Der Mythos der vom Volk ausgehenden Gewalt

Demokratische Gesellschaften wollen Gesellschaften sein, in denen “alle Staatsgewalt vom Volke” ausgeht (Artikel 20 GG). Was so gut klingt, ist natürlich nur vermittelt gemeint, denn selbstverständlich will niemand, der bei Trost ist, das Volk zu allen wichtigen Dingen befragen, die das Wohl des Volks betreffen – oder? Außerdem gibt es eine Klasse von Leuten, die es zu ihrer Aufgabe gemacht haben, dem (dummen) Volk zu sagen, wo es lang geht bzw. was es wollen sollte, und zwar deshalb, weil diese, nennen wir sie Politiker-Klasse, für sich in Anspruch nimmt, besser zu wissen, was richtig ist, als “das” Volk. Das wiederum, kann man “dem Volk” nicht auf die Nase binden, widerspricht es doch der Aussage, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, wenn tatsächlich die Volksgewalt darin besteht, die “richtigen” Vorgaben, die von einer Politikerklasse gemacht werden, auszuwählen. Dieser Widerspruch ist jeder demokratischen Verfassung inhärent, dass nämlich die Gewalt gerade nicht vom Volke ausgeht, gar nicht ausgehen kann, denn wo kämen wir dann hin, wenn jeder uninformierte Bürger Entscheidungen zu Dingen treffen würde, von denen er nichts versteht (vermutlich dahin, wo wir jetzt auch sind)?

Good news bad newsEntsprechend ist der Mythos der vom Volk ausgehenden Gewalt ein gut gehüteter Mythos, den zu bewahren, die politische Klasse angetreten ist. Sicher, es gibt immer wieder Mitglieder der Politikerklasse  – aus welchen Motiven heraus auch immer (man soll auch Lauterkeit bei Politikern nicht von vornherein ausschließen) -,  die sich nicht an die stille Übereinkunft halten – so genannte Populisten, Personen also, die einen Gegenstand so darstellen, dass er nicht mit dem Schleier der Komplexität verhangen ist, der nur von einer informierten Politikerklasse gelüftet werden kann. Populismus wird von der politischen Klasse zur Brandmarkung von Netzbeschmutzern benutzt. Doch macht dieser Umgang mit vermeintlichen Populisten nur deutlich, dass die derzeitige Demokratie weniger eine Herrschaft des Volkes als eine Herrschaft im Namens des Volkes ist.

Populismus ist fast so schlimm wie Kritik, Kritik an Zuständen oder an Institutionen oder an Verfahrensweisen. Kritik trägt den Samen der Veränderung in sich, und wenn die derzeit herrschende Politikerklasse etwas hasst, dann ist es Kritik und Veränderung. Dies hat Murray Edelmann wie kein anderer beschrieben, und wer sich einen Eindruck davon machen will, wie große Verbalschlachten zwischen Politikern genutzt werden, um Veränderungen im Miniaturbereich größer aussehen zu lassen, dem sei das Buch von Edelman The Politics of Misinformation” wärmstens empfohlen. Vor allem die Strategien, mit denen die Politikerklasse ihre Herrschaft über die Bürger (und nicht etwa in deren Namen) legitimiert, sind lesenswert.

David+Cameron+Kritik an Zuständen und mehr noch Veränderung derselben, hat David Cameron geübt. Wenn er mit der EU konfrontiert ist, hält sich Cameron nicht an die Konventionen, die den Schleier des Vergessens über das bestehende demokratische Defizit legen bzw. missachtet er die Rituale, mit denen eifrige Politikwissenschaftler versuchen, das demokratische Defizit der EU mit hanebüchenen Argumenten wegzureden. Das ist verwerflich und entsprechend hat sich der britische Premierminister auch umgehend den Ärger von Martin Schulz zugezogen, der zum einen EU-Parlamentspräsident ist, zum anderen der Ansicht, dass niemand so klug ist, wie er selbst. Entsprechend behauptet er, dass die Reform der EU, die er für gut befunden hat, von Großbritannien abgelehnt wurde. Und wer die Reform-Ideen, die Herr Schulz für gut befindet, nicht für gut befindet, schlimmer noch: ablehnt, der ist … nun, was könnte der mal sein, böse, populistisch, nein schlimmer noch, der will die Rückabwicklung der Integration. Wenn ich mir Gestalten wie Herrn Schulz oder, man muss ja heutzutage immer genedergerecht reden, Frau Reding ansehe, die es in höchste Positionen bei der EU geschafft haben, dann muss ich, als ehemaliger Befürworter der EU eingestehen, dass ich auch für eine Rückabwicklung bin und insbesondere für eine Freisetzung der Arbeitskräfte, die die EU sinnlos bindet. Aber ich weiche ab.

