Krieg an deutschen Schulen: Ab sofort wird zurückge”mobbed”

Vor einigen Tagen hat mich Dr. Johannes C. Kerner u.a. auf einen Artikel in der Stuttgarter Zeitung aufmerksam gemacht, der mit “Verhör in der Schule endet beim Kinderarzt” überschrieben war und dem ich die folgenden Absätze entnommen habe:

Interrogation-Room1Es war ein einschneidendes Erlebnis für den zwölfjährigen Leon Berger (Name geändert). Der Gymnasiast wurde ohne Begründung aus dem Unterricht geholt und musste in der Aula eine Stunde alleine warten. Dann kam er in einen fensterlosen Besprechungsraum, wo ihm seine Klassenlehrerin und zwei ihm unbekannte Lehrer sein Sündenregister vorhielten. Mehrfach, erfuhr der Sechstklässler, habe er durch sein Verhalten die Klassengemeinschaft gestört. Mal habe er von „coolen“ und „uncoolen“ Kameraden gesprochen, mal einen Mitschüler wegen dessen Unkenntnis über Markenkleidung beschimpft, mal sämtliche Regeln für den Klassenrat boykottiert. Wenn das nicht besser werde, drohten die Lehrer, müsse er die Klasse wechseln.

Fast vierzig Minuten dauerte das „Verhör“ in der von innen abgeschlossenen Kammer. Dann wurde dem inzwischen weinenden Jungen ein Vertrag vorgelegt, mit dem er sich fortan zum Wohlverhalten gegenüber seinen Mitschülern verpflichten sollte. Bei den von den Vorfällen Betroffenen sei zudem eine Entschuldigung fällig. Zeige sich bei den Verhaltenskontrollen in den nächsten Monaten – sieben Termine dafür waren bereits fixiert – keine Änderung, erfolge die Versetzung in eine andere Klasse und „gegebenenfalls weitere ­Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen“. Nachdem Leon das Papier fünffach unterschrieben hatte, durfte er zurück in den Unterricht und musste bei der Klassenlehrerin noch am gleichen Tag ein Diktat mitschreiben.

Die Situationsbeschreibung erinnert an ein Militärtribunal, aber selbst vor einem Militärtribunal dürfen sich Angeklagte verteidigen, also trifft der Vergleich nicht zu. Die Verhörsituation, die in der Stuttgarter Zeitung beschrieben wurde, findet sich vermutlich eher in totalen Institutionen wie sie der CIA betreibt oder wie sie NKWD und Gestapo betrieben haben. Entsprechend überrascht ist man, wenn sich langsam die Einsicht setzt, classroom authority ]dass die beschriebene Verhörsituation an einem baden-württembergischen Gymnasium stattgefunden hat und dass das Ziel des Verhörs, wie sich im weiteren Verlauf des Beitrags herauskristallisiert, darin bestand, die offensichtlich nicht vorhandene Autorität der Klassenlehrerin über eine schwierige Klasse durch Einschüchterung eines Schülers herzustellen, der von eben dieser Klassenlehrerin als “tonangebend” eingestuft wurde. Der “tonangebende” Junge ist zum “Tatzeitpunkt” 12 Jahre alt gewesen. Die Klassenlehrerin hat es also nicht geschafft, Autorität in einer 6. Klasse, Autorität gegenüber 12jährigen herzustellen. Das an sich mag nicht verwunderlich sein, dass die Autorität aber durch Methoden des “Schüler-Mobbings” hergestellt werden soll, ist verwunderlich. Noch verwunderlicher ist, dass diese Form des Schüler-Mobbings eine, wie das Stuttgarter Regierungspräsidium kund tut, “wissenschaftlich abgesicherte” Methode darstellt, um Mobbing unter Schülern zu bekämpfen und dass diese Form der Bekämpfung des Schüler-Mobbings sogar einen Namen hat: Farsta Methode.

