ich hätte ihn fast übersehen: grober Unsinn aus dem Exzellenzcluster – aber stimmt, es hat ja niemand gesagt, wofür das Cluster exzellent ist.

Rackow, Katja, Schupp, Jürgen & von Scheve, Christian (2012). Angst und Ärger: Zur Relevanz emotionaler Dimensionen sozialer Ungleichheit. Zeitschrift für Soziologie 41(5): 392-409.

Bildnachweis:
Paneer & Pulao

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