Erhöhtes Suizidrisiko bei Homo- und Bisexuellen?

Oder: Gibt es einen wissenschaftlich begründeten Anlass zu einer entsprechenden Intervention in Schulen (oder sonst wo)?

TEIL I

zukunft-verantwortung-lernen-kein-bildungsplan-2015-unter-der-ideologie-des-regenbogens_1386755089In den vergangenen Wochen wurde in Baden-Württemberg viel über den Bildungsplan 2015, genau: die Bildungsplanreform 2015/2016, diskutiert, in den „[d]as Thema ‚Akzeptanz von Sexueller Vielfalt‘ […] im Bildungsplan im Zusammenhang allgemeiner Erziehungsziele aufgenommen [ist]“. (Dass Deutschlands Bürger sich in Fragen der Unterrichtsinhalte, mit denen Kinder in deutschen Schulen konfrontiert werden, engagieren, ist – gelinge gesagt – eher selten, und dementsprechend wäre der Bildungsplan 2015 vermutlich seinen verwaltungstechnischen Gang gegangen und ohne nennenswerte Aufmerksamkeit über die Köpfe der Bürger und insbesondere von Eltern und Kindern hinweg eingeführt worden, hätte es nicht die Petition mit dem Titel „Zukunft – Verantwortung – Lernen: Kein Bildungsplan 2015 unter er Ideologie des Regenbogens“ gegeben, die ein engagierte Lehrer verfasst hat und die am 21. Januar um 13.30 152.552 Unterstützer gefunden hat. Sie alle wenden sich als Unterzeichner der Petition gegen den Bildungsplan 2015, denn:

“Wir treten für eine wissenschaftlich orientierte Pädagogik und gegen ideologische Theoriekonstrukte ein. …Während im Bildungsplan 2015 Werbung für jegliche Formen der Sexualität gemacht wird, bleiben Formen der Ausgrenzung aufgrund von Herkunft, Behinderung, Alter, Geschlecht oder Weltanschauung/Religion darin unbeachtet”.

Letztere Feststellung ist korrekt, und Ersterem kann man sich als Wissenschaftler oder Liberaler eigentlich nur anschließen.

In der Petition werden weitere Gründe dafür, den Bildungsplan 2015 abzulehnen, angefügt, darunter der folgende:

„In ‚Verankerung der Leitprinzipien‘ fehlt komplett die ethische Reflexion der negativen Begleiterscheinungen eines LSBTTI[Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Transsexuelle und Intersexuelle]-Lebensstils, wie die höhere Suizidgefährdung unter homosexuellen Jugendlichen, die erhöhte Anfälligkeit für Alkohol und Drogen, die auffällig hohe HIV-Infektionsrate bei homosexuellen Männern, wie sie jüngst das Robert-Koch-Institut (5) veröffentlichte, die deutlich geringere Lebenserwartung homo- und bisexueller Männer, das ausgeprägte Risiko psychischer Erkrankungen bei homosexuell lebenden Frauen und Männern“.

Allein auf dieses Argument bezieht sich die Gegenpetition zur Petition, überschrieben mit „Gegenpetition zu: Kein Bildungsplan 2015 unter der Ideologie des Regenbogens“, die ihrerseits zum selben Datum und zur selben Uhrzeit 79.471 hat. Dort ist zu lesen:

„Bei Schüler_innen ein Bewusstsein zu schaffen, wonach Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Transsexuelle und Intersexuelle (LSBTTI) nichts “Abnormales” sind, halte ich für wichtig und richtig. Die Argumentation, LSBTTI sei gefährlich, halte ich für falsch und vollkommen verquer. Es verhält sich – meiner Ansicht nach – vielmehr so, dass sich bei LSBTTI deshalb ein erhöhtes Suizidverhalten zeigt, weil Teile der Gesellschaft ihnen immer noch – und eben u.a. gerade durch solche Petitionen – das Gefühl geben, abnormal zu sein, sodass es schwierig wird, sich selbst zu akzeptieren. Daraus, weil nicht kleine Teile der Gesellschaft einem das Gefühl geben “falsch” zu sein, resultiert die erhöhte Suizidrate, nicht durch die Zugehörigkeit zu den oben genannten Gruppen. Und genau deshalb ist es so wichtig, zukünftigen Generationen zu vermitteln, dass LSBTTI keinesfalls “falsch” sind und dass sie offen leben dürfen, was sie sind, ohne sich dessen schämen zu müssen oder von anderen beschimpft oder angegafft zu werden“.

