Baby on Board: Welche Motivation steckt dahinter?

von Dr. habil. Heike Diefenbach und Michael Klein

Auf unserem Weg nach Basingstoke wurden wir gestern auf ein Auto mit “Baby on Board”-Aufkleber baby-on-boardaufmerksam. Dass wir darauf aufmerksam wurden, hatte zum einen etwas mit dem Fahrstil zu tun, zum anderen damit, dass die entsprechenden Aufkleber im Vereinigten Königreich eher selten zu finden sind. Was passiert, wenn zwei Sozialwissenschaftler auf einen “Baby on Board”-Aufkleber aufmerksam werden? Sie fragen sich: Was will mir der Fahrer vor mir zu verstehen geben, was will er mir sagen?

Wir haben diese Frage zum Ausgangspunkt genommen, um eine Reihe sozialpsychologischer Theorien nach Erklärungen der zugrunde liegenden Motivation zu durchforsten. Und das Folgende ist dabei herausgekommen:

Gelernte Hilflosigkeit – Locus of Control

Die von Julian Rotter (1954) eingeführte Theorie des “locus of control” beschreibt eine Kontroll-Orientierung, die entweder auf dem Glauben beruht, dass die Ergebnisse unserer Handlungen durch externe Ereignisse determiniert werden (externer locus of control) oder dass die Ergebnisse eigener Handlungen in der Macht des Handelnden liegen (interner locus of control). Kurz: Menschliche Handlungen sind nach Rotter entweder durch den Glauben an eine Außenkontrolle motiviert oder sie basieren auf dem Glauben, Herr seiner Handlungen zu sein. Die Verbindung zwischen einem externen locus of control und der gelernten Hilflosigkeit ist offenkundig. Bei gelernter Hilflosigkeit lernt ein Organismus, dass er Belohnungen erhält, wenn er sich als unfähig, bestimmte Handlungen auszuführen, darstellt. Er lernt, von der Rücksicht oder dem Mitleid anderer zu leben (Seligman & Maier, 1967).

Was folgt aus beiden Theorien für die Erklärung des “Baby on Board” – Aufklebers?

Zweierlei: Entweder der Fahrer im entsprechend beklebten Auto will anderen Autofahrern zu verstehen geben, dass er eigentlich nicht in der Lage ist, ein Auto zu fahren und dass, ob er einen Unfall produziert, davon abhängt, ob andere seine Unfähigkeit in Rechnung stellen oder nicht. Oder er will anderen Autofahrern zu verstehen geben, dass er nicht in der Lage ist, für die Sicherheit seines “Baby on Board” zu sorgen, womit die Hoffnung verbunden ist, dass andere es können. Bedeutung in Kurz: Ich bin behindert, oder ich kann nicht aufpassen, aber alle anderen müssen aufpassen.

Soziale Identitätsbildung

TajfelDie von Henri Tajfel (1982) und Jonathan Turner (1987) entwickelte Social Identity Theory geht davon aus, dass Menschen danach streben, Selbstwert zu schaffen und zu erhöhen. Selbstwert hat zwei Komponenten: eine personale Identität und eine soziale Identität. Individuen, bei denen der Selbstwert nicht über eine personale Identität geschaffen werden kann, versuchen, sich eine soziale Identität zuzulegen, von der sie erwarten, dass sie sozial anerkannt ist und deshalb mit sozialem Wert, der in Selbstwert transformiert werden kann, verbunden ist. Je schwächer die personale Identität, desto wichtiger ist es, eine soziale Identität zu bilden, was regelmäßig durch die Betonung einer Gruppenzugehörigkeit und den Ausschluss aller, die ein bestimmtes Merkmal, das die Gruppenzugehörigkeit begründet, nicht teilen, erfolgt.

Was folgt aus dieser Theorie für den “Baby on Board”-Aufkleber?

