Nichts als “schöne” Worte: Soziale Gerechtigkeit und die sozialdemokratische Funktionärs-Mittelschicht

Parteipolitik ist in weiten Bereichen ein Sprachspiel, bei dem es, in den Worten von Anthony Downs, darum geht, Ideologien in ansprechender sprachlicher Verpackung und in der Weise, wie man Waschpulver an den economic theory demoKäufer bringt, an Wähler zu verkaufen. Es gewinnt die Partei, der es am besten gelingt, die sprachlich-affektiven Erwartungen von Wählern zu erfüllen (wobei man angesichts der Dominanz, wie sie z.B. die SPD als Medienkonzern über die öffentliche Meinung ausübt, besser davon sprechen sollte, dass Parteien über die von ihnen besetzten Begriffe die Erwartungen erfüllen, die sie zuvor erst erweckt haben). Es geht also nicht um den Inhalt, sondern um die sprachliche Verpackung. Als besonders erfolgreiche Verpackung eines Inhalts, der sich bislang jedem Versuch näherer Bestimmung entzogen hat, hat sich “soziale Gerechtigkeiterwiesen. Soziale Gerechtigkeit ist gleich doppelt gut, da sozial und gerecht. Was genau das bedeutet, weiß niemand so richtig, es ist wie bei Winnie-the-Pooh:

When I first heard his name, I said, just as you are going to say, “But, I thought he was a boy?” “So did I,” said Christopher Robin. “Then you can’t call him Winnie?” “I don’t” “But you said -” “He’s Winnie-ther-Pooh. Don’t you know what ‘ther‘ means?” “Ah, yes, now I do”, I said quickly, and I hope you do too, because it is all the explanation you are going to get”.

Winnie the PoohSo verhält es es sich mit sozialer Gerechtigkeit. Soziale Gerechtigkeit ist gut, erstrebenswert, wichtig, eigentlich sehr gut und noch besser, sehr wichtig und noch viel wichtiger, das, was es zu erreichen gilt, das Ziel guter Politik eben, weil gerecht und sozial und so, and this is all the explanation you are going to get. Deshalb setzt die SPD “im Bundestagswahlkampf auf soziale Gerechtigkeit. Die SPD, das ist die ehemalige Arbeiterparei, die in den siebziger Jahren nicht nur in Frankfurt eine merkliche Transformation durchlebt hat, denn damals “strömten Angehörige der akademischen Mittelschicht in die Partei ein” (Schacht, 2008, S.364). Und das war dann das Ende der SPD als Arbeiterpartei. Geblieben sind Reminiszenzen wie die folgende aus dem Programmentwurf für die kommende Bundestagswahl:

“Die Frage von sozialer Gerechtigkeit und gleicher Rechte ist heute und in Zukunft genauso aktuell wie immer wieder in den vergangenen 150 Jahren. Ohne die SPD sähe unser Land anders und ärmer aus, gäbe es keinen Acht-Stunden-Tag, keine Arbeitnehmerrechte, keine Arbeitsschutzgesetzgebung und keine Sozialstaatlichkeit in unserer Verfassung. Der Kampf um soziale Gerechtigkeit bleibt daher eine Daueraufgabe (S.4)”.

Ich will nur nebenbei bemerken, dass mir die Formulierung “genauso aktuell wie immer wieder in den vergangenen 150 Jahren” etwas schief zu sein scheint, aber vermutlich bin ich nur altmodisch und vermisse hier mindestens ein Hilfsverb im Perfekt. Ansonsten will ich feststellen, dass die Errungenschaften, die die SPD mit dem guten Begriff “soziale Gerechtigkeit” in Verbindung bringt, allesamt auf Arbeiter bezogen sind. Soziale Gerechtigkeit hatte somit zumindest in der Vergangenheit etwas mit Arbeitern zu tun. Aktuell hat sie das nicht mehr, wie eine Kontextanalyse der Verwendung “sozialer Gerechtigkeit” im Programmentwurf der SPD zeigt. Insgesamt kommt soziale Gerechtigkeit 13 Mal auf den rund 100 Seiten des Programmentwurfs vor, und zwar wie folgt:

