Masters of Contradiction: Warum risikofreudige Politiker gut und schlecht für die Demokratie sind

“Sind Politiker risikofreudiger als das Volk?” Diese Frage haben sich Moritz Heß, Christian van Scheve, Jürgen Schupp und Gert G. Wagner gestellt, und sie haben die Frage auch beantwortet. Mit “Ja”, doch dazu später mehr.

Die Frage, so die vier Autoren, sei aus mehreren Gründen eine interessante Frage: Zum einen wolle man als Bürger gerne wissen, wie risikofreudig die Gesellen da sind, die zugriff auf Steuergelder haben. Zum anderen sei es für “das Funktionssystem der Politik, insbesondere in repräsentativen Demokratien, … grundsätzlich gut zu wissen, über welche entscheidungsrelevanten individuellen Merkmale … Politiker verfügen und ob sich diese Merkmale bzw. Kombinationen von Merkmalen systematisch von denen der repräsentierten und vertretenen Bevölkerung unterscheiden” (3). Kurz und in Deutsch: Ist die Menge der Zocker unter Politikern mit der Menge risikofreudiger Bürger, die sie repräsentieren wollen oder sollen, identisch oder gibt es mehr (oder weniger) Zocker unter den Politikern als in der Bevölkerung.

nicht oeffentlich1Um diese Frage zu prüfen mussten die vier Autoren aus Mannheim und Berlin eines der größten Probleme der Sozialforschung lösen, das sich einem empirisch tätigen Sozialforscher stellen kann: Eine Auskunft von deutschen Politikern erhalten. Seltsamerweise sind deutsche Politiker, die sich in Medien immer gesprächig geben, zumeist spachlos, wenn es darum geht, empirischen Sozialforschern eine Auskunft zu geben. Also haben die vier Sozialforscher alle Hebel in Bewegung gesetzt, die gemeinhin das Ergebnis einer, in diesem Fall schriftlichen Befragung, positiv beeinflussen. Das Ergebnis einer schriftlichen Befragung wird am Rücklauf gemessen, am Anteil der Fragebögen, die auch ausgefüllt zurückgeschickt werden. Und damit auch möglichst viele der scheuen Volksvertreter im Bundestag einen ausgefüllten Fragebogen zurückschicken, wurde nicht nur per Email jedem der Volksvertreter seine imminente Befragung angedroht, nein, dem Fragebogen wurde auch ein bereits frankierter Rückumschlag beigegeben. Ein personalisiertes Anschreiben sicherte den Abgeordneten  Anonymität zu und sicherte – doppelt gemoppelt hält besser – auch die Einhaltung des Datenschutzes zu. Weil die vier Sozialforscher dennoch nicht viel auf die Antwortmoral von Bundestagsabgeordneten gehalten haben, haben sie zudem versprochen, dass für jeden ausgefüllt zurückgeschickten Fragebogen “fünf Euro an die Deutsche Kinderkrebsstiftung der Deutschen Leukämie-Forschungshilfe” gespendet werden. Da die Befragung in einer Sitzungswoche zwischen dem dritten und dem vierten Advent 2012 stattfand, versprachen sich die vier Sozialforscher eine Rücklaufquote wie sie die deutsche Sozialforschungswelt noch nicht gesehen hat.

Aber, alle Weihnachstvorfreude, alle Bilder von leuchtenden Kinderaugen bei der Leukämie-Forschungshilfe haben die Mehrzahl der deutschen Bundestagsabgeordneten nicht erweichen können. Von 3.100 Euro möglichen Spendengeldern bei Rücklauf aller 620 verschickten Fragebögen, konnten lediglich 875 Euro  gespendet werden, da nur 175 Abgeordnete sich erweichen ließen, die Fragen der Sozialforscher zu beantworten. Mit einer Rücklaufquote von 28,2 % ist die Befragung somit unter dem, was bei schriftlichen Umfragen normal ist, was belegt, dass Bundestagsabgeordnete, wenn sie die Wahl zwischen dem Verweigern von Antworten und dem Spenden für die Deutsche Kinderkrebsstiftung haben, mehrheitlich das Verweigern von Antworten wählen.

Die 175 Abgeordneten, die sich zu einer Antwort herabließen, wurden u.a. die folgenden Fragen gefragt:

RisikoDIW

Ich bin mir ehrlich gesagt nicht so ganz im Klaren darüber, was man mißt, wenn man Befragte fragt, wie risikobereit sie im Allgemeinen sind und wenn man sie bittet, die Frage auf einer 10-stufigen Skala zu beantworten. Ich meine, Risiko ist eine Eigenschaft von Situationen und Entscheidungen, kein allgemein vorhandener Gegenstand (sofern man nicht denkt, man sei ständig in Gefahr, von einem Ufo erschlagen zu werden, was bereits die bloße Existenz zu einem allgemeinen Risiko machen würde). Aber gut, gehen wir davon aus, man kann mit der “allgemeinen Risikobereitschaft” irgend etwas Sinnvolles, z.B. eine Disposition zum Eingehen eines Risikos messen, die sich dann auch in konkreten Situationen entsprechend niederschlägt.

