O’zapft is: Ab heute darf Europa gewählt werden

Panem et circences (Brot und Spiele), so wussten bereits die Römer, hält Reich und Leute zusammen. Panem et circences ist auch in modernen Gesellschaften das A und O der Stabilität. Ein besonderes Element in der Inszenierung moderner Staaten sind die allgemeinen und freien Wahlen, die z.B. dazu dienen, Parlamentsangehörige für Bundestag und Europaparlament zu bestimmen.

SPD_EP2014Nun, nach fünf langen Jahren, in denen man vom Europaparlament nur wusste, dass es in Straßburg (oder Brüssel) tagt, nun ist es soweit. Nach Wochen atemberaubenden Wahlkampfes, in denen die Wähler mit Fakten und der Wichtigkeit der Wahl zum Europaparlament, mit Hinweisen auf Großtaten der Europäischen Union bzw. auf die Missetaten der Europäischen Union traktiert wurden, dürfen sie nunmehr zur Tat schreiten und ihr Kreuz auf dem Zettel der Wahl machen.

Es ist dies ein wichtiges Kreuz. Es entscheidet darüber, wer nach Straßburg fahren darf, um dort ein Jahresgehalt zu kassieren, dass zwar nur 38,5% des Gehaltes eines Richters am Europäischen Gerichtshof erreicht, aber mit € 96.246,36 durchaus üppig ausfällt. Nicht zu vergessen die Reisetickets der Ersten Klasse, um nach Brüssel oder Straßburg zu kommen, sowie die € 4.243 für Reisen außerhalb der Europäischen Union. Und damit die Mitglieder des Europäischen Parlaments (MEPs) nicht auf Reisen vom Fleisch fallen, erhalten sie Verpflegungsgeld in Höhe von € 304 pro Reisetag. Da kranke MEPS, schlechte MEPs sind, und alle Europäer natürlich ein Interesse daran haben, dass erkrankte MEPs so schnell wie möglich wieder gesund werden, bekommen die MEPs die Kosten einer Behandlung zu 2/3 zurückerstattet. Die Gesundheit von MEPs geht wirklich über alles, deshalb wird auch Viagra zu 2/3 bezahlt. Schließlich, nicht zu vergessen, erhalten MEPs € 21.209 pro Monat um alle die Menschen zu beschäftigen, die Vorlagen der EU-Kommission, die Zeitung und die Reise-Wetterberichte für sie lesen, ihre Mitarbeiter.

CSU_Europa2014Es geht also um einiges für die Kandidaten, die sich aufmachen wollen, um in Brüssel oder Straßburg in einem Parlament zu sitzen und ausschließlich Gutes zu tun. Soweit ihnen das möglich ist, denn das Europäische Parlament ist eigentlich gar kein Parlament. Es ist keine Legislative, hat keinerlei Initiativrecht für neue Gesetze, wie dies für demokratische Parlamente die Norm ist. Das fehlende Recht soll damit kompensiert werden, dass das Europäische Parlament Gesetzesentwürfe, über die seine Mitglieder nach Ansicht der EU-Kommission reden dürfen, zurückweisen und ergänzen kann, eine Tätigkeit, die der Ministerrat zwar mit einem Federstrich zu Unfug erklären kann, aber es ist unzweifelhaft eine Tätigkeit. Und für diese Tätigkeit muss man entsprechend entlohnt werden, müssen alle 766 MEPs, die derzeit oder doch zumindest gelegentlich das Parlament bevölkern, entlohnt werden, … und Viagra bekommen.

Natürlich ist eine Wahl für die Bevölkerung wichtig, bietet sie doch die seltene Gelegenheit, zu der Politiker, die gewählt werden wollen, sich bei der Bevölkerung sehen lassen und um Stimmen buhlen –  mit ausgefeilten Parolen und wichtigen Inhalten, mit Slogans, die Anthony Downs bereits in den 1960er Jahren als denen, eines Waschmittelverkäufers vergleichbar, bezeichnet hat. Allerdings kann man einen Waschmittelverkäufer haftbar machen, wenn sein Waschmittel dreckig, statt sauber wäscht, bei MEPs ist dies nicht so. Dennoch ist Downs einer der Demokratietheoretiker, die mit ihrer Beschreibung der Funktion von Wahlen, der Realität am nächsten zu kommen scheinen.