Da es mich schon erstaunt hat, zu hören, dass die beschriebene Farsta Methode wissenschaftlich abgesichert sein soll, habe ich mich auf die Suche gemacht, um die entsprechenden Studien zu finden und auf deren Basis das Ausmaß der “wissenschaftlichen Sicherung” bestimmen zu können. Das Ergebnis ist – wie so oft, wenn Pädagogen in Deutschland einen Hype entwickeln – mehr als ernüchternd. International betrachtet, ist die Farsta-Methode, die aus Schweden kommt und von einem Lehrer names Karl Ljungström entwickelt wurde, ein Exot. Es finden sich kaum wissenschaftliche Publikationen, die sich mit der Methode beschäftigen, und die, die sich finden, haben den folgenden Tenor gemeinsam:

An extensive critique of the Farsta method …, was presented in the Swedish … Teacher’s Journal … with a rebuttal by Ljungström (1994). In spite of these controversies and the lack of scientific evidence of their effectiveness, these methods have been used in many Swedish schools” (Olweus, 1999, S.23, Hervorhebung durch mich).”

Neither the Österholm model, Farsta method or … has been evaluated to my knowledge. Indeed, all forms of empirical study on the violence and bullying problem are something of a rarity in Sweden” (Svensson, 2012, Kindle Version).

“… the Swedish report describes the lack of independent evaluation of the Farsta method …”(Smith, 2004, S.142).

Man kann es als gesichert ansehen, dass es bislang keinerlei empirische Prüfung dahingehend gegeben hat, ob die Farsta Methode zu den gewünschten Ergebnissen, nämlich der Beseitigung von Mobbing unter Schülern führt, und man kann insbesondere davon ausgehen, dass negative Folgen, die die Methode bei den ihr unterzogenen Schülern produzieren könnte, bislang nicht untersucht wurden. Dennoch behauptet das Stuttgarter Regierungspräsidium, die Methode sei wissenschaftlich abgesichert, so dass sich die Frage stellt, wie die dort Verantwortlichen zu dieser den empirischen Tatsachen widersprechenden Einschätzung kommen. Die Antwort, die mir bei solchen Fragen immer einfällt ist: Die entsprechenden Personen haben keine Ahnung, was man unter einer wissenschaftlichen Absicherung versteht und benutzen derartige Begriffe, weil sie ein Buch kennen oder von einem Buch gehört haben, in dem die Farsta Methode beschrieben ist und von dem sie der Ansicht sind, es sei Wissenschaftlich und wenn etwas, wie die Farsta Methode in einem Buch steht, das den Anschein erweckt, es sei wissenschaftlich, dann muss die Methode wissenschaftlich abgesichert sein.

Tatsächlich ist es interessant nachzuvollziehen, wie diese Methode, die außerhalb von Schweden so gut wie unbekannt ist, nach Deutschland gelangt ist. Da die originale Beschreibung der Methode nur in schwedischer Sprache vorliegt, engt sich der Kreis der Verdächtigen auf Personen ein, die das Folgende lesen können (immer vorausgesetzt, das Original spielt für den deutschen Ableger der Farsta Methode eine irgendwie geartete Rolle):

Mobaus KoulussaLjungström, Karl (1990). Mobbaus koulussa. Käsikirja mobbaukesta ja sen selvittämisestä Farsta-menetelmällä. Kauniainen, Finland: Jessica Lerche.

Die wahrscheinlichste Quellen, über die die Farsta Methode nach Deutschland eingesickert ist, sind das Anti-Mobbing Buch von Mustafa Jannan, das im Jahre 2008 bei Beltz in Weinheim erschienen ist und das 2002 beim AOL-Verlag in Lichtenau erschienene Buch “Schülermobbing, tun wir was dagegen” von Horst Kasper. Beide Bücher finden sich als Quelle in den einschlägigen Publikationen, denen insbesondere die Verbreitung dieser bemerkenswerten Methode zu verdanken ist. Am wichtigsten hier dürfte die Berlin-Brandenburger Anti-Mobbing Fibel sein, der eine detaillierte Beschreibung dessen, was in Deutschland als Farsta Methode angekommen ist, entnommen werden kann.