Aber das müssen wir gar nicht annehmen, denn die Autoren trauen ihrer allgemeinen Risikobereitschaft offensichtlich auch nicht so ganz, denn sie fragen auch die Risikobereitschaft in spezifischen Zusammenhängen, z.B. beim Autofahren und bei der Gesundheit und beim Vertrauen in fremde Menschen. Ich habe ein generelles Problem mit solchen Fragen, denn sie sind aus meiner Sicht viel zu allgemein gestellt. Für den unsicheren Autofahrer ist es vielleicht schon ein Risiko, wenn er auf der Autobahn mehr als 80 Stundenkilometer fährt, aber da er gerade 81,5 Stundenkilometer schnell war und noch völlig im Rausch der Geschwindigkeit ist, gibt er seine Risikobereitschaft im Straßenverkehr mit 7 an und den selben Wert hat auch der BMW-Fahrer gegeben, der sich nichts Schöneres vorstellen kann als seinem Fordermann auf der Autobahn und bei Tempo 150 in den Kofferraum zu kriechen.

Ich denke, der Punkt ist klar, die Annahme, dass Befragte, die dieselben Werte der Risikobereitschaft auf der Skala wählen, eine äquivalente Risikosituation im Hinterkopf haben, wenn sie ihre Wahl treffen, ist äußerst fragwürdig, so dass man sich abermals fragen müsste, was da eigentlich gemessen wird. Aber, hier ist kein Methodenkurs, und deshalb kommt jetzt was gemessen wurde. Die folgende Abbildung stellt die Mittelwerte für die 175 Bundestagsabgeordneten, den entsprechenden Mittelwerten von rund 17.000 im SOEP Befragten und rund 1.000 im SOEP befragten Selbständigen gegenüber. Warum Selbständige? Warum nicht?

RisikoDIW2

riskbathingWie die Abbildung zeigt, schätzen Bundestagsabgeordnete ihre Risikobereitschaft durchweg höher ein als ein repräsentativer Durchschnitt der Bevölkerung. Insbesondere sind Bundestagsabgeordnete im Hinblick auf ihre Karriere, ihre Gesundheit, Sport und Freizeit sowie im Vertrauen gegenüber anderen risikobereiter als der durchschnittliche Deutsche. Spätestens hier habe ich gedacht, dass es unter Bundestagsabgeordneten ein anderes Verständnis von Risikobereitschaft geben muss als unter der Normalbevölkerung, denn wo bei der Karriere als Politiker das Risiko zu finden sein soll, ist eine Frage, die angesichts der mit dieser “Karriere” einhergehenden nicht vorhandenen Anforderungen (an die Ausbildung zum Beispiel) bei gleichzeitigen üppigen Rentenregelungen eher nicht mit Bezug auf Risiko beantwortet werden kann. Aber lassen wir das. Sehen wir lieber was unsere vier Sozialforscher aus diesem Ergebnis machen. Erstaunliches:

“Eine positive Beurteilung der gefundenen Risikoeinstellungen beruht auf der Einsicht, dass es die Politik oft mit unübersichtlichen und schwer zu entscheidenden Situationen zu tun hat. Politik ist geradezu durch Unübersichtlichkeit und “kniffelige” Probleme definiert. Insofern ist eine überdurchschnittlich risikofreudige Einstellung von … Berufspolitikern gesellschaftlich nützlich, da anderfalls wichtige Entscheidungen angesichts ständig vorhandener und kaum überschaubarer Risiken überhaupt nicht mehr getroffen würden … Diese Pesepektive lässt sich auch mit evolutionstheoretischen Argumenten untermauern, denen zufolge die Risikofreude politischer Eliten Gemeinwohl fördernd ist …” (22-23)

Aber:

“Genau an dieser Stelle sind demokratisch legitimierte sowie rechtsstaatlich verfasste Gesellschaften und politische Systeme äußerst wertvoll. Demokratien begrenzen Macht und die individuelle Risikofreude … Die strukturellen Besonderheiten demokratischer politischer Systeme … dass wichtige politische Entscheidungen in der Regel kollektiv getroffen … werden, schmälert den Einfluss der individuellen Risikoneigung” (23).

Beckermann LogikWir lernen: Die höhere Risikobereitschaft von Politikern ist gut, um überhaupt Entscheidungen zu treffen und sie hat sich evolutorisch durchgesetzt. In Deutsch: Die höhere Risikofreude macht Bundestagsabgeordnete uns Normalsterblichen gegenüber überlegen. Dem risikofreudigen Politiker gehört die Zukunft: Seine Gene werden sich durchsetzen. Aber, so lernen wir noch auf der selben Seite, die höhere Risikobereitschaft von Politikern ist gar nicht gut, denn sie muss durch die “strukturellen Besonderheiten demokratischer politischer Systeme” gebändigt werden. Also haben sich die evolutorisch überlegenen risikobereiten Politiker im demokratischen System nicht durchsetzen können, was zwangsläufig bedeutet, dass im demokratischen System keine Entscheidungen, die mit Risiko belastet sind, getroffen werden können, denn dazu benötigt man risikofreudige Politiker, die sich aber im demokratischen System nicht durchsetzen können, was die Frage aufwirft, wie sie evolutorisch überlegen sein können, wenn sie sich nicht durchsetzen können und …

Ja, das Ganze ist halt ein Widerspruch, denn etwas, kann nicht es selbst und etwas anderes sein. Das nennen Logiker den Satz des ausgeschlossenen Dritten, und der gilt auch für die vier Sozialforscher aus Mannheim und Berlin. Sie werden sich also entscheiden müssen: Ist es nun gut, dass Politiker risikofreudiger sind als ihre Bevölkerung oder ist es nicht gut. Falls die vier Sozialforscher hier die Antwort verweigern, können sie ja Politiker werden, die leben auch gut mit Widersprüchen und damit, Antworten zu verweigern.

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