Falsche historische “Fakten”

Die Demonstration in Leipzig, am 9. Oktober 1989, wird bis heute als die Demonstration gefeiert, die das Ende der DDR und der SED (zumindest im damaligen Gewandt) eingeläutet hat. 70.000 Demonstranten haben damals den Augustusplatz in Leipzig besetzt, um gegen das DDR-Regime oder gegen die gefälschten Kommunalwahlen oder für Reisefreiheit oder für Bananen oder für was auch immer zu demonstrieren. 70.000 Demonstranten, diese Zahl ist ein historisches Fakt. Jeder kennt sie, jeder reproduziert sie:

Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Die Anzahl derjenigen, die die 70.000 Demonstranten, die sich am 9. Oktober 1989 den Augustusplatz eingefunden  haben,  als historischen Fakt ansehen und diesen historischen Fakt in der Medien- und Bildungslandschaft kolportieren, ist groß und wird immer größer. Das einzige Problem, das sich mit den 70.000 Demonstranten verbindet, ist: Die Zahl ist falsch.

Das hat Karl-Dieter Opp gerade erst wieder in einem Beitrag für die Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik geschrieben, und er hat es bereits 1993 gezeigt, im gemeinsam mit Peter Voß und Christiane Gern verfassten Buch “Die volkseigene Revolution”. Leider hat es bislang niemand zur Kenntnis genommen. Die 70.000 sind zu tief im Bewusstsein der Medien- und Bildungsschaffenden in Deutschland eingegraben. Um sie zu entfernen, muss man offensichtlich Tiefenchirurgie anwenden.

Volkseigene RevolutionDoch zurück zur Zahl der Demonstranten vom 9. Oktober 1989. Es waren wahrscheinlich zwischen 124.500 und 166.000 Demonstranten, also ein paar mehr als 70.000. Der Verdacht, dass mit den 70.000 Demonstranten etwas nicht stimmen kann, ist Karl-Dieter Opp gekommen, als eine Befragung von 1.225 Leipzigern deutlich höhere Anteile von Demonstrationsgängern erbracht hat, als sie hätte erbringen dürfen. Rund 26% wollten demonstriert haben. Hochgerechnet auf die Bevölkerung von Leipzig wären das rund 133.000 Demonstranten und somit deutlich mehr als die offiziellen 70.000, und das ohne all diejenigen zu berücksichtigen, die aus dem Umland nach Leipzig gekommen sind, um am 9. Oktober 1989 zu demonstrieren.

Ha, denkt man als empirischer Sozialforscher. Meine Befragten wollen mir etwas vormachen und, weil es zwischenzeitlich schick ist oder den Status erhöht, wenn man am 9. Oktober 1989 demonstriert hat, geben mehr an, das getan zu haben, als es tatsächlich getan haben, soziale Erwünschtheit nennen das Sozialforscher. Aber Karl-Dieter Opp hat das geprüft und ist zu dem Schluss gekommen, dass auch nach Berücksichtigung “sozial erwünschter” Antworten, die Anzahl der Demonstranten immer noch mehr als 70.000 gewesen sein muss.

Exkurs zu sozialer Erwünschtheit: Wie  prüft man, ob Befragte einem Interviewer etwas  erzählen, von dem sie denken, dass er es hören will bzw. dass es sie selbst in ein besseres Licht stellt. Nun, dass man belogen wird, gehört zum Leben als Sozialforscher. Aber man kann Vorkehrungen treffen, z.B. in dem man sicherstellt, dass der Interviewer die Antwort der Befragten auf die Frage nach z.B. der Demonstrations-Teilnahme nicht kennt. Das geht recht einfach, indem die ansonsten mündliche Befragungen unterbrochen wird, und die Befragten gebeten werden, einen kurzen Fragebogen auszufüllen (ohne Gegenwart des Interviewers), den Fragebogen dann in ein Couvert zu stecken und das Couvert zu verschließen. Da der Interviewer auf diese Weise die Antwort der Befragten nicht kennt, entfällt im Hinblick auf die Demonstrationsteilnahme das Motiv, mit seiner Antwort prahlen zu wollen, und da die Antwort in ein unmarkiertes Couvert gesteckt wird, erfährt auch sonst niemand, dass man bei einer Demonstration war oder nicht war. Kurz: die Anreize, zu prahlen, sind verringert. Darüber hinaus kann man auf interne Validität prüfen und den Anteil derer, die auf die Frage “Waren Sie Mitglied in der SED”, eine Frage, auf die eine positive Antwort zum Zeitpunkt der Befragung eher negativ sanktioniert war, mit dem Anteil der Leipziger Bevölkerung vergleichen, der SED-Mitglied war. Abweichungen zwischen beiden Anteilen, die statistisch signifikant sind, deuten auf soziale Erwünschtheit hin und erlauben es zudem, die maximale Anzahl der Befragten, die sozial erwünschte Antworten geben, zu bestimmen, was wiederum genutzt werden kann, um die Angaben auf die Beteiligung an der Demonstration zu gewichten. All das, hat Karl-Dieter Opp getan, und am Ende waren es immer noch mehr als 70.000 Teilnehmer, deutlich mehr als 70.000 Teilnehmer.

