Da braut sich was zusammen: US-Psychiater wollen endlich verlässliche Diagnosekriterien

Wer derzeit mit einer psychischen Störung diagnostiziert wird, der wird dies in den USA auf Grundlage der Diagnosekriterien wie sie im noch aktuellen DSM IV, dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorder, und in Europa auf der Grundlage von ICD-10, der International Classification of Diseases (ICD) festgelegt sind.

ADHS_ICD10Mit beiden Klassifikationssystemen verbinden sich erhebliche Probleme: Die Diagnosekriterien sind subjektiv und weich, die auf íhrer Grundlage erstellten Diagnosen oft nicht verlässlich und zuweilen schlicht falsch. Die subjektiven und weichen Kriterien, die von Psychiatern genutzt werden und die aufgrund ihrer Beliebigkeit jedem Wissenschaftler den Schweiß auf die Stirn treiben, sind über die letzten Jahre unter erhebliche Kritik geraten. Die Anzahl der Diagnosen von z.B. psychischen Störungen, von Demenz oder ADHS ist stetig gestiegen, der Verdacht, dass hier eine Pathologisierung normaler Verhaltensweise durch Psychiater und Hersteller von Psychopharmaka erfolgt, wird immer häufiger und immer lauter geäußert (Die Abbildung zeigt die Kriterien, die zur Diagnose von ADHS nach ICD-10 herangezogen werden: Es ist nicht weiter schwierig, mit ADHS diagnostiziert zu werden.).

Vor allem in den USA regt sich Widerstand, sind Psychiater bemüht, ihre Diagnosen nicht auf Willkür zu basieren. Thomas Insel, der Direktor des US-National Institut of Mental Health (NIMH) hat nun in einem Blogpost eine Bombe platzen lassen, deren Druckwellen vermutlich bis Europa zu spüren sein werden. Kurz vor der Veröffentlichung des neuen DSM V hat er den Entschluss seines Instituts mitgeteilt, aus dem DSM auszusteigen und Projekte zu fördern, deren Ziel darin besteht, objektive Kriterien zur Bestimmung von Verhaltens- und psychischen Störungen aufzustellen.

dr-insel-2011Man könne nicht länger, so sagt Insel, ein Diagnosesystem benutzen, das so unzuverlässig sei, wie das DSM. Die Qualität der Kriterien, die zum Beispiel zur Diagnose einer Borderlinestörung herangezogen würden, entsprächen einer Krankheitsdiagnose, die auf der Qualität von Fieber basiere:

“The weakness is its lack of validity. Unlike our definitions of ischemic heart disease, lymphoma, or AIDS, the DSM diagnosis are based on a consensus about clusters of clinical symptoms, not any objective laboratory measure. In the rest of medicine, this would be equivalent to creating diagnostic systems based on the nature of chest pain or quality of fever”.

Deshalb ist das NIMH, das größte Institute zur Erforschung psychischer Störungen nicht nur in den USA, sondern weltweit vom DSM abgerückt. Deshalb hat Insel angekündigt nur noch Forschung zu finanzieren, die es langfristig erlaube, die schwammigen Diagnosekriterien des DSM in den Mülleimer zu werfen und durch objektive Kriterien, z.B. biologische Marker, zu ersetzen.

Unmittelbar bevor die American Psychiatric Association das überarbeitete DSM V veröffentlicht, ist damit bereits klar, dass das Diagnosesystem keine Zukunft haben wird. Vor diesem Hintergrund wird es interessant sein, zu sehen, wie die Hüter der Kriterien zur Bestimmung psychischer Störungen und von Altersstörungen, die im Genfer Hauptquartier der WHO sitzen, auf die Nachricht aus den USA reagieren.

who-logo-enDie ICD-Kriterien zur Bestimmung psychischer Störungen und von Verhaltensstörungen sind in keiner Weise objektiver oder weniger schwammig als die Kriterien im DSM. Die Kritik von Insel trifft die europäischen Diagnosekriterien somit in gleicher Weise. Ob die WHO jedoch bereit ist, sich auf die Erforschung objektiver oder doch zumindest objektivierbarer Kriterien einzulassen, ist eine offene Frage. Die WHO lebt eher davon, Hysterie und Panikmeldungen über die weite Verbreitung der verschiedensten Krankheiten und Störungen, von ICD10Schweinegrippe bis Alzheimer und Demenz zu verbreiten und wird sich entsprechend schwer damit tun, ihre Konstruktion der Verbreitung von Krankheiten auf objektive oder objektivierbare Kriterien zu stellen. Schließlich wird die WHO von nationalen Regierungen finanziert, und die Finanzierung ist immer einfacher, wenn man die Dringlichkeit und Notwendigkeit der eigenen Anstrengungen massiv übertreibt – dass dabei vermutlich eine große Anzahl, in diesem Fall mit einer nicht vorhandenen psychischen Störung Fehldiagnostizierter auf der Strecke bleiben, ist ein Kollateralschaden, der im Hinblick auf das Ziel, die Existenz und das Wachstum der eigenen Organisation zu sichern, wohl in Kauf genommen wird.

Weitere ScienceFiles-Texte zu den Problemen, die sich mit den Kriteriensystemen zur Klassifikation von psychischen Störungen verbinden:

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