Durkheims SelbstmordWährend die Unterstützer der Petition also bemängeln, dass im Bildungsplan 2015 nicht vorgesehen ist, u.a. das erhöhte Suizidrisiko homosexueller Jugendlicher und das höhere Risiko psychischer Erkrankungen Homosexueller zu thematisieren, begründen die Unterstützer der Gegenpetition ihr Anliegen damit, dass Homosexuellen durch „Teile der Gesellschaft … immer noch“  das Gefühl gegeben werde, abnormal zu sein, woraus eine „erhöhte Suizidrate“ bei LSBTTI resultiere, die in „zukünftigen Generationen“ dadurch zum Verschwinden gebracht werde, dass Kinder in Schulen von der Normalität Nicht-Heterosexueller überzeugt würden. Einig sind sich die Unterstützer von Petition und Gegenpetition also darin, dass es ein erhöhtes Risiko von Nicht-Heterosexuellen gebe, Selbstmord zu begehen, wenn sie auch nicht darin übereinstimmen, ob dies nur für bestimmte Gruppen Nicht-Heterosexueller gilt oder nicht. Für die Unterstützer der Petition begründet dies die Notwendigkeit, die Gefahren eines nicht-heterosexuellen Lebensstil in Schulen zu thematisieren (, wenn ein solcher Lebensstil denn schon unbedingt in Schulen thematisiert werden muss,) für die Unterstützer der Gegenpetition begründet und rechtfertigt dieser Umstand die Thematisierung dieses Lebensstils und die Werbung für Toleranz gegenüber bzw. Akzeptanz dieses Lebensstils in Schulen.

Aber woher nehmen beide Seiten die Sicherheit, mit der sie behaupten, es gebe eine erhöhte Suizidrate unter Nicht-Heterosexuellen oder bestimmten Gruppen von Nicht-Heterosexuellen? Das bleibt ihr Geheimnis, denn sie berufen sich diesbezüglich auf keinerlei Quellen, sondern suggerieren gleichermaßen, es handle sich hier um feststehendes Wissen, fast schon um einen Teil von Allgemeinbildung. Und wie so oft erweist sich das, was man als allgemein bekannt oder selbstverständlich ansieht, als falsch, sobald man sich ihm mit dem Kopf und nicht nur mit dem Herzen oder vielleicht treffender: dem Blutdruck, zuwendet. Auf der Grundlage wissenschaftlicher Forschung lässt sich dies nämlich keineswegs behaupten.

Tatsächlich ist bis heute unklar, ob eine höhere Suizidrate bei Nicht-Heterosexuellen oder Teilen von ihnen besteht als unter Heterosexuellen, obwohl seit mindestens zehn Jahren hierüber geforscht wird. Woher genau die Idee, Nicht-Heterosexuelle hätten eine höhere Suizidrate bzw. ein höheres Suizidrisiko als Heterosexuelle ursprünglich stammt, können wir nicht mit Sicherheit sagen. Ein Text von Paul Gibson, der einen erheblichen Beitrag dazu geleistet hat, die Frage nach einem Zusammenhang zwischen  Suizid(risiko) und sexueller Orientierung auf die Tagesordnungen von Politikern und Verwaltungsangestellten zu setzen, und den er als Beitrag mit dem Titel „Gay Male and Lesbian Youth Suicide“ zum “Report of the Secretary’s Task Force on Youth Suicide” für das U.S. Department of Health and Humane Services im Jahr 1989 verfasst hat, führt den Zusammenhang bereits in der Einleitung als eine bekannte Tatsache ein, wenn er schreibt:

„Suicide is the leading cause of death among gay male, lesbian, bisexual and transsexual youth. They are part of two populations at serious risk of suicide: sexual minorities and the young. Agency statistics and coroner reports seldom reflect how suicidal behaviors related to sexual orientation or identity issues. The literature on youth suicide has virtually ignored the subject. Research in recent years, however, with homosexual young people and adults has revealed a serious problem with cause for alarm” (Gibson 1989: 3-110).

