Hat die Wahlentscheidung etwas mit freiem Willen zu tun?

Parteistrategen werden sich jetzt die Augen reiben oder auch nicht, je nachdem, welche Hirnregion von diesem Beitrag angesprochen wird: Ist es die rechte Amygdala, dann werden sich den Parteistrategen eher die Fussnägel ringeln, und die Angst, ob der erschreckenden Inhalte, die es nun zu berichten gilt, wird ihnen ins Gesicht geschrieben sein. Ist es der cinguläre Cortex, dann werden sie sich die Hände reiben, ob der neuen Möglichkeiten, die sich ihnen eröffnen.

AngstDie neuen Möglichkeiten kommen aus einem Feld, das sich über die letzten Jahre entwickelt hat und den Neuro-Sciences zuzurechnen ist. In verstärktem Maße haben sich z.B. Forscher am University College in London oder der Rice University in Houston mit der Frage beschäftigt, ob die politische Orientierung eines Menschen in sein Gehirn eingegraben ist oder gar vererbt ist. Zu beiden Annahmen, die sich etwas mit der Annahme eines freien Willens, wie sie Politikwissenschaftler seit Jahrhunderten machen, beißen, gibt es zwischenzeitlich Studien, die sie belegen, wobei man – wie oft – über das, was die Studien eigentlich aussagen, streiten kann (wie noch zu zeigen sein wird).

Die Frage, wie eine politische Orientierung zu Stande kommt, hat Politikwissenschaftler immer fasziniert, sofern sie in der Lage waren, mit empirischen Daten umzugehen (was ca. auf 20% in Deutschland zutrifft). Lipset und Rokkan haben in den 1960er Jahren ihre Cleavage Theorie präsentiert und behauptet, Konfliktlinien in einer Gesellschaft, zwischen Stadt und Land, zwischen Religion und Atheismus, zwischen Arbeit und Kapital seien konstitutiv für politische Parteien, und die Wahl der entsprechenden Parteien sei entsprechend vom Platz in der Sozialstruktur abhängig.

WahlforschungSo nett und einfach die Theorie von Lipset und Rokkan sich auch präsentiert, sie hat für Deutschland nie so richtig gepasst. Weder haben alle Arbeiter, nicht einmal die Mehrheit der Arbeiter, die SPD gewählt noch alle Katholiken die CDU. Die Suche nach erklärkräftigeren Theorien hat zur Erklärung der Parteiwahl u.a. als Funktion einer affektiven Bindung an eine Patei, einer Parteiorientierung geführt, die vor allem von Angus Campbell, Philip E. Converse und Donald Stokes entwickelt wurde. Eine Parteiorientierung ist in der Diktion dieser Autoren eine Einstellung, die im Verlaufe der politischen Sozialisation erworben wird und anschließend stabil bleibt.

Leider hat sich die Parteiorientierung als nicht stabil erwiesen. Wähler wollten und wollen einfach nicht so wählen, wie vorhergesagt. Entsprechend wurden Ansätze entwickelt, die eine Wahlentscheidung als Vorliebe für den Spitzenkandidaten, als Ergebnis politischer “issues”, als Ergebnis einer rationalen Entscheidung oder als Freak Event erklärt haben. Allen Ansätzen ist jedoch eine Annahme gemeinsam: Wähler sind irgendwie mit einem freien Willen ausgestattete Wesen, die diesen Willen in der Wahl zum Ausdruck bringen. Letztlich basiert die gesamte Mythologie demokratischer Staaten auf dieser Annahme, also kann man diese Annahme nicht einfach fallen lassen.

American VoterWas aber, wenn sich herausstellt, dass die Wahlentscheidung nichts mit freiem Willen zu tun hat, dass sie einfach vererbt ist, wie z.B. die Studie von John R. Alford, Carolyn L. Funk und John R. Hibbing (2005) nahelegt. Was wenn sich zeigt, dass die Wahlentscheidung eine unwillentliche, ja unbewusste Handlung bestimmter Gehirnregionen ist, die sich als Funktion bestimmter Persönlichkeitsstrukturen ergibt, wie die Untersuchungen von Ryota Kanai, Tom Feilden, Colin Firth und Geraint Rees es nahezulegen scheinen?

Kanai und Kollegen haben eine Reihe von Studien durchgeführt, die interessanteste davon wurde 2011 in Current Biology veröffentlicht. Untersucht haben die Autoren, ob sich die politische Orientierung von Personen in bestimmten Gehirnarealen festmachen lässt. Wie üblich bei solchen Untersuchungen, kamen dazu magnetische Resonanzbildverfahren zum Einsatz, um die Gehirnaktivität darzustellen. Dass diese Verfahren nicht ganz unproblematisch sind, ist bereits Thema auf ScienceFiles gewesen. Für die Studien von Kanai et al. sind die Einwände gegen diese Methode jedoch insofern erst einmal nebensächlich, als sie sich für Häufungen grauer Substanz in bestimmten Gehirnregionen interessiert haben, nicht für die Verarbeitung flüchtiger Informationen durch Gehirnregionen.