Der “Baby on Board”-Aufkleber hat einen Signalwert. Er signalisiert  die Gruppenzugehörigkeit des Fahrers des entsprechenden Autos: “Ey, ich bin fertil. Ich gehöre zu Eltern.” Aus seiner Selbstzuordnung zu Eltern und aus seiner Selbstreduzierung auf seine Fertilität versucht der Fahrer soziale Identität und letztlich Selbstwert zu gewinnen, was nur den Schluss zulässt, dass er keine eigene, keine personale Identität ausgebildet hat, die es ihm erlaubt, ohne soziale Gruppenzugehörigkeit einen Selbstwert zu empfinden. Entsprechend wird die Selbstwertfrage auf “das Soziale” verschoben und die Ausbildung einer personalen Identität an die nächste Generation weitergegeben, nach dem Motto: ich habe nichts erreicht, vielleicht erreicht mein Nachwuchs etwas.

Frustrations-Aggressions-Hypothese

Die Frustrations-Aggressions-Hypothese ist eine von fünf Hypothesen, mit denen George C. Homans menschliches Handeln erklären will. Sie besagt: “Wenn die Handlung einer Person nicht die Belohnung erfährt, die die Person erwartet, oder wenn eine unerwartete Bestrafung eintritt, dann wird die Person ärgerlich, es wird wahrscheinlicher, dass sie aggressiv reagiert, und die Resultate solchen Verhaltens werden für die Person wertvoller” (Opp & Wippler, 2002, S.134-135).

Was bedeutet Frustration und Aggression für die Motive hinter dem “Baby on Board”-Aufkleber

FestingerDas schöne an dieser Hypothese ist, dass sie mehrere Verhaltensweisen erklären kann. Sie erklärt die frustrierte Fahrerin des Kleinwagens, die alle hinter ihr durch ihren Fahrstil zur Verzweiflung treiben will, als Rache dafür, dass ihr die soziale Anerkennung versagt bliebt, die nach ihrer Ansicht die monumentale und bewiesene Fähigkeit zur Fortpflanzung hätte mit sich bringen müssen. Die These erklärt auch den Raser im BMW oder im Audi, der die dritte Spur auf der Autobahn besetzt, um jedem zu zeigen, dass ihn Vaterschaft nicht unattraktiv, impotent und in seiner Männlichkeit beschädigt zurückgelassen hat. In beiden Fällen dient der Aufkleber dazu, anderen Fahrern deutlich zu machen, warum die Fahrerin im Kleinwagen, der Fahrer im BMW oder Audi einen Fahrstil pflegen, den man nicht als normal bezeichnen kann oder der zumindest statistisch nicht normal ist.

Die Frustrations-Aggressions-Hypothese lässt sich mit der Theorie kognitiver Dissonanz von Festinger (1957) verbinden, die besagt, dass Individuen dann, wenn Ergebnisse von Handlungen nicht ihren Erwartungen entsprechen, die dabei entstehende kognitive Dissonanz verarbeiten müssen. Eine Möglichkeit, dies zu tun, besteht darin, andere für die enttäuschten Erwartungen bezahlen zu lassen.

Persönlichkeitstheorien – Big Five

Persönlichkeitstheorien gehen im Anschluss an Gordon Allport (1960) davon aus, dass Individuen höchst individuelle Kombinationen von insgesamt fünf verschiedenen Persönlichkeitseigenschaften darstellen. Je nach individueller Lebensgeschichte unterscheiden sich die individuellen Mischung der Persönlichkeitseigenschaften. Die “Big Five” der Persönlichkeitseigenschaften sind: Neurotizismus (ängstlich, empfindlich), Extraversion (gesprächig, gesellig), Offenheit für Erfahrungen (schätzt intellektuelle Angelegenheiten, rebellisch, nicht konformistisch), Liebenswürdigkeit (einfühlsam, warm) und Gewissenhaftigkeit (ethisch, zuverlässig). (McCrae & Costa, 1987).

Welche Persönlichkeitsmerkmale stecken hinter dem “Baby on Board”-Aufkleber?