Die Forschung, auf die er sich bezieht, stammt aus den 1970er-Jahren und wurde von Jay und Young (1977) und Bell und Weinberg (1978) publiziert. Deren Ergebnisse fasst Gibson wie folgt zusammen:

“Jay and Young found that 40 percent of gay males and 39 percent of lesbians surveyed had either attempted or seriously contemplated suicide. Bell and Weinberg similarly found that 35 percent of gay males and 38 percent of lesbians in their study had either seriously considered or attempted suicide. Homosexuals are far more likely to attempt suicide than are heterosexuals. A majority of these attempts take place in their youth. Bell and Weinberg found that 25 percent of lesbians and 20 percent of gay men had actually attempted suicide. Gay males were 6 times more likely to make an attempt then heterosexual males. Lesbians were more than twice as likely to try committing suicide than the heterosexual women in the study. A majority of the suicide attempts by homosexuals took place at age 20 or younger with nearly one-third occurring before age 17” (Gibson 1989: 3-111).

penguin_logicDie Studie von Jay und Young beinhaltet keine Heterosexuellen, so dass aus ihr keine Aussage über ein höheres Suizidrisiko von Homosexuellen abgeleitet werden kann, eben weil die Vergleichsgruppe der Heterosexuellen in dieser Studie fehlt (zur Kritik dieser Studie s. auch Burroway 2006). Bell und Weinberg machen sich dieses Versäumnisses zwar nicht schuldig, aber auch ihre Studie basiert – ebenso wie die von Jay und Young – auf im Nachhinein von den Befragten erinnerten oder zumindest angegebenen Selbstmordversuchen oder ernsthaften Erwägungen, sich selbst umzubringen, von denen niemand weiß, wie zuverlässig solche Angaben sind.

Obwohl Gibson die Ergebnisse dieser Studien und damit die Existenz eines Zusammenhangs zwischen Suizid(risiko) und jungen Homosexuellen kritiklos akzeptiert, sieht er die Notwendigkeit, die Geltung des Zusammenhangs gut zehn Jahre später zu überprüfen und führt daher einige Zahlen an, die als Beleg dafür dienen sollen, dass der Zusammenhang inzwischen nicht verschwunden oder schwächer geworden sei, sondern eher im Gegenteil. Diese Zahlen scheinen dies tatsächlich zu belegen, aber sie basieren auf Befragungen, die in oder von Jugendzentren, teilweise speziell für homosexuelle Jugendliche, oder Zentren zur Prävention von Suizid durchgeführt wurden, und weil man davon ausgehen muss, dass die homosexuellen Jugendlichen, die dort anzutreffen sind, eine stark selegierten Population darstellen, sind sie nicht aussagekräftig. So stammt eine der Befragungen vom Larkin Street Youth Center in San Francisco, wo die Befragung unter der Klientel des Zentrums, nämlich wohnsitzlosen Jugendlichen, durchgeführt wurde. Diese Studie ergibt, dass homosexuelle Jugendliche eine 3,5mal höhere Suizidität hatten als heterosexuelle, wobei zumindest im Bericht Gibsons unklar bleint, was genau hier „Suizidität“ bedeutet und wie viele Fallzahlen sich hinter dem Verhältnis von Prozentzahlen, auf deren Basis die 3.5mal höhere Suizidität errechnet wurde, verbergen.

Zwischen 1977 und 1989 wurde also offensichtlich keine Forschung betrieben, die die methodischen Fehler und Schwächen der ursprünglichen Forschung behoben hätte (im Gegenteil). Dennoch geistert seit der Publikation des Textes von Gibson aus dem Jahr 1989 in der westlichen Welt die Vorstellung herum, nach der (jugendliche oder erwachsene) Homosexuelle (oder beide) ein mindestens 30 Prozent höheres Risiko hätten, Selbstmord zu begehen. Und bereits in Gibsons Text findet sich die denkwürdige und im gesellschaftlichen Klima der 1970er-Jahre wenig überraschende, aber durch keinerlei wissenschaftliche Forschung belegte Behauptung:

„The root of the problem of gay youth suicide is a society that discriminates against and stigmatizes homosexuals while failing to recognize that a substantial number of its youth has a gay or lesbian orientation. Legislation should guarantee homosexuals equal rights in our society. We need to make a conscious effort to promote a positive image of homosexuals at all levels of society that provides gay youth with a diversity of lesbian and gay male adult role models. We each need to take personal responsibility for revising homophobic attitudes and conduct. Families should be educated about the development and positive nature of homosexuality. They must be able to accept their child as gay or lesbian. Schools need to include information about homosexuality in their curriculum and protect gay youth from abuse by peers to ensure they receive an equal education” (Gibson 1989: 3-110; Hervorhebung d.d.A.).