Die Frage, die Kanai et al. untersucht haben, lautet: Unterscheidet sich die Gehirnstruktur von liberalen und von konservativen Personen? Die Frage, ob jemand liberal oder konservativ ist, wurde durch seine Selbsteinordnung der Testpersonen beantwortet, und zwar auf einer fünfstufigen Skala von “sehr liberal” (1) bis “sehr konservativ” (5). Bei der Bestimmung der Menge grauer Substanz im Gehirn der Testpersonen haben sich Kanai et al. auf die Amygdala, die u.a. für die Verarbeitung von Angst zuständig ist, und den cingulären Cortex, der u.a. für die Verarbeitung von Unsicherheit verantwortlich ist, konzentriert. Und das ist bei den Experimenten herausgekommen:

  • Testpersonen, die von sich sagen, sie seien liberal, haben mehr graue Substanz im cingulären Cortex;
  • Testpersonen, die von sich sagen, sie seien konservativ, haben mehr graue Substanz in der rechten Amygdala;

Stellt man die Aufgaben und Funktionen beider Bereiche im Gehirn in Rechnung, dann bedeutet dies:

  • Testpersonen, die sich als liberal bezeichnen, sind toleranter und besser gerüstet, um mit Unsicherheit und Konfliktsituationen umzugehen als Testpersonen, die sich als konservativ bezeichnen.
  • Testpersonen, die sich als konservativ bezeichnen, sind ängstlicher und fürchten Veränderung mehr als Testpersonen, die sich als liberal bezeichnen.

Kurz und knapp: Angsthasen und Veränderungsfeinde wählen konservativ, d.h. Parteien, die für keine Veränderung eintreten, also z.B. CDU und SPD. Tolerante Personen, die mit Unsicherheit umgehen können, wählen liberal, d.h., ja, was wählen eigentlich liberale und tolerante Personen in Deutschland? FDP? Vielleicht sind die entsprechenden Personen ja gehäuft unter den Nichtwählern zu finden.

Doch bedeutet dieses Ergebnis, dass die Wahl einer Partei im Gehirn festgeschrieben ist und Parteistrategen einfach an die Amygdala, z.B. durch furchtbare Bilder, auf die Konservative besonders erschreckt reagieren, appellieren müssen, um gewählt zu werden? Bedeutet es, dass man Liberale am ehesten dadurch “einfängt”, dass man an ihre Tolereanz appelliert? Und schafft man das, erfolgt dann die Wahl automatisch, weil die Gehirnstruktur die Wahl determiniert?

free choiceNein, sagen Kanai et al. (2010, S.678). Sie sind nicht der Ansicht, die Gehirnstruktur determiniere die Handlung von Individuen. Sie sind der Ansicht, die Gehirnstruktur sei ein Ergebnis der Handlung von Individuen, mit anderen Worten: Diejenigen mit mehr grauer Substanz in der rechten Amygdala, die eher konservativen, sind von Hause aus ängstlich und fürchten Veränderung, und sie verhalten sich entsprechend und als Resultat findet sich mehr graue Masse im stark beanspruchten “Furchtzentrum”. Liberale, die Veränderung mögen und in Unsicherheit schwelgen, verhalten sich entsprechend, die Häufung grauer Substanz im cingulären Cortex ist das Ergebnis ihres Verhaltens.

Die Ergebnisse von Kanai et al. sprechen demnach einerseits für die Existenz eines freien Willens, legen aber andererseits den Schluss nahe, dass es in der Macht eines freien Willens steht, sich selbst durch Angstreaktionen einzuschränken, quasi selbst abzuschaffen und eine Determinantion künftiger Wahlen, deren Beschränkung auf das, was man kennt, auf die Abwehr von Veränderung herbeizuführen. So gesehen wäre eine neue Erklärung für Stammwähler gefunden: Angst, die ihren Niederschlag in einer großen rechten Amygdala findet (Immerhin eine Erklärung, die man testen kann). Wechselwähler und Nichtwähler müssten sich entsprechend als liberaler als “Stammwähler” herausstellen. Ich bin schon gespannt, ob sich jemand findet, der diese Hypothesen testet. Wenn sich jemand findet, bitte den Verweis auf ScienceFiles nicht vergessen.

P.S.

Ich muss es einfach noch feststellen: ScienceFiles ist ein liberales blog!

Alford, John R., Funk, Carolyn L. & Hibbing, John R. (2005). Are Political Orientations Genetically Transmitted? American Political Science Review 99(2): 153-167.

Kanai, Ryota, Feilden, Tom, Firth, Colin & Rees, Geraint (2011). Political Orientations are Correlated with Brain Structure in Young Adults. Current Biology 21: 677-680.

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