oligarchy-thinkingWieso, so habe ich mich im Hinblick auf die Berichterstattung auf ARD-Online und die Reaktion von Herrn Schulz gefragt, ist es ein Sakrileg, Kritik an der EU zu äußern und die Frage zu stellen, ob die EU in ihrer derzeitigen Form, das ist, was die Bürger Europas wollen? Und wieso, so habe ich mich gefragt, ist es so schrecklich anzukündigen, dass man einen Teil dieser Bürger, in diesem Fall die Briten, fragen will, was sie von der EU halten? Ist nicht die Legitimation der eigenen Handlungen das Lebenselixier der Demokraten? Warum also scheuen Sie sie, wie der Teufel das Weihwasser? Nun, die Antwort findet sich, wenn man nach der Lektüre dessen, was die ARD für berichtenswert hält und dessen, was Herr Schulz für kommentierenswert hält, das liest, was David Cameron gesagt hat, und worüber eine offene Aussprache, worüber zu diskutieren offensichtlich verhindert werden soll, weil es offen legen würde, dass die EU derzeit nichts anderes ist als ein Haufen von Bürokraten und anderen Nutznießern, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Pluralismus hinweg zu harmonisieren.

Ich habe aus der Rede von David Cameron die Stellen ausgewählt, die mir besonders aussagekräftig erscheinen und die ein besonderes Licht auf die Diskussionsverweigerung werfen, wie sie z.B. Herr Schulz praktiziert:

There are always voices saying: ‘Don’t ask difficult questions’. But it’s essential for Europe – and for Britain – that we do because there are three challenges confronting us today. [Es gibt immer Stimmen die sagen, man soll keine schwierigen Fragen stellen. Aber es ist grundlegend wichtig für Europa und für Großbritannien, dass diese Fragen gestellt werden, weil wir mit drei Herausforderungen konfrontiert sind.] Die drei Herausforderungen sieht Cameron darin, dass (1) die Eurozone von einem Problem ins nächste schlittert, (2) die EU nicht mit den wachsenden Ökonomien der Welt konkurrenzfähig ist und (3) der Graben zwischen der EU und ihren Bürgern, der Mangel an demokratischer Zurechnungsfähigkeit immer größer wird.

Wie es scheint, will Herr Schulz über keines dieser drei Probleme diskutieren und die ARD sieht es nicht einmal für notwendig an, die drei Punkte überhaupt zu nennen. Diese Verweigerung ist eine Bestätigung dessen, was Cameron im weiteren Verlauf seiner Rede sagt:

There is a growing frustration that the EU is seen as something that is done to people rather than acting on their behalf. [Die Frustration darüber, dass die EU als etwas gesehen wird, das Menschen zugefügt wird und nicht als eine Institution, die im Namen der Bürger agiert, wächst ständig.]

Wer die Diskussion über die von Cameron angesprochenen Probleme der EU verweigert, ist offensichtlich der Ansicht, dass die EU eine Institution ist, ja sein muss, die über Bürger regiert, und nicht eine Institution, die den Willen der Bürger umsetzt. Wer die Diskussion verweigert, zeigt damit, wie weit er sich schon von der Normalität demokratischer Systeme entfernt hat.

polcredoCameron hat im weiteren Verlauf seiner Rede noch eine ganze Menge von Punkten angesprochen, über die man diskutieren müsste. Er hat gefragt, ob eine wachsende EU-Bürokratie und eine immer größer werdende EU-Kommission zu rechtfertigen sind. Er hat den gemeinsamen Markt und nicht die politischen Institutionen der EU als Kern der Europäischen Integration identifziert und entsprechend darauf hingewiesen, dass das Ziel der EU die Prosperität der Mehrheit der Europäer und nicht die Prosperität von Bürokraten und zweitklassigen nach Brüssel abgeschobenen Politikern ist (das mit den Politikern ist von mir). Der britische Premierminister hat darauf hingewiesen, dass man nicht alles harmonisieren könne, darauf, dass die EU ihre Prioritäten falsch setzt und zuviel Ressourcen in unnütze Vorhaben steckt und vieles mehr.

Das Schlimmste, was David Cameron aber getan hat, sein Sakrileg, die Aussage, die ihn auf ewig in den heiligen Hallen der politischen Euro-Klasse zum Paria machen wird, ist das Unsagbare, das, was Politiker hassen, er hat versprochen, seine Bürger über einen Verbleib im Heiligtum Europäischer Integration abstimmen zu lassen. Das macht man nicht! Niemand fragt Bürger! Wo kämen wir hin, wenn nach mehr als 50 Jahren, in denen die EU ungestört vor sich hinwurschteln konnte, und in denen die EU zu einem demokratisch nicht legitimierten fast absoluten Herrscher über die Länge und den Krümmungsgrad einer Banane geworden ist, plötzlich die Bürger gefragt werden, ob sie die EU in der Form, in der sie vorhanden ist, wollen? Das wäre Anarachie und unerhört, (man kündigt die Solidarität mit totalitären Entwürfen nicht einfach und noch dazu öffentlich auf), es ist nie dagegwesen, kurz: es ist demokratisch und somit etwas, das die “demokratischen” Politiker fürchten, weil es die ganze Tarnung der letzten Jahrzehnte unnütz erscheinen lässt.

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