Man könnte meinen, der baden-württembergische Bildungsplan 2015 sei eine späte Kopie dessen, was bereits im Jahr 1989 auf der Basis methodisch völlig unzureichender Forschung gefordert wurde. Man könnte aber auch meinen, dass man sich mit solchen Forderungen heutzutage auf qualitätvolle(re) Forschung berufen könnte. Leider muss man sagen, dass dies nicht der Fall ist. Für die Mehrheit der Forschung, die seit 1989 bis heute zum Zusammenhang zwischen Suizid und sexueller Orientierung durchgeführt wurde, gilt, dass sie dieselben methodischen Mängel aufweist wie die frühe Forschung der 1970er- und 1980er-Jahre.

Dies mag einigermaßen verwunderlich erscheinen, ist es aber nicht, wenn man sich vergegenwärtigt, wie schwierig es ist, den Zusammenhang zwischen Suizidrisiko und sexueller Orientierung zu untersuchen: Die Probleme beginnen damit, dass es sehr schwierig ist festzustellen, wer suizidgefährdet ist oder irgendwann einmal war. Mit Sicherheit kann man davon ausgehen, dass jemand suizidgefährdet war, wenn die Person tatsächlich Selbstmord begangen hat. Alle uns bekannten Studien – mit einer Ausnahme, auf die wir unten noch zurückkommen werden, – zu diesem Zusammenhang basieren aber auf Angaben von Befragten darüber, ob sie in ihrem Leben irgendwann einmal oder in den letzten 12 Monaten (o.ä.) einen Selbstmordversuch gemacht haben, den Plan gefasst haben, sich umzubringen oder allgemein Selbstmordgedanken hatten.

Die Befragten können nur befragt werden, weil sie noch am Leben sind und sich nicht selbst umgebracht haben. So gesehen repräsentieren sie mit sehr großer Wahrscheinlichkeit gerade keine (zum Befragungszeitpunkt tatsächlich) Suizidgefährdeten, selbst dann, wenn sie nicht schlicht vergangene Gefühlslagen falsch rekonstruieren und attribuieren, und dementsprechend können sie keine Aufschlüsse darüber geben, ob, wie häufig und unter welchen Bedingungen Selbstmordpläne und –gedanken zu Selbstmord führen – dies könnten nur die, die nicht mehr befragt werden können, weil sie nicht mehr leben.

suicide attemptDen besten Näherungswert stellen wahrscheinlich Menschen dar, die in nicht allzu langer Vergangenheit einen Selbstmordversuch gemacht haben und von jemand anderem gerettet wurden, aber erstens hätten diese Menschen vermutlich andere Sorgen und Bedürfnisse als an einer sozialwissenschaftlichen Befragung teilzunehmen, und zweitens gibt es von diesen Menschen nur sehr wenige, und zwar nicht, weil wenige Selbstmörder von jemand anderem gerettet würden, sondern, weil es erfreulicherweise überhaupt wenige Selbstmörder gibt, „wenige“ in dem Sinn, dass sie für die Sozialwissenschaft eine so genannte seltene Population darstellen, d.h. sie sind so selten, dass man Schwierigkeiten hat, eine Anzahl von ihnen zu finden, die groß genug wäre, um auf ihre Angaben Ergebnisse zu gründen, die für sich in Anspruch nehmen können, zuverlässig zu sein.

Dieses Problem der seltenen Population verschärft sich, wenn man verschiedene Gruppen von Suizidgefährdeten miteinander vergleichen will, hier: heterosexuelle Suizidgefährdete und nicht-heterosexuelle Suizidgefährdete oder sogar heterosexuelle jugendliche Suizidgefährdete und nicht-heterosexuelle jugendliche Suizidgefährdete. Die meisten Studien zum in Frage stehenden Zusammenhang leiden daher unter notorisch niedrigen Fallzahlen, und auf der Basis so niedriger Fallzahlen lassen sich keine allgemeinen Aussagen über das Risiko des Suizidrisikos von Nicht-Heterosexuellen oder bestimmten Gruppen von ihnen machen. Die teilweise extrem niedrigen Fallzahlen, mit denen gearbeitet wird, werden unseriöserweise manchmal dadurch verdeckt, dass sie nicht angegeben werden, sondern in prozentuale Anteile umgerechnet werden (so z.B. bei Wang et al. 2012); Wenn man schreiben kann, dass 30 Prozent aller homosexuellen Jugendlichen suizidgefährdet sind, dann suggeriert das ungleich mehr Relevanz als wenn man schreibt, dass von zehn homosexuellen Jugendliche, die man in einer Stichprobe von z.B. 140 Jugendlichen verfügbar hat, drei angegeben haben, z.B. während der vergangenen zwei Jahre einen Selbstmordversuch gemacht zu haben.