Demnach besteht die Farsta-Methode aus vier Schritten, die damit beginnen, dass mit dem vermeintlichen Mobbing-Opfer gesprochen wird und Informationen über das Mobbing gesammelt werden. Im zweiten Schritt wird ein Lehrertribunal zusammengestellt, das im dritten Schritt den/die Schüler, die/der als “Täter” ermittelt wurden, (nacheinander) aus dem Unterricht holt und mit ihren vermeintlichen Untaten konfrontiert. Der vierte Schritt besteht aus dem Hinweis: “Freuen Sie sich, wenn es geklappt hat und machen Sie im Kollegium Reklame für die Methode!” Doch zurück zu Schritt 3: Das Verhör. Das Verhör des vermeintlichen Täters findet entlang eines vorgegebenen “Gesprächsbogens” statt (siehe Abbildung). Beim Blick auf diesen Gesprächsbogen haben mir insbesondere die folgenden drei Dinge einen kalten Schauer über den Rücken gejagd:

  1. Farsta_GBDer vermeintliche Täter sieht sich einem Tribunal von mehreren Erwachsenen gegenüber und in einer pseudo-Gerichtssituation, die genutzt werden soll, um ihn einzuschüchtern. Autorität wird hergestellt, indem mehrere Erwachsene eine gemeinsam Druck ausüben.
  2. Die gemeinsame Autorität wird verbal unmissverständlich und explizit ohne die Gelegenheit des vermeintlichen Täters, sich zu verteidigen, ausgeübt. Es erfolgt ein Willens-Diktat, dem sich der einzelne Schüler zu unterwerfen hat. Er ist völlig machtlos, unterlegen und kann sich gegen die Erwachsenen, die auf ihn einreden, nicht wehren.
  3. Nachdem sich der vermeintliche Täter bereit erklärt hat, schriftlich Besserung zu erklären, wird ihm bekannt gemacht, dass er für die nächsten Wochen unter Beobachtung stehen wird.

Hier findet sich Freiheitsberaubung, es findet sich eine explizite Degradierungsstrategie, es finden sich Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte des vermeintlichen Täters, die man nicht anders als als Entmündigung bezeichnen kann. Hinzu kommt, dass die gesamte Anklage, die gegen den vermeintlichen Täter erhoben wird, auf den Recherchen des Lehrertribunals und den Aussagen des vermeintlichen Opfers basieren. Da dem vermeintlichen Täter keinerlei Gelegenheit gegeben wird, zu den Vorwürfen anders als durch ein Geständnis Stellung zu nehmen, kann eine Falschbeschuldigung im Rahmen der Farsta-Methode nicht entdeckt werden, eine Tatsache, der mit einem lapidaren Satz im Gesprächsbogen Rechnung getragen wird: “Wenn du es (den Vorwurf nennen) nicht getan/gesagt hast, erwarten wir, dass du es “weiterhin” nicht tust” – auch eine Methode, sich dieser lästigen Angewohnheit, die Unschuld bis zum Beweis des Gegenteils zu vermuten, zu entledigen.

Um diese Form der Freiheitsberaubung und des Eingriffes in die Persönlichkeitsrechte von Schülern richtig würdigen zu können, muss man wissen, dass es sich bei dem, was hier unter Mobbing verstanden wird, nicht etwa um handgreifliche Auseinandersetzungen handelt, sondern um verbale Auseinandersetzungen, die in einer Umfrage im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung u.a. wie folgt erhoben werden:

  • Ich wurde beleidigt.
  • Ich wurde beschimpft.
  • Ich wurde ausgelacht oder nachgemacht.
  • Ich wurde zu Unrecht wiederholt kritisiert.
  • Ich wurde mit Worten bedroht.
  • Mitschüler … haben sich über etwas Persönliches (Nase, Frisur, Kleidung, Herkunft, Körperformen) lustig gemacht.
  • Mitschüler … haben Gerüchte und Unwahrheiten über mich erzählt.
  • Mitschüler … haben mich ständig unterbrochen oder haben mich daran gehindert, anderen etwas mitzuteilen.

