Kann Demokratie repräsentative Demokratie sein?

Beim Stöbern in unseren alten Buchbeständen sind wir wieder einmal auf Poppers “Alles Leben ist Problemlösen” gestoßen. Darin findet sich Beitrag, der  in dieser dunklen Zeit, die viele als demokratisch bezeichnen, einen Ausgangspunkt für weitere Überlegungen über Parteien, Demokratie und deren Vereinbarkeit bietet.

Downs economic theory democracyDenn: aus demokratietheoretischer Sicht leben wir in einer seltsamen Zeit, einer Zeit, in der Parteien Steuergelder unter sich und denen aufteilen, deren Unterstützung sie zu kaufen wünschen, einer Zeit, in der es nicht möglich zu sein scheint, abgehalfterte Politiker loszuwerden, geschweige denn, eine verbrauchte, zu keinem Zeitpunkt taugliche Regierung in die Wüste zu schicken.

Statt dessen sind Wähler dazu verurteilt zuzusehen, wie immer farblosere Gestalten mit immer noch weniger Wissen in die Politik drängen, um dort anderen sagen zu können, wo es lang geht, anderen, die in der Regel nicht nur über mehr Wissen und Erfahrung, sondern auch über mehr Intelligenz verfügen.

Es scheint, wir leben in einer Zeit, in der der Schwanz mt dem Hund wedelt.

Wie es soweit kommen konnte, dass demokratische System zu schlechten Imitationen derselben wurden, dass unter dem fadenscheinigen Mantel demokratischer Legitimität munter Selbstbedienung betrieben wird, ist eine Frage, bei deren Beantwortung der Beitrag von Popper, den er im Jahre 1987 veröffentlicht hat, einige Ansatzpunkte bietet, von dem wir dann weiterdenken wollen.

Popper Problemloesen“Wie ein jeder weiß, heißt ‘Demokratie’ auf deutsch ‘Volksherrschaft’ oder ‘Volkssouveränität’, im Gegensatz zu ‘Aristokratie’ (Herrschaft der Besten oder der Vornehmsten) und ‘Monarchie’ (Herrschaft eines einzelnen). Aber der Wortsinn hilft uns nicht weiter. Denn nirgends herrscht das Volk: Überall herrschen die Regierungen (und leider auch die Bürokratie, das heißt die Beamten, die nur schwer oder gar nicht zur Verantwortung gezogen werden können).

[…]

Es gibt eigentlich nur zwei Staatsformen: solche, in denen es möglich ist, die Regierung ohne Blutvergießen durch eine Abstimmung loszuwerden, und solche, in denen das nicht möglich ist. Darauf kommt es an, nicht aber darauf, wie man diese Staatsform benennt. Gewöhnlich nennt man die erste Form ‘Demokratie’ und die zweite ‘Diktatur’ oder ‘Tyrannei’.

[…]

Für die Absetzbarkeit gibt es verschiedene Methoden. Die beste Methode ist die einer Abstimmung: Eine Neuwahl oder ein Votum in einem gewählten Parlament kann die Regierung stürzen. […] es kommt nicht darauf an, wer regiert, solange man die Regierung ohne Blutvergießen loswerden kann. Jede Regierung, die man wieder loswerden kann, hat einen starken Anreiz, sich so zu verhalten, daß man mit ihr zufrieden ist. Und dieser Anreiz fällt weg, wenn die Regierung weiß, daß man sie nicht so leicht loswerden kann.

[…]

In den Demokratien des westeuropäischen Kontinents ist ein Wahlrecht verbreitet, das sich wesentlich von jenem Wahlrecht unterscheidet, das zum Beispiel in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten gültig ist und das auf der Idee der lokalen Repräsentation beruht. In Großbritannien entsendet jeder Wahlkreis einen Repräsentanten ins Parlament: den, der die meisten Stimmen bekommen hat. Welcher Partei und ob er einer Partei angehört oder nicht, wird offiziell nicht zur Kenntnis genommen. Seine Pflicht ist es, nach bestem Wissen und Gewissen die Interessen derer zu vertreten, die in seinem Wahlkreis wohnen, ob sie einer Partei angehören oder nicht. Natürlich gibt es Parteien, und sie spielen eine große Rolle bei der Regierungsbildung. Aber wenn der Repräsentant eines Wahlkreises glaubt, daß es im Interesse seines Wahlkreises ist (…), gegen seine Partei zu stimmen oder sogar mit ihr zu brechen, so ist er verpflichtet, es zu tun. Winston Churchill, der größte Staatsmann unseres Jahrhunderts, war niemals ein Gefolgsmann, und er hat zweimal die Partei gewechselt.

