Genderisten/Genderismus – eine Definition

Vor einigen Tagen erreichte uns die folgende Email von Marcel Theler:

Sehr geehrte Frau Diefenbach
Sehr geehrter Herr Klein

AnonymityIch studiere derzeit Soziale Arbeit an einer Fachhochschule in der Schweiz. Meine Gesinnung entspricht jedoch einer liberalen, eigentlich einer libertären, was – wie Sie sich wohl denken können – natürlich immer wieder zu Konflikten, etwa mit Dozierenden führen kann. Dennoch kann ich auch über positive Erfahrungen berichten, dies vor allem in Bezug auf Mitstudierende. Ich unterstütze die Frankfurter Erklärung von Günter Buchholz, lese regelmässig in Ihrem Blog und unterstütze auch Ihre ‘Offene-Brief-Aktionen’. So habe ich auch Ihren Artikel über Schulsozialarbeit gelesen. Dieser neuere und in unserer Region anscheinend boomende Zweig der Sozialen Arbeit wurde natürlich auch im Studium behandelt. Ich weiss nicht inwiefern gewisse Dokumente und Konzepte, die man uns abgegeben hat, für die Verwendung auf Ihrem Blog dienlich sein könnten, aber ich kann Ihnen diese gerne zur Verfügung stellen.

Nun zu meinem Anliegen. Ich verweise im schriftlichen Austausch mit Dozierenden immer wieder auf Artikel in Ihrem Blog. Dieser Austausch ist natürlich nicht immer einfach und heute hat mir eine Dozentin auf meine Frage “Gibt es Ihres Erachtens klare Kriterien, mit denen man unwissenschaftlich von wissenschaftlich unterscheiden kann?” folgendes geschrieben:

“Bevor ich mich auf die Diskussion über Wissenschaftlichkeit mit Ihnen einlasse, die vermutlich wieder endlos werden wird, möchte ich von Ihnen eine Definition von ‘Genderisten’. Auf Sciencefile unter der entsprechenden Rubrik finde ich keine, und das scheint mir doch seltsam, beginnt doch seriöse Wissenschaft i. d. R. mit einer klaren Definition ihres Gegenstandes.”

Ich habe daraufhin auch eine solche Definition auf Ihrem Blog gesucht, jedoch ohne Erfolg. Die Frage ist berechtigt, denke ich. Haben Sie für diesen Ausdruck eine Definition? Dann wäre ich im Stande, die ‘Diskussion’ mit meiner Dozentin mit einer Definition, die auch in Ihrem Sinne ist, weiter zu führen. Sollten Sie es ebenfalls als wichtig erachten, schlage ich Ihnen vor, diese Definition auf Ihrem Blog zu veröffentlichen.

Besten Dank für Ihre Antwort.

Freundliche Grüsse
Marcel Theler

SciencefilesOb es sich bei dieser Anfrage um ein echtes Anliegen handelt oder nicht, soll uns hier nicht weiter interessieren. In jedem Fall hat sich Dr. habil. Heike Diefenbach dazu entschlossen, auf diese Anfrage zu antworten. Die Antwort wurde nicht nur zu einem Grundkurs in wissenschatlicher Methode, sie enthält auch eine von Dr. Diefenbach entwickelte Definition von Genderismus. Da sich Herr Theler bislang nicht wieder gemeldet und sich für die Antwort bedankt hat, kann man wohl davon ausgehen, dass es sich bei seiner Anfrage um eine fingierte Anfrage gehandelt hat. Da unsere Grundsätze unsere Grundsätze sind und nicht davon abhängen, wem wir sie darlegen sollen, macht es für uns keinen Unterschied, ob die Anfrage real oder fingiert ist.

Sehr geehrter Herr Theler,

es freut uns, dass Sie unserem blog “ScienceFiles” folgen und die Beiträge dort anscheinend mit Gewinn lesen.

Und herzlichen Dank auch für Ihr Angebot, uns Materialien zur Schulsozialarbeit zu überlassen, das wir prinzipiell gerne annehmen. Viele Hinweise, die wir von Lesern unseres blogs bekommen, sind für uns sehr wertvoll, und wir wissen sie zu schätzen. Allerdings bekommen wir so viele Hinweise zu den verschiedensten Themen, dass wir unmöglich allen folgen können und deshalb schwerlich Zusagen darüber machen können, welchen wir folgen bzw. wann wir auf die entsprechenden Hinweise hin einen blog-Beitrag publizieren können. Wenn das kein Problem für Sie ist, dann freuen wir uns natürlich, wenn Sie uns Materialien zur unserer Information überlassen.

Aber nun zu Ihrer Frage:

Ich werde mich bemühen, Ihre Frage zu beantworten, obwohl mir rätselhaft ist, warum eine Definition von “Genderismus” bzw. “Genderisten” für eine Diskussion darüber notwendig sein sollte, was Kriterien für Wissenschaftlichkeit sind oder sein sollen.