Da er auch eine verzerrte Stichprobe ausschließen konnte, seine Stichprobe von 1.225 Leipzigern also nicht eine Häufung von Befragtgruppen aufzuweisen hatte, deren Wahrscheinlichkeit an der Leipziger Montagsdemonstration teilgenommen zu haben, höher als die anderer Befragtengruppen war, ist er gemeinsam, mit Thomas Voß, wie er erzählt, und einem Zollstock, über den Augustusplatz in Leipzig gewandert und hat den Platz vermessen. 41.500 Quadratmeter sind dabei herausgekommen. Und wenn man drei Personen auf einen Quadratmeter stellt, dann waren 124.500 Demonstranten am 9. Oktober 1989 in Leipzig. Quetscht man vier auf einen Quadratmeter und die Bilder vom 9. Oktober 1989 zeigen, dass es eher vier als drei Demonstranten waren, die sich auf dem Augustusplatz gequetscht haben, dann ergeben sich daraus 166.000 Demonstranten. In jedem Fall ergibt sich eine Zahl, die deutlich größer als 70.000 ist.

karl-dieter.oppSolange Dr. habil. Heike Diefenbach und ich Karl-Dieter Opp kennen, und das sind nun auch schon ein paar Jährchen, hat es uns immer fasziniert, dass er nicht davor zurückschreckt, seine Hypothesen mit unkonventionellen Mitteln zu prüfen. KD Opp war immer einer, der für seine Wissenschaft lebt und dem der Zugewinn an Erkenntnis wichtiger als der schöne Schein war. Und vermutlich ist er deshalb einer der, wenn nicht der größte lebende deutsche Soziologe und mit Sicherheit der Soziologe, der im Ausland die größte Bekanntheit genießt (mit Ulrich Beck vermutlich). Kurz: KD Opp ist ein Wissenschaftler der alten Schule und seit er emeritiert ist, hat er noch weniger Anlaß vor dem Anfassen heißer Eisen zurückzuschrecken, wie z.B. der Frage, warum sich eine falsche Zahl, die 70.000 Demonstranten in Leipzig, als historisches Faktum festsetzen konnte und was man daraus lernen kann.

Die erste Frage ist schnell beantwortet. Ein Interview, geführt mit Mitgliedern der oppositionellen Gruppe, die  die Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche organisiert hat, die wiederum den Demonstrationen vorausgingen und der Anlaß der Demonstrationen waren, gibt die Antwort in überraschender und eindeutiger Weise. Ich übersetze hier eine Passage aus dem Beitrag von KD Opp:

“Wir mussten eine Zahl nennen. Leute haben uns angerufen. Die Medien wollten eine Zahl. Wie viele Menschen kamen zur Demonstration? Vier von uns haben sich zusammengesetzt. Einer sagte, dass sind 50.000. Einer sagte, das sind 90.000. Wir haben uns dann irgendwie in der Mitte getroffen und die 70.000 öffentlich gemacht. Das ist die Zahl, die jetzt in den Medien berichtet wird.”
Und weiter: “Wir haben dasselbe jeden Montag gemacht. Wir haben dann ein Rad genommen, sind in die Richtung der Demonstration gefahren und haben immer geschätzt. Wir haben dann R. in Berlin angerufen, und er hat immer gesagt: Das müssen doch mehr als letzten Montag sein. Also haben wir beim nächsten Mal 90.000 oder so gesagt. Ob das richtig war oder nicht, weiß niemand.

Hitlers TagebuecherDieses glorreiche Beispiel dafür, wie in Deutschland historische Fakten enstehen und wie Medien dazu beitragen, Geschichte zu schreiben oder soll man sagen, zu fälschen, ist etwas, das einem abwechselnd lachen und weinen lässt. Dass die Sorgfalt bei Medienschaffenden nicht soweit geht, dass sie die Daten prüfen, die sie veröffentlichen, haben wir schon mehrfach auf ScienceFiles thematisiert. Aber diese Form der “Schätzung historischer Daten” ist wirklich einzigartig, und sie wirft ein Schlaglicht auf die Qualität von “Fakten”, die man aus Medien, von Zentralen, die der Bundesbildung gewidmet sind oder gar von Museen beziehen kann.

Am Ende seines Beitrags stellt KD Opp die Frage, ob es einen Unterschied machen würde, wären falsche Daten mutwillig und nicht fahrlässig weitergegeben worden. Anders formuliert, würden Medien- und Bildungsschaffende es bemerken, wenn sie absichtlich mit falschen Daten gefüttert würden und den öffentlichen Diskurs entsprechend mit falschen Daten beglücken würden. KD Opp kommt zu einem eindeutigen Ergebnis: Niemand würde etwas merken, würden absichtlich gefälschte Daten lanciert, weil niemand wissen will, ob die Daten, die er in der Zeitung, der Bundesbildungszentrale oder sonstwo veröffentlicht, richtig oder falsch sind (der Nebensatz ist von mir ergänzt worden).

Die Sorgfalt all derer, die sich der Information und Bildung einer Bevölkerung verschrieben haben, der sie sich in der Regel überlegen wähnen, ist zum Heulen, und entsprechend tut die Bevölkerung gut daran alle Daten, die ihr von den Bildern und Informieren genannt werden, zu prüfen und in jedem Fall nicht für bare Münze zu nehmen, jedenfalls solange, bis im Journalismus und im öffentlichen Diskurs in Deutschland wieder so etwas wie ein Standard von Kompetenz, Lauterkeit und Gewissen eingeführt worden ist.

Einmal mehr zeigt sich, dass gute Soziologie eine Watchdog-Funktion hat. Umso schlimmer ist es, dass sich viele Soziologen, die Lehrstühle besetzen, heute eher als Steigbügelhalter von Ismen aller Art, denn als Kontrollinstanz derjenigen sehen, die für sich z.B. die “Bildung der Massen” in Anspruch nehmen.

Opp, Karl-Dieter (2011). The Production of Historical “Facts”: How the Wrong Number of Participants in the Leipzig Monday Demonstration on October 9, 1989 Became a Convention.

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