Ganz anders ist die Lage im kontinentalen Europa. Der Proporz besagt, daß jede Partei so viele Vertreter im Parlament – etwa im Bundestag – bekommt, daß die Zahl der Abgeordneten der verschiedenen Parteien in möglichst genauem Verhältnis zu den für die Parteien abgegebenen Stimmen steht.

Die Parteien sind damit von der Verfassung des Staates anerkannt und im Grundrecht verankert. Und der individuelle Abgeordnete wird ganz offiziell als Repräsentant seiner Partei gewählt. Daher kann er nicht die Pflicht haben, unter Umständen gegen seine Partei zu stimmen: Er ist, ganz im Gegenteil, moralisch an seine Partei gebunden, da er ja nur als Repräsentant dieser Partei gewählt wurde.

[…]

Ich weiß natürlich, daß man Parteien braucht: Niemand hat bisher ein demokratisches System erfunden, das ohne Parteien auskommt. Aber politische Parteien sind keine allzu erfreulichen Erscheinungen. […] Alle unsere Regierungen sind keine Volksregierungen, sondern Parteienregierungen. Das heißt Regierungen der Parteienführer; denn je größer eine Partei ist, um so weniger ist sie einig, um so weniger ist sie demokratisch, um so weniger Einfluß haben die, die für sie stimmen, auf die Parteiführung und das Parteiprogramm. Der Glaube, ein nach dem Proporz gewählter Bundestag oder ein Parlament sein ein besserer Spiegel des Volkes und seiner Wünsche, ist falsch. Er repräsentiert nicht das Volk und seine Meinungen, sondern lediglich den Einfluß der Parteien (und der Propaganda) auf die Bevölkerung am Wahltag. Und er macht es schwieriger, daß der Wahltag zu dem wird, was er sein könnte und sollte: ein Tag des Volksgerichts über die Tätigkeit der Regierung.

Es gibt also keine gültige Theorie der Volksherrschaft; keine gültige Theorie, den den Proporz fordert. So müssen wir fragen: Wie wirkt sich der Proporz in der Praxis aus. Erstens auf die Regierungsbildung, zweitens auf die so entscheidend wichtige Möglichkeit, eine Regierung zu entlassen?

1. Je mehr Parteien, um so schwieriger die Regierungsbildung. Das ist erstens eine Tatsache der Erfahrung, und zweitens ist es auch eine Tatsache der Vernunft: Wenn es nur zwei Parteien gäbe, dann wäre die Regierungsbildung leicht. Aber der Proporz macht es auch kleinen Parteien möglich, einen großen – oft einen entscheidenden Einfluss auf die Regierungsbildung zu gewinnen und damit sogar auf die politischen Entscheidungen der Regierung. Jeder wird das zugeben; und jeder weiß, daß der Proporz die Anzahl der Parteien vermehrt. Aber solange man annimmt, daß das ‘Wesen’ der Demokratie in der Volksherrschaft besteht, muß man, als Demokrat, diese Schwierigkeiten in Kauf nehmen, da der Proporz dann ja als ‘wesentlich’ erscheint.

2. Doch der Proporz, und damit die Vielzahl der Parteien, wirkt sich womöglich noch schlimmer aus, was die so wichtige Entlassung einer Regierung durch Volksentscheid angeht, also zum Beispiel durch die Neuwahl des Parlaments – erstens, da man weiß, daß es viele Parteien gibt und daher kaum erwarten kann, daß eine der vielen Parteien die absolute Mehrheit erreichen wird. Wenn daher diese Erwartung eintrifft, so hat sich eben der Volksentscheid gegen keine der Parteien ausgesprochen. Keine der Parteien wurde entlassen, keine der Parteien wurde verurteilt.