Eine andere Strategie kann sein, das Suizidrisiko aufzuweichen und als Indikator dafür nicht erfolgte Selbstmordversuche zu betrachten, sondern stattdessen (oder zusätzlich) Selbstmordpläne, wobei die Grenze zu Selbstmordphantasien fließend sein dürfte. Nach Letzteren wird aber nicht gefragt bzw. nicht in dieser Formulierung gefragt, denn Selbstmordphantasien werden meist als Selbstmordgedanken bezeichnet, was einen stärkeren Realitätsbezug suggerieren mag als der Begriff „Selbstmordphantasien“. Eine möglichst starke Aufweichung des Konstruktes „Suizidrisiko“ dient dazu, die Fallzahlen zu erhöhen, die für eine Zusammenhangsanalyse zur Verfügung stehen, ist aber nicht unbedingt im Interesse einer realistischen Einschätzung der Relevanz des Phänomens „Suizid“.

right orderDasselbe gilt für die Errechnung und Mitteilung von Suizidrisiko-Kennwerten für Nicht-Heterosexuelle oder eine Gruppe von Nicht-Heterosexuellen, ohne dass der entsprechende Vergleichswert für Heterosexuelle mitgeteilt wird, wofür die oben schon erwähnte Studie von Jay und Young (1977) ein Beispiel ist und wie wir dies oben im Zusammenhang mit unserem obenstehenden Beispiel getan haben: Wenn wir zehn homosexuelle Jugendliche danach fragen, ob sie irgendwann in ihrem Leben oder z.B. in Verlauf der beiden vorangegangenen Jahre daran gedacht haben, sich selbst das Leben zu nehmen, und drei davon oder 30 Prozent bejahen dies, dann mag das auf den ersten Blick geradezu nach Intervention zugunsten von Homosexuellen schreien, aber wenn wir eine Vergleichsgruppe von heterosexuellen Jugendlichen dasselbe gefragt hätte, dann hätten wir vielleicht herausbekommen, dass von ihnen ebenfalls 30 Prozent die Frage bejahen, und vielleicht hätten wir  auch herausbekommen, dass sich in ihrem Fall die 30 Prozent auf der Basis einer deutlich größeren Stichprobe errechnen, denn heterosexuelle Jugendliche sind deutlich leichter aufzufinden als homosexuelle, was auf die Frage nach der Relevanz der beiden gleich hohen Prozentanteile bzw. einer Intervention speziell zugunsten von Homosexuellen zurückverweist (vgl. hierzu Gibson 1989).

Diese Frage umgehen Studien, die sich ohnehin nur auf Daten von Nicht-Heterosexuellen beschränken (wie z.B. die Studie von Wang et al. 2012 in den Teilen, in denen sie sich nur auf den Geneva Gay Men’s Health Survey bezieht, oder die Studie von D’Augelli et al. 2005).

Die überwältigende Mehrheit von Studien zum Zusammenhang zwischen Suizid(risiko) und sexueller Orientierung beziehen sich nicht auf LSBTTI, sondern auf Homosexuelle und auf Bisexuelle, weil sie es sind, die unter den Nicht-Heterosexuellen die bei Weitem größten Gruppen sind; jedenfalls lassen sich mehr Menschen finden, die sich selbst als homo- oder als bisexuell beschreiben, als Menschen, die sich als z.B. intersexuell beschreiben, und in vielen Fällen werden Bisexuelle Homosexuellen zugerechnet, weil sich beide Gruppen getrennt mangels Fallzahlen nicht analysieren ließen (vgl. z.B. Wang et al. 2012: 982). Damit ist klar, dass selbst dann, wenn zuverlässige Daten für Homo- oder Bisexuelle vorlägen, ungeklärt wäre, ob sich diese Daten auf Trans- oder Intersexuelle übertragen lassen oder nicht. Ebenfalls unklar ist, ob und auf der Grundlage welcher Begründung Homosexuelle und Bisexuelle in einen Topf geworfen werden sollten; schließlich könnte man Bisexuelle mit gleichem Recht Homosexuellen oder Heterosexuellen zurechnen.

