“Warum ich kein Christ bin” – Bertrand Russell zum Wochenende

Nietzsche zum Wochenende hat sich als beliebte Lektüre vieler Leser von ScienceFiles erwiesen. Ehrlich gesagt, hat uns das zunächst gewundert. Philosophen, noch dazu Philosophen vom Schlage eines Friedrich Nietzsche schaffen es nur noch an wenigen Universitäten überhaupt in das Vorlesungsverzeichnis, so dass man denken könnte, die Nachfrage nach Nietzsche ist, da er zunehmend in Vergessenheit zu geraten scheint, nein besser: da zunehmend das, was er geschrieben hat, in Vergessenheit zu geraten scheint und nur noch ein Zerrbild des Philosophen übrig bleibt, eher gering.

So kann man sich täuschen. Möglicherweise ist es gerade umgekehrt: Dass wir in einer Zeit leben, in der öffentliche Diskurse sich vornehmlich durch dünngeistige Langeweile und Wiederkauen des ewig Selben auszeichnen, schafft gerade die Nachfrage nach neuen Ideen, nach witzigen Einfällen, klaren Gedankengängen, nach Abwechslung vom Mainstream-Allerlei, das selbst dem flegmatischsten Betrachter irgendwann auf die Nerven gehen muss.

Wir haben uns deshalb entschlossen, die Philosophen, deren Werke unsere Bibliothek bestücken, in unregelmäßigen Abständen zu Wort kommen zu lassen. Und nachdem Nietzsche den Anfang gemacht hat, wollen wir heute mit Bertrand Russell, von dem Popper einmal gesagt hat, er beneide ihn um die Leichtigkeit seiner Sprache (nicht um das Zwingende seiner Argumentation…) weitermachen. Bertrand Russell hat in seinem leben viele Kämpfe ausgefochten, und wer seine Bücher liest, der kann bis heute am eigenen Schmunzeln nachvollziehen, was Popper gemeint hat.

Die Passage aus dem Werkt von Russell, die wir ausgewählt haben, stammt aus dem Vortrag, “Warum ich kein Christ bin”, der 1957 erstmals erschienen ist. Wir geben hier Teile der letzten drei Abschnitte wieder. Sie enthalten ein flammendes Plädoyer für Emanzipation, Individualität, gegen Kollektivismus und gegen die Fesseln, die die Religion dem menschlichen Geist auferlegt.

Russell“Wenn man sich auf der Welt umsieht, so muss man feststellen, dass jedes bischen Fortschritt im humanen Empfinden, jede Verbesserung der Strafgesetze, jede Maßnahme zur Verminderung der Kriege, jeder Schritt zur besseren Behandlung der farbigen Rassen oder jede Milderung der Sklaverei und jeder moralische Fortschritt auf der Erde durchweg von den organisierten Kirchen der Welt bekämpft wurde. Ich sage mit vollster Überlgung, dass die in ihren Kirchen organisierte christliche Religion der Hauptfeind des moralischen Fortschritts in der Welt war und ist.

Wie die Kirchen den Fortschritt verzögert haben

Vielleicht sind Sie der Meinung, ich gehe zu weit, wenn ich behaupte, dass das noch immer so ist. Ich bin nicht dieser Ansicht. […] Es gibt viele Methoden, mit denen gegenwärtig die Kirche durch ihr Beharren auf ihrer sogenannten Sittenlehre allen möglichen Menschen unverdientes und unnötiges Leiden zufügt. Und natürlich ist sie, wie wir wissen, zum größten Teil immer noch ein Gegner des Fortschritts und aller Verbesserungen, die das Leiden in der Welt verringern könten, weil sie unter Moral eine Vielzahl von Verhaltensregeln versteht, die mit menschlichem Glück überhaupt nichts zu tun haben. Wenn man sagt, dies oder jenes müsse geschehen, da es zum menschlichen Glück beitragen würde, so findet die Kirche, das habe mit der Sache überhaupt nichts zu tun. ‘Was hat menschliches Glück mit der Sittenlehre zu tun? Es ist nicht das Ziel der Sittenlehre, die Menschen glücklich zu machen’.

Angst als Grundlage der Religion

Die Religion stützt sich vor allem und hauptsächlich auf die Angst. Teils ist es die Angst vor dem Unbekannten und teils, …, der Wunsch, zu fühlen, dass man eine Art großen Bruder hat, der einem in allen Schwierigkeiten und Kämpfen beisteht. Angst ist die Grundlage des Ganzen – Angst vor dem Geheimnisvollen, Angst vor Niederlagen, Angst vor dem Tod. Die Angst ist die Mutter der Grausamkeit, und es ist deshalb kein Wunder, dass Grausamkeit und Religion Hand in Hand gehen, weil beide aus der Angst entspringen. Wir beginnen nun langsam die Welt zu verstehen und sie zu meistern, mit Hilfe einer Wissenschaft, die sich gewaltsam Schritt für Schritt ihren Weg gegen die christliche Religion, gegen die Kirche und im Widerspruch zu den überlieferten Geboten erkämpft hat. Die Wissenschaft kann uns helfen, die feige Furcht zu überwinden, in der die Menschheit seit so vielen Generationen lebt. Die Wissenschaft, und ich glaube auch unser eigenes Herz, kann uns lehren, nicht mehr nach einer eingebildeten Hilfe zu suchen und Verbündete im Himmel zu ersinnen, sondern vielmehr hier unten unsere eigenen Anstrengungen darauf zu richten, die Welt zu einem Ort zu machen, der es wert ist, darin zu leben, und nicht zu dem, was die Kirchen in all den Jahrhunderten daraus gemacht haben.

Was wir tun müssen

Betrand RussellWir wollen auf unseren eigenen Beinen stehen und die Welt offen und ehrlich anblicken – ihre guten und schlechten Seiten, ihre Schönheit und ihre Hässlichkeit; wir wollen die Welt so sehen, wie sie ist, und uns nicht davor fürchten. Wir wollen die Welt mit unserer Intelligenz erobern und uns nicht nur sklavisch von dem Schrecken, der von ihr ausgeht, unterdrücken lassen. Die ganze Vorstellung von Gott stammt von den alten orientalischen Gewaltherrschaften. Es ist eine Vorstellung, die freier Menschen unwürdig ist. Wenn man hört, wie sich die Menschen in der Kirche erniedrigen und sich als elende Sünder usw. bezeichnen, so erscheint das verächtlich und eines Menschen mit Selbstachtung nicht würdig. Wir sollte uns erheben und der Welt frei ins Antlitz blicken. Wir sollten aus der Welt das Bestmögliche machen, und wenn sie nicht so gut ist, wie wir es wünschen, so wird sie schließlich immer noch besser sein als das, was die anderen in all den Zeitaltern aus ihr gemacht haben. Eine gute Welt braucht Wissen, Güte und Mut; sie braucht keine schmerzliche Sehnsucht nach der Vergangenheit, keine Fesselung der freien Intelligenz durch Worte, die vor langer Zeit von unwissenden Männern gesprochen wurden. Sie braucht einen furchtlosen Ausblick auf die Zukunft und eine freie Intelligenz. Sie braucht Zukunfthoffnung, kein ständiges Zurückblicken auf eine tote Vergangenheit, von der wir überzeugt sind, dass sie von der Zukunft, die unsere Intelligenz schaffen kann, bei weitem übertroffen wird”

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