Ehrlich gesagt halte ich bereits eine solche Forderung für unwissenschaftlich, denn was wissenschaftlich ist oder nicht, ist eine allgemeine Frage, die eine Idee und eine Arbeitsweise betreffen. Wenn jemand einer Diskussion über Wissenschaftlichkeit das Gender-Konzept sozusagen vorschalten will, dann besteht er offensichtlich darauf, dass ein bestimmtes inhaltliches Konzept, mit dem bestimmte inhaltliche Aussagen verbunden sind, dieser Diksussion zugrunde gelegt wird. Nun ist es in der Wissenschaftstheorie und -philosophie aber vollkommen unüblich, ein Kriterium für Wissenschaftlichkeit anhand eines inhaltlichen Konzeptes oder bestimmter inhaltlicher Aussagen zu wählen, frei nach dem Motto: ich finde die Konstetllation der Sterne für meinen Lebensalltag wichtig – also muss eine Definition von Wissenschaftlichkeit die Astrologie enthalten. Allein diese Vorstellung zeigt, dass jemand mehr an seinen vorgefassten Überzeugungen als an der Idee von Wissenschaft interessiert ist, und daher scheint mir jede Diskussion über Wissenschaftlichkeit mit einer solchen Person zur Farce geraten zu müssen.

ColemannDie Vorstellung von Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit, der unser blog verbunden ist, wird ausführlich in unserem Grundsatzprogramm, das auf unserem blog zu finden ist, beschrieben. Die wissenschaftstheoretischen und wissenssoziologischen Grundlagen unserer Arbeit sind vor allem Karl Raimund Popper und Max Weber sowie die Vertreter des “critical thinking” und die Aussagenlogik. Sowohl Herr Klein als auch ich haben außerdem im Rahmen unserer Tätigkeiten als Dozenten an Universitäten darüber gelehrt, geforscht und publiziert, was eine Erklärung im soziologischen Sinn sein sollte und in diesem Zusammenhang insbesondere das strukturell-individualistische Forschungsprogramm nach James S. Coleman behandelt, das wir prinzipiell für gut befinden.

Für uns von zentraler Bedeutung ist im Zusammenhang mit Wissenschaft, dass nur empirisch prüfbare Aussagen wissenschaftliche Aussagen sind. Diese Aussagen müssen theoretisch begründbar sein, und zwar logisch widerspruchsfrei. Sind sie es nicht, dann hat man keinen Erkenntnisgewinn von der bloßen Beschreibung von Dingen oder der Feststellung von Zusammenhängen; man weiß nicht, was sie BEDEUTEN. Umgekehrt hat man von noch so sauberen, logisch widerspruchsfreien Aussagen keinerlei Erkenntnisgewinn, wenn sie nicht empirisch prüfbar sind, denn es ist ja möglich, dass das ganze schöne Gedankengebäude trotzdem nichts mit der Realität auf diesem Planeten zu tun hat.

Logik der ForschungEs ist vor diesem Hintergrund klar, dass wir keine Essentialisten, keine logischen Positivisten, keine Konstruktivisten und keine Vertreter der so genannten Frankfurter Schule sind, die unglücklicherweise das Adjektiv “kritisch” in “kritischer Theorie” für sich beansprucht hat, was im deutschen Sprachraum manchmal zu Missverständnissen führt.

Wenn Sie unser Wissenschaftsverständnis interessiert, dann lesen Sie tatsächlich am besten unser Grundsatzprogramm auf dem blog.

Nun noch zu Genderisten: Da wir wie gesagt keine Essentialisten sind, existiert für uns kein Genderismus als solcher und niemand, dessen Wesenseigenart es wäre, Genderist zu sein.

Weber Wissenschaftslehre“Genderist” soll dementsprechend einfach eine Bezeichnung für Personen sein, für die gilt, dass sie (1) die soziale Konstruktion von Geschlecht bzw. Geschlechtszugehörigkeit zum Ausgangspunkt aller sozialwissenschaftlich oder gesellschaftlich relevanten Beschreibungen und Erklärungen machen wollen und die Arbeit von Personen, die dies nicht tun wollen und andere Eigenschaften von Menschen (seien sie als sozial konstruiert aufgefasst oder nicht) als ebenso wichtig oder wichtiger für die Erklärung und das Verständnis sozialer Realität einschätzen, von vornherein als defizitär beurteilen, oder die (2) Konstruktionen von Weiblichkeit und Männlichkeit in eine Hierarchie bringen, wobei alles, was weiblich konnotiert ist, präferiert wird, und darüber hinaus bestimmte Konstruktionen von Weiblichkeit (z.B. Hausfrau, “Karriere”frau ohne Kinder) und Männlichkeit (z.B. “Macho”-Mann) sowie bestimmte Lebensentwürfe (z.B. “Doppelverdiener”) weniger akzeptabel gefunden werden als die so genannte “Vereinbarkeitsweiblichkeit und -männlichkeit” (oder gar nicht akzeptabel).