Damit ist ein weiteres Problem angesprochen, nämlich die Frage, wie Homo- oder Bisexualität oder andere Formen nicht-heterosexueller Sexualität in einer Studie erfasst werden. Z.B. berichten Wang et al. (2012: 984), dass „sexual orientation was assessed differently in each survey“, womit sie die drei Surveys meinen, auf die sie ihre eigene Studie gründen. Dies macht nicht nur den Vergleich der Ergebnisse nahezu unmöglich, die auf der Basis verschiedener Surveys in einer Studie gewonnen wurden, sondern schränkt die Vergleichbarkeit der Ergebnisse stark ein, die in unterschiedlichen Studien und unter Verwendung unterschiedlicher Stichproben oder Surveys gewonnen wurden.

Aus diesen Gründen ist Muehrer bei seiner Zusammenschau der Forschungsergebnisse zum Zusammenhang zwischen Suizid(risiko) und sexueller Orientierung, die er im Jahr 1995 publiziert hat, zum folgenden für die Sozialforschung und Interventionsfreudige vernichtenden Ergebnis gekommen:

„Research on the hypothesized relationship between sexual orientation and suicide is limited both in quantity and quality. National or statewide data on the frequency and causes of completed suicide in gay and lesbian people in the general population, including youth, do not exist. Similarly, national or statewide data on the frequency of suicide attempts among the general population or among gay and lesbian people, including youth, do not exist. Methodological limitations in the small research literature include a lack of consensus on definitions for key terms such as suicide attempt and sexual orientation, uncertain reliability and validity of measures for these terms, nonrepresentative samples, and a lack of appropriate nongay and/or nonclinical control groups for making accurate comparisons. These numerous methodological limitations prevent accurate conclusions about the role sexual orientation might play in suicidal behavior; the limitations also suggest opportunities for future research. Furthermore, recent evaluations of some school suicide-awareness programs suggest that these programs are ineffective and may actually have unintended negative effects. The premature dissemination of unproven programs is unwarranted“ (Muehrer 1995: 72).

©ScienceFiles, 2014

Im nächsten Post geht es weiter mit Teil II.

Literatur:

Bell, Alan P. & Weinberg, Martin S., 1978: Homosexualities: A Study of Diversity Among Men and Women. New York: Simon and Schuster.

D’Augelli, Anthony R., Grossman, Arnold H., Salter, Nicholas P., Vasey, Joseph J., Starks, Michael T. & Sinclair, Katerina O., 2005: Predicting the Suicide Attempts of Lesbian, Gay, and Bisexual Youth. Suicide and Life-Threatening Behavior, 35, 6: 646-660.

Gibson, Paul, 1989: Gay Male and Lesbian Youth Suicide, pp. 110-142 in: Feinleib, Marcia R. (ed.): Prevention and Intervention in Youth Suicide. (Report of the Secretary’s Task Force on Youth Suicide,  Vol. 3: Prevention and Interventions in Youth Suicide.). Washington, DC: U.S. Department of Health and Human Services.

Jay, Karla & Young, Allan, 1977:  The Gay Report: Lesbians and Gay Men Speak Out About Their Sexual Experiences and Lifestyles. New York: Summit.

Muehrer, Peter, 1995: Suicide and Sexual Orientation: A Critical Summary of Recent Research and Directions for Future Research. Suicide and Life-Threatening Behavior 25, s1: 72-81.

Shaffer, David, Fisher, Prudence, Hicks, R. H., Parides, Michael, Gould, Madelyn, 1995: Sexual Orientation in Adolescents Who Commit Suicide. Suicide and Life Threatening Behavior 25, s1: 64-71.

Wang, Jen, Häusermann, Michael, Wydler, Hans, Mohler-Kuo, Meichun & Weiss, Mitchell G., 2012: Suicidality and Sexual Orientation Among Men in Switzerland: Findings from 3 Porbability Surveys. Journal of Psychiatric Research 46,8: 980-986.

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