Five FactorEs scheint am besten zu sein, ein Ausschlussverfahren vorzunehmen und damit zu beginnen, dass Offenheit ausgeschlossen werden kann, denn der Aufkleber hat absolut nichts mit Rebellion oder nicht konformem Verhalten zu tun, sondern mit dem Gegenteil. Gewissenhaftigkeit passt auch nicht, denn Gewissenhaftigkeit ist etwas, was die Personen, die sie haben, als normale Charaktereigenschaft mit sich herumtragen, fast unbewusst, in jedem Fall, werden sie es anderen nicht auf die Nase binden, dass sie gewissenhaft sind, und schließlich weist der Aufkleber auch nicht auf Liebenswürdigkeit hin, denn der Aufkleber ist als Marker gegen andere gerichtet und der Fahrer, der unter dem “Baby on Board”-Label unterwegs ist, hat sich mit Sicherheit keinerlei Gedanken darüber gemacht, was andere von seinem Aufkleber halten (sonst hätte er ihn nicht aufgeklebt). Das lässt Extraversion und Neurotizismus übrig. Neurotizismus schließt am Locus of Control und an der gelernten Hilflosigkeit an und erscheint als Grundlage der Hoffnung, dass andere in der Lage sind, das zu erreichen, was man selbst für sich zu erreichen ausgeschlossen hat: Für die Sicherheit des eigenen Nachwuchses zu sorgen. Insofern kann man davon ausgehen, dass Personen, die gelernt hilflos sind und sich von außen gesteuert begreifen, in höchsten Maße neurotizistisch sind.

Extraversion verbindet sich mit der Frustrations-Aggression-Hypothese und der kognitiven Dissonanz in der Raser-Variante, die wir eher bei männlichen Frustrierten erwarten. Entsprechend geht es ihnen darum, sich vom Aufkleber durch Rasen zu distanzieren. Einserseits haben die entsprechenden Personen nicht den Mut, den Aufkleber, den ihr Partner angebracht hat, zu entfernen, andererseits haben sie das Bedürfnis, ihre Dissonanz (z.B.: ich bin zwar Vater, aber immer noch Mann) zu beseitigen und dies auch anderen gegenüber deutlich zu machen. Das entsprechende Verhalten ist im Einklang mit den Erwartungen an einen frustriert-aggressiven Extrovertierten, und es bestätigt sich auch hier, dass Persönlichkeitscharakteristika wie Offenheit, Liebenswürdigkeit und Gewissenhaftigkeit bei denjenigen, die mit einem “Baby on Board”-Aufkleber unterwegs sind, nicht zu erwarten sind.

Soweit unsere Bestandsaufnahme der Motivation, einen “Baby on Board”-Aufkleber anzubringen. Wir haben sicher nicht alle Motive, die man aus sozialpsychologischen Theorien ableiten kann, abgedeckt. Wer noch ein paar Motive ableiten will, ist dazu herzlich eingeladen.

Literatur
Allport, Gordon W. (1960). Personality and Social Encounter. Berkeley: Beacon Press.

McCrae, Robert R., Costa, Paul T. & Busch, Catherine M. (1987). Evaluating Comprehensiveness in Personality Systems: The Californian Q-Set and the Five Factor Model. Journal of Personality 54(2): 430-446.

Festinger, Leon  (1957). A Theory of Cognitive Dissonance. Stanford: Stanford University Press.

Opp, Karl-Dieter & Wippler, Reinhard (2002). George Caspar Homans. In: Käsler, Dirk (Hrsg.). Klassiker der Soziologie. Von Talcott Parsons bis Pierre Bourdieu. München: Beck, S.130-151.

Rotter, Julian B. (1954). Social Learning and Clinical Psychology. Englewood-Cliffs: Prentice-Hall.

Seligman, Martin E. P. & Maier, Steven F.  (1967). Failure to Escape Traumatic Shock. Journal of Experimental Psychology 74)1=: 1-9.

Tajfel, Henri (1982)(ed.). Social Identity and Intergroup Relations. London: Cambrigde University Press.

Turner, Jonathan (1987). Rediscovering the Social Group: A Self-Categorization Theory. Oxford: Basil Blackwell.

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