Zweitens erwartet man nicht, daß der Wahltag ein Tag des Volksgerichts über die Regierung ist. Manchmal war die Regierung eine Minderheitsregierung und daher nicht in der Lage zu tun, was sie für richtig hielt, sondern zu Konzessionen gezwungen; oder sie war eine Koalitionsregierung, in der keine der regierenden Parteien voll verantwortlich war.
So gewöhnt man sich daran, keine der politischen Parteien und keinen ihrer Führer für die Entscheidungen der Regierung verantwortlich zu machen. Und daß eine Partei etwa fünf oder zehn Prozent ihrer Stimmen verliert, wird von niemandem als Schuldspruch angesehen; am wenigsten von den Wählern, den Regierten: Es deutet nur auf ein momentanes Schwanken in der Popularität.
Drittens: Auch dann, wenn die Mehrheit der Wähler eine bestehende Mehrheitsregierung entlassen will, kann sie das nicht unbedingt erreichen. Denn selbst wenn eine Partei, die bisher die absolute Mehrheit hatte (so daß sie verantwortlich gemacht werden könnte), ihre Mehrheit verliert, so wird sie unter dem Proporz höchstwahrscheinlich noch immer die größte Partei bleiben. Daher wird sie mit der Unterstützung einer der kleinsten Parteien eine Koalitionsregierung bilden können. So wird der entlassene Führer der großen Parteien weiterregieren – gegen den Mehrheitsbeschluß und aufgrund der Entscheidung einer kleinen Partei, die meilenweit davon entfernt sein kann, den ‘Willen des Volkes’ zu repräsentieren.

[…]

Mir scheint die Form, die das Zweiparteiensystem möglich macht, die beste Form der Demokratie zu sein. Denn sie führt immer wieder zur Selbstkritik der Parteien. Wenn eine der beiden großen Parteien in einer Wahl eine richtige Schlappe erlitten hat, dann kommt es gewöhnlich zu einer radikalen Reform innerhalb der Partei. Das ist eine Folge der Konkurrenz und des eindeutigen Verdammungsurteils der Wähler, das nicht übersehen werden kann. So werden die Parteien durch dieses System von Zeit zu Zeit gezwungen, aus ihren Fehlern zu lernen oder unterzugehen. Meine Bemerkungen gegen den Proporz bedeuten nicht, daß ich allen Demokratien den Rat gebe, den Proporz aufzugeben. Ich wünsche nur, der Diskussion darüber eine neue Richtung zu geben. Der Gedanke, daß aus derIdee der Demokratie die moralische Überlegenheit des Proporzsystems logisch abgeleitet werden könnte und daß die kontinentalen Systeme wegen des Proporzes besser, gerechter oder demokratischer seien als die angelsächsischen Systeme, ist naiv und hält einer etwas eingehenderen Überlegung nicht stand” (Popper, 1996:207-213).

true powerBliebe anzumerken, dass die Etablierung von Berufspolitikern, die sich selbst bei kürzester Parlamentszugehörigkeit mit üppigen (Renten-)Bezügen versorgen können, zu einer Klasse politischer Funktionäre geführt hat, die ihre eigenen Interessen ins demokratische Spiel nicht nur einbringen, sondern auch durchsetzen können, Interessen, die z.B. eine finanzielle Absicherung auch im Falle einer Abwahl geschaffen haben und somit das beseitigt haben, was Demokratie erst möglich gemacht hat: Den Wettbewerb. Wo sich alle, unabhängig von ihrem Wahlerfolg aus den von Steuerzahlern finanzierten Töpfen satt essen können, gibt es keine Konkurrenz und keine Notwendigkeit, sich für die eigenen Wähler zu engagieren. Vielmehr gibt es Anzreize zum Trittbrettfahren, zum Abkassieren ohne Gegenleistung.

Insofern wurde Poppers Darstellung von der Zeit überholt, denn er hat nicht mit Berufspolitikern gerechnet, die über Parteilisten gesichert sind und keinerlei Verantwortung gegenüber ihren Wählern übernehmen müssen und wollen. Die damit verbundene Entwicklung zu Parteisoldaten, für die es wichtiger ist, sich mit dem Kreisvorsitzenden zu halten als mit den Wählern, die  zu repräsentieren, sie vorgeben und die sich daraus ergebenden Anreize für etablierte Gewählte, mit einander über Parteigrenzen zu kollaborieren, wenn es darum geht, die eigene Existenz unabhängig von Wahlausgängen zu sichern, führt vielmehr zu der Frage, ob Parteien Totengräber der Demokratie sind, ob es, anders als Popper formuliert hat, keine Demokratien ohne Parteien geben kann, sondern mit Parteien keine Demokratie.

Wir werden uns dieser Frage in einem der nächsten Posts widmen.

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