  1. Zweimal in Verbindung mit der Geschichte der SPD (siehe oben)
  2. Zweimal in Verbindung mit sozialer Marktwirtschaft (S.9 und 22)
  3. Einmal in Verbindung mit wirtschaftlichem Erfolg (S.23)
  4. Einmal in Verbindung mit dem Bildungssystem (S.39)
  5. Einmal in Verbindung mit Steuerpolitik (S.58)
  6. Einmal in Verbindung mit der Forderung nach einem Mindeslohn (S.59)
  7. Einmal in Verbindung mit sozialer Stadtentwicklung (S.75)
  8. Einmal in Verbindung mit Umweltschutz (S.79)
  9. Einmal in Verbindung mit Europa (S.89)
  10. Einmal in Verbindung mit Entwicklungspolitik (S.99)
  11. Einmal in Verbindung mit “umfassender Frieden” (S.101)

Ich denke, angesichts dieser Verbindungen, die der Begriff “soziale Gerechtigkeit” im Programmenturf der SPD eingeht, ist es fair festzustellen, dass soziale Gerechtigkeit für die SPD soziale-gerechtigkeit1210von heute so gut wie nichts mehr mit Arbeitern und ihren Rechten zu tun hat. Die SPD, so könnte man formulieren, hat als Arbeiterpartei abgedankt und kümmert sich nurmehr und ausschließlich um die Bedürfnisse der Mittelschicht. Dies ist nicht weiter verwunderlich, entstammen doch die meisten der SPD-Funktionäre eben dieser Mittelschicht, der Themen wie Europa und Umweltpolitik und Neid auf die, denen es vermeintlich besser geht, näher liegen als Themen der Arbeiterklasse, deren Fahne die SPD immer noch zu tragen für sich beansprucht. Dies wird an nichts so deutlich wie daran, dass der Begriff, aus dem sich alle positiven Affekte, die man mit der SPD verbinden kann, ableiten lassen, die “soziale Gerechtigkeit”, im Kapitel, das mit “soziale Sicherheit und Vorsorge” überschrieben ist, schlicht nicht vorkommt. Soziale Gerechtigkeit hat demnach nichts mit “Gesundheit und Pflege”, nichts mit “Arbeit und Rente” und nichts mit “Menschen mit und ohne Behinderung” zu tun.

Die SPD hat nicht nur nichts mehr mit Arbeitern zu tun, sie ist auch weit davon entfernt, für (soziale) Gerechtigkeit einzutreten. Auch dies ist nicht weiter verwunderlich, denn Gerechtigkeit ist ein sperriges Konzept, das sich mit Prozentrechnung vergleichen lässt. Um Gerechtigkeit oder Prozente zu bestimmen, benötigt man eine Basis. Gerechtigkeit ist ein zweistelliger Funktor, denn es kann Gerechtigkeit immer nur im Hinblick auf eine Relation geben, also z.B. auf die Relation zwischen dem Aufwand, den man für etwas betreibt, und dem Nutzen, den man von seinem Aufwand hat. Im Englischen wird diese Relation auch als Equity-Prinzip bezeichnet. Es besagt schlicht, dass die Auszahlung die X für seinen Aufwand erhält, proportional zur Nützlichkeit seines Aufwands und proportional zu Nützlichkeit, Aufwand und Auszahlung von Y sein soll. 

Wäre die SPD also an sozialer Gerechtigkeit interessiert, wie sie vorgibt, dann würde Sie Fragen stellen wie: Ist die Höhe des Gehalts eines Bundestagsabgeordneten gemessen am Nutzen, den ein Bundestagsabgeordneter produziert, im Vergleich zum Lohn eines Kanalarbeiters und dem Nutzen, den er produziert, zu rechtfertigen? Wäre die SPD nicht nur an sozialer Gerechtigkeit, sondern auch an Arbeitern interessiert, sie würde die Frage “sozialer Gerechtigkeit” ganz sicher unter der Überschrift “Gute Rente” diskutieren, z.B. im Zusammenhang mit der Frage von Lebenserwartung und etwa in der folgenden Weise:

Es ist zwar nach wie vor ein Thema, das nur wenige Sozialwissenschaftler interessiert, aber es gibt mittlerweile eine Reihe von Untersuchungen, die zeigen, dass die Lebenserwartung nach sozialen Klassen variiert. Arbeiter sterben im Durchschnitt (deutlich) früher als Angestellte oder Beamte. Dies lässt sich mit Untersuchungen auf der Basis des SOEP belegen, wie sie Voges und Groh-Samberg (2011), Klein (1999, 1993) oder Hoffmann (2008) durchgeführt haben. So kommt z.B. Thomas Klein in einer interessanten Analyse, die er anscheinend noch unbelastet von strategischen Karrierekalkülen durchgeführt hat, zu folgendem Ergebnis:

“Dabei ist die aktive Lebenserwartung [das ist die Lebenszeit, die ohne schwere Krankheit und Pflegebedürftigkeit verbracht wird] von verheirateten Männern nicht größer als die von Unverheirateten, während verheiratete Frauen auch in bezug auf die aktive Lebenserwartung von der Ehe profitieren. Auch der vergleichsweise geringe Wohlstandseffekt kommt tendenziell Frauen zugute, während Männer auch unter den mit dem Wohlstand verbundenen Arbeitsbelastungen leiden. Lediglich der Bildungseffekt macht sich – wohl wegen der mit dem Bildungsniveau verknüpften Arbeitsbedingungen – bei Männern etwas stärker bemerkbar” (Klein, 1999, S.462, meine Hervorhebung).

Lebenserwartung durchEs ist bekannt, dass heute geborene Jungen eine um mehr als fünf Jahre geringere Lebenserwartung haben als Mädchen. Für einen heute 60jährigen Mann ist die noch-Lebensdauer, die er erwarten kann, um gut vier Jahre geringer als die einer 60jährigen Frau. Ein Arbeiterleben beginnt in der Regel mit 16 Jahren und der Lehre und endet in der Regel mit 60 oder 65 Jahren in der Rente. Ein Beamter tritt seinenen Dienst nach dem Studium und im Alter von 25 bis 30 Jahren an und geht mit 60 oder 65 in Pension. Verglichen mit Beamten zahlen Arbeiter im Durchschnitt über einen längeren Zeitraum Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung. Wegen ihrer höheren Mortalität ist die Dauer des Rentenbezugs von Arbeitern im Durschnitt aber deutlich kürzer als bei Beamten. Männliche Arbeiter sind die Leidtragenden. Sie haben im Durchschnitt am längsten in die Rentenkasse eingezahlt. Sie beziehen aufgrund  ihrer durchschnittlichen Lebenserwartung und verglichen mit Angestellten, Beamten und Frauen Rente für einen deutlich kürzeren Zeitraum. Da die Höhe der Rente an die Höhe der Beiträge gekoppelt ist, bedeutet dies, dass Arbeiter im Durchschnitt gesehen, weniger von den Beiträgen haben, die sie in die Rentenversicherung einzahlen, als z.B. Beamte (Dies ist kein Argument für eine Basisrente oder eine gleiche Rente für alle, da beide Formen von Rente das Fairnessprinzip verletzen.).

Ginge es der SPD um “soziale Gerechtigkeit” im Sinne eines fairen Rentensystems, die SPD würde fordern, dass die Rentenhöhe mit der verbleibenden durchschnittlichen Lebenserwartung verrechnet wird. Sie würde entsprechend z.B. fordern, dass männliche Arbeiter nach dem Erreichen des Rentenalters eine Rente erhalten, die mindestens 150% über dem Rentenanspruch liegt, den sie über die Jahre ihrer Erwerbstätigkeit erwirtschaftet haben, um auf diese Weise die entsprechenden Arbeiter für die kürzere Zeit, in der sie eine Rente beziehen, zu entschädigen. Auf diese Weise wäre sichergestellt, dass nicht Arbeiter über Jahrzehnte die Rente finanzieren, in deren Genuss alle außer ihnen kommen.

Aber derartige Fragen der Gerechtigkeit interessieren die SPD derzeit nicht. Die ehemalige Arbeiterpartei ist mit Erziehungszeiten, Umweltschutz und Europa beschäftigt und hat die Klientel, in deren Namen sie immer noch zu handeln vorgibt, vergessen.

Literatur

Hoffmann, Rasmus (2008). Socioeconomic Differences in Old Age Mortality. Berlin: Springer.

Klein, Thomas (1999). Soziale Determinanten der aktiven Lebenserwartung. Zeitschrift für Soziologie 28(6): 448-464.

Klein, Thomas (1993). Soziale Determinanten der Lebenserwartung. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 45(4): 712-730.

Schacht, Konrad (2008). Ist Frankfurt eine CDU Hochburg? In: Schroeder, Wolfgang (Hrsg.). Parteien und Parteiensystem in Hessen. Vom Vier- zum Fünfparteiensystem? Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften, S.361-370.

Voges, Wolfgang & Groh-Samberg, Olaf (2011). Der Einfluss von Einkommenslage und Lebenslage auf das Mortalitätsrisiko.

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