ScienceFiles-News: Bewusste Wahrnehmung muss sich erst entwickeln

Die meisten Philosophen stimmen darin überein, dass die bewusste und willentliche Steuerung des eigenen Lebens eine Eigenschaft ist, die den Mensch zum Menschen macht. Für Kant ist die Entwicklung einer moralischen Urteilfähigkeit der Schritt, der den Mensch zum Menschen macht. Hobbes, der etwas weniger mit “Moral”, dafür mehr mit Vernunft beschäftigt ist, sieht willentliches Handeln, also das, was einen Menschen erst konstituiert, als Ergebnis eines Denkprozesses:

“Wille ist deshalb die Neigung, die beim Überlegen am Schluss überwiegt (Hobbes, 1984[1651], S.47).”

LeviathanWer nicht rational zu denken im Stande ist, ist somit nicht zu willentlicher Entscheidung fähig. Entsprechend schnell sind die meisten Philosophen mit der Frage am Ende, ob menschliche Organismen, die (noch) nicht zum Denken und (moralischen) Urteilen im Stande sind, als vollwertige Menschen gelten können.

Unabhängig von der Frage, was den Idealtypus “Mensch” konstituiert, stellt sich die Frage danach, wann Lebewesen ein “Bewusstsein” entwickelt haben und dementsprechend als aktive Teilnehmer an ihrer Umwelt angesehen werden können, was wiederum die Voraussetzung dafür ist Urteilsfähigkeit zu entwickeln und willentlich zu handeln. Ein Indiz dafür, dass ein Bewusstsein vorhanden ist, ist die Fähigkeit, bewusst wahrzunehmen, die Fähigkeit, auf Reize aus der Umwelt bewusst zu reagieren. Aber wann im Verlauf der menschlichen Entwicklung setzt die Fähigkeit zu bewusster Wahrnehmung ein?

Diese Frage haben Forscher des Centre Nationalede la Recherche Scientific (CNRS) untersucht. Dabei sind sie zu dem Ergebnis gekommen, dass Säuglinge ab 5 Monate über eine ähnliche Form der bewussten Wahrnehmung verfügen wie Erwachsene, dass diese bewusste Wahrnehmung jedoch eine verzögerte Form bewusster Wahrnehmung ist, die in den Anfangsstadien ihrer Entwicklung steht.

Wie misst man bewusste Wahrnehmung? Das ist die zentrale Frage dieser Forschung, deren Antwort darüber entscheidet, ob die Ergebnisse sinnvoll oder sinnlos sind. Die Forscher des CNRS haben bewusste Wahrnehmung auf zwei Ebenen gemessen und an Geschwindigkeit gekoppelt. Die erste Ebene bewegt sich dabei im Millisekundenbereich (200 bis 300 Millisekunden): Hier findet eine unbewusste Verarbeitung von Wahrnungsinformationen statt. Im Gehirn zeigt sich ein stetiger und linearer Anstieg neuronaler Aktivität. Ist ein Schwellenwert neuronaler Aktivität erreicht, dann geht die lineare Antwort in eine nicht-lineare Antwort über, d.h. die neuronale Aktivität wächst in nicht-linearer Weise (z.B. exponentiell). Ab diesem Schwellenwert sprechen die CNRS-Forscher von einer bewussten Wahrnehmung.

Das Maß für bewusste Wahrnehmung ist demnach der Übergang von einer kurzen (bis 300 Millisekunden) Phase des linearen Anstiegs neuronaler Aktivität in eine Phase der nicht-linearen Reaktion auf einen Wahrnehmungsgegenstand.

Vor dem Hintergrundd dieser Operationalisierung haben die Forscher bei 5 Monate alten Säuglingen erste Anfänge einer bewussten Wahrnehmung gemessen: Während die neuronale Aktivität der Säuglinge mit einem Elektroenzephalogramm (EEG) gemessen wurde, wurden ihnen Gesichter gezeigt und die Reaktion auf die Gesichter gemessen. Dabei zeigte sich ein lineares Wachstum neuronaler Aktivität und ein Übergang von der linearen Phase in die nicht-lineare Phase, der als Übergang zu bewusster Wahrnehmung interpretiert wurde. Allerdings fand der Übergang bei Säuglingen deutlich später statt als bei Erwachsenen, und zwar erst nach rund 1 Sekunde.

Self-ConsciousnessDiese langsame Aktivierung von bewusster Wahrnehmung spricht dafür, dass sich bewusste Wahrnehmung erst entwickeln muss und nicht bereits bei Säuglingen und schon gar nicht bei Föten vorhanden ist. Da bewusstes Wahrnehmen die Voraussetzung dafür ist, dass sich ein Mensch, wie er im Idealtypus oben beschrieben wurde, überhaupt entwickeln kann, weisen diese Ergebnisse darauf hin, dass man Säuglinge als Organismen ansehen muss, die das Potential mitbringen, sich zum Mensch zu entwickeln, was jedoch eine Aktivierung von bewusster Wahrnehmung und eine Entwicklung der Denkfähigkeit, der Vernunft voraussetzt. Daraus muss geschlossen werden, dass Föten noch keine vollwertigen menschlichen Lebewesen darstellen und auch Säuglinge sich erst zum menschlichen Lebewesen und zum Menschen entwickeln müssen.

Hobbes, Thomas (1984[1651]). Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Kouider, Sid, Stahlhut, Carsten, Gelskov, Sofie V., Barbosa, Leonardo S., Dutat, Michel, de Gardelle, Vincent, Christophe, Anne, Dehaene, Stanislas & Dehaene-Lambertz, Ghislaine (2013). A Neural Marker of Perceptual Consciousness in Infants. Science 340(6130), pp.376-380.

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