Wahlen sind für Downs öffentliche Inszenierungen, einem Markt voller Marktschreier vergleichbar. Die Marktschreier preisen ihr Produkt an, um Kunden zu gewinnen. Die Kunden wiederum gehen freiwillig oder auch weniger freiwillig durch den Markt und kaufen das Produkt des Marktschreiers, dessen Werbung ihnen am besten gefällt. Man kann die Inszenierung einer Wahl auch als Parolenwettbewerb betrachten, an dessen Ende das Auditorium über die besten Parolen abstimmt, und die besten Paroler mit dem oben zusammengestellten üppigen Salär belohnt. Wie auch immer man es sehen will, für alle, die es mit Downs halten, sind Wahlen eine Form von Bewerbungsgespräch, bei dem Politiker bei Wählern um deren Stimme buhlen, die wiederum für die Politiker bares Geld wert ist.

Gruene_EP2014Dagegen stehen normative Demokratietheorien, wie sie z.B. Charles Taylor (2002) vertritt. Normative Demokratietheorien sehen die Wahl als eine ernste Angelegenheit, bei der die Volksgewalt auf Repräsentanten übertragen wird. Wahlen, so stellt z.B. Wichard Woyke zusammen (2005, S.18) dienen der (1) Legitimation des politischen Handelns der Gewählen und (2) der Repräsentation des politischen Willens der Wähler. Sie sollen eine (3) politische Richtungsbestimmung sein und (4) die Möglichkeit zur Abwahl vorheriger Repräsentanten bereitstellen sowie (5) das Eigeninteresse der Gewählten transportieren. Entsprechend beinhalte die Wahlentscheidung (6) die Herausbildung und Äußerung des Volkswillens und (7) die Machtzuweisung auf Zeit.

In Kurz: Wer wählen geht ist verantwortlich für alles, was anschließend in seinem Namen getan wird, d.h. er darf sich nicht darüber beklagen, was seine Vertreter anschließend tun, denn er hat sie zum Tun legitimiert und ermächtigt. Soviel zur Kritik an der Europäischen Union und ihren Institutionen. Nur wer nicht wählen geht, hat das Recht, sich über das zu beklagen, was aus Brüssel kommt.

Piraten_EP2014Wahlen haben auch einen altruistischen Charakter, haben Wähler doch eine Verantwortung gegenüber den Politikern, die keinen richtigen Beruf erlernt haben und nunmehr quasi darum betteln, man möge ihnen doch ein Auskommen in Straßburg (oder Brüssel) im dortigen Parlament ermöglichen. Aber es soll ja besonders hartherzige Menschen geben, die Nichtsnutzen nicht noch helfen wollen und statt dessen die Wahl und die damit einhergehende Legitimation verweigern. Und es soll Wähler geben, die sich angesichts des Angebots, das zur Wahl steht, abwenden und auf bessere Zeiten hoffen.

Schließlich finden Wahlen immer auf vorgedruckten Zetteln statt, mit vorgefertigtem Angebot, an dem Wähler nichts ändern kann. Bei uns ist das anders. Wir haben uns entschlossen, eine offene Wahl durchzuführen und die Leser von ScienceFiles darüber entscheiden zu lassen, was Sie für Europa wählen würden, wenn sie es könnten. Die Wahl ist natürlich allgemein und geheim, und wir werden die besten Wahlen auf ScienceFiles präsentieren. Und damit ein Anreiz geschaffen ist, prämieren wir den besten Wahlvorschlag mit einer ScienceFiles-Mug.

Zur Wahl:

Downs, Anthony (1968). Ökonomische Theorie der Demokratie. Tübingen: J.C.B. Mohr.

Taylor, Charles (2002). Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie? S. 11-29 in: Taylor, Charles: Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Woyke, Wichard (2005). Stichwort Wahlen. Ein Ratgeber für Wähler, Wahlhelfer und Kandidaten. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften.

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