Aufgrund der Bewertung, die unter (2) genannt ist, können Genderisten per definitionem keine Wissenschaftler sein. Vermutlich ist es dieser Punkt, den Ihre Dozentin von Ihnen hören möchte, damit sie Sie als intolerant oder sonst etwas betiteln kann. Dessen ungeachtet ist Werturteilsfreiheit aber ein wichtiges Prinzip in der Wissenschaft, und wer es aufgibt, muss den Nachweis führen, dass es irgendwie möglich sei – ich weiß nicht, wie -, Wissenschaft dennoch von Ideologie zu trennen. (Auch zur Werturteilsfreiheit finden sich Erläuterungen in unserem Grundsatzprogramm.)

In der Realität scheint zu diesen beiden Indikatoren häufig der Wille zur Ablösung von Gerechtigkeitsprinzipien durch das Prinzip der Ergebnisgleichheit hinzuzutreten, aber wie stark dieser Zusammenhang ist, ist eine empirische Frage – nach allem, was wir wissen, ist er sehr stark. Dennoch würden wir es nicht zum definitorischen Kriterium machen wollen. Wenn wir es mit ansprechen wollen, sprechen wir von “Gender Mainstreaming”, und wenn die Ideologie des Gender Mainstreaming von “oben nach unten”, also durch staatliche Institutionen und Manipulation der Bürger durchgesetzt werden soll, von “Staatsfeminismus”, was eigentlich nicht ganz korrekt ist, aber der Begriff stammt nicht von uns, sondern wir folgen diesbezüglich dem Sprachgebrauch, der zuerst in den skandinavischen Ländern von Vertreterinnen der Idee der Durchsetzung der “Gender Mainstreaming”-Ideologie oder einer wie auch immer gearteten “Frauenpolitik” durch staatliche Institutionen geprägt wurde.

ad hominemIch hoffe, dies alles hilft Ihnen weiter. Bleibt mir nur noch zu ergänzen, dass es für uns ein Ding der Unmöglichkeit ist, jeden Begriff, den wir auf ScienceFiles benutzen, vorab zu definieren, insbesondere dann, wenn der Begriff eigentlich gut im Sprachgebrauch eingeführt ist. Aber sicherlich stimmt es, dass es nützlich ist, Begriffe zu definieren, wenn man sichergehen will, dass eine geteilte Verständnisgrundlage gegeben ist. Ich kann mir an dieser Stelle allerdings den Hinweis nicht verkneifen, dass gerade Genderisten und für Gender Mainstreaming Engagierte in der Regel nicht definieren. Zwar fügen sie manchmal Erläuterungen ihrer Begriffe an, aber wenn man sie liest, stellt man gewöhnlich fest, dass sie Begriffe nur durch andere Begriffe ersetzen, die selbst wieder vage sind, so dass es nicht möglich ist, ihre “Definitionen” in Operationalisierungen für empirische Zwecke umzusetzen.

Und zum Schluss noch einmal zur Klärung: Wenn wir über die Befunde aus empirischen Studien berichten, z.B. darüber, wie der so genannte “Gender Pay Gap” zu erklären ist, dann sind diese Befunde völlig unabhängig davon wissenschaftlich zu würdigen, ob wir den Begriff “Genderist” benutzen oder WIE wir ihn benutzen. Ein Wissenschaftler würde sich daher nicht für unsere Begriffswahl interessieren, sondern für die Studie, die das Ergebnis erbracht hat. Wer meint, er könne Ergebnisse, über die wir berichten, dadurch zurückweisen, dass wir die Begriffe “Genderisten” oder “Genderismus” benutzen, nicht definieren oder auf eine Weise definieren, die dieser Person nicht gefällt, begeht damit einen simplen logischen Fehlschluss, nämlich den Fehlschluss ad hominem. Und dies wiederum lässt erheblichen Zweifel daran aufkommen, ob diese Person überhaupt korrekt argumentieren kann.

Bitte beachten Sie, dass die oben gegebene Definition von “Genderisten” von mir stammt und ich ein copyright darauf erhebe, d.h., sie darf nur mit Quellenangabe, also Verweis auf meine Person (und ggf. auf diese e-mail an Sie) wiedergegeben werden. Das ist vor allem deshalb wichtig, weil ich vor habe, diese Definition auf dem blog und in meinen eigenen wissenschaftlichen Publikationen zu veröffentlichen.

Mit freundlichen Grüßen, auch von Herrn Klein

Dr. habil. Heike Diefenbach

©Heike Diefenbach und ScienceFiles, 2013

Nachtrag

Zwischenzeitlich hat sich “Marcel Theler” wieder an Dr. Diefenbach gewendet. Hier ein Auszug aus seiner Email:

„Es handelt sich nicht um eine fingierte Anfrage und ich werde Ihnen auch die Dokumente zur Verfügung stellen. Falls Sie Kontaktdaten wünschen oder dergleichen, ich würde mich gerne identifizieren, so dass die entstandenen Missverständnisse ausgeräumt werden können.

Ich bitte Sie deshalb, dies in Ihrem Artikel anzupassen, …“

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