Dieser Operationalisierung unterliegt eine Definition dessen, was “Mobbing” sein soll, die Leymann (1993, S.21) wie folgt gegeben hat:

“Der Begriff Mobbing beschreibt negative kommunikative Handlungen, die gegen eine Person gerichtet sind (von einer oder mehreren anderen) und die sehr oft und über einen längeren Zeitraum hinaus vorkommen, und damit die Beziehung zwischen Täter und Opfer kennzeichnen”.

Zuechtigung SchuleWir haben es also mit verbalen Auseinandersetzungen zu tun. Um diese verbalen Auseinandersetzungen zu unterbinden und nicht zuletzt, wie das in der Stuttgarter Zeitung beschriebene Beispiel zeigt, um die nicht vorhandene Autorität einer Klassenlehrerin herzustellen, wird die Farsta-Methode angewendet, werden Schüler von einem Lehrertribunal gemobbed. Denn, wie die Bundeszentrale für Politische Bildung schreibt, liegt Mobbing dann vor, wenn infolge verbaler Gewalt Schüler zu Schaden kommen, “wobei die psychischen Schäden bei den Opfern sehr erheblich sein können”. Der dem Farsta Tribunal unterzogene Junge ist während des Verhörs in Tränen ausgebrochen, bekam von seinem Kinderarzt einen psychischen Ausnahmezustand bescheinigt, hatte Schlafstörungen, Angst vor der Schule. Angesichts dieser Folgen, muss man die Farsta-Methode nach den offiziellen Kriterien, wie sie z.B. die Bundeszentrale für politische Bildung darlegt, als Mobbing-Methode und die Lehrer, die sie anwenden, als Mobber bezeichnen.

Diese neueste Entwicklung, die Lehrer in ihrer Verzweiflung über ihre eigene Unfähigkeit, Ordnung an ihren Schulen oder in ihren Klassen herzustellen, zu drastischen Maßnahmen greifen sieht, die Mobbing von Schülern durch Lehrer zur angeblich “wissenschaftlich abgesicherten” Methode werden sieht, wirft ein eher erschreckendes Bild auf die Zustände in deutschen Schulen und zeigt, dass die Untersuchung der Gewalt an Schulen, die sich nur auf Schüler konzentriert, viel zu kurz greift. Es wird Zeit, die von Lehrer-Tribunalen ausgehende Gewalt zu untersuchen, wobei sich jedoch die Frage stellt, ob eine derartige wissenschafliche Untersuchung durch die Schulbehörde unterstützt und genehmigt würde. Daran habe ich erhebliche Zweifel.

Literatur

Leymann, Heinz (1993). Mobbing. Psychoterror am Arbeitsplatz und wie man sich dagegen wehren kann. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt.

Olweus, Dan (1999). Sweden. In: Smith, P.K., Morita, Y. Janger-Tas, J., Olweus, D., Catalaner, R. & Slee, P. (eds.). The Nature of School Bullying. A Cross-National Perspective. London: Routledge, pp.7-27.

Smith, Peter K. (2004). Violence in Schools. A European Perspective. In: OECD (ed.). Lessons in Danger: School Safety and Security. Paris: OECD, pp.136-146.

Svensson, Robert (2012). Tackling Violence in Schools: A Report from Sweden. In: Smith, Peter K. (ed.). Violence in Schools – the Response in Europe. Abingdon: Routledge (Kindle Version).

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