Nichtwählen – Die Alternative für Demokraten?

Unser Beitrag über den Beginn der Europawahl im Vereinigten Königreich hat eine Diskussion über die Nichtwahl ausgelöst. Wir wollen diese Diskussion zum Anlass nehmen, um uns mit den drei Punkten zu beschäftigen, die Nichtwählern gewöhnlich entgegen gehalten werden:

  • Wählen ist demokratische Pflicht, Nichtwahl eine Abkehr von der Demokratie.
  • Wer nicht wählen geht, verschwendet den wenigen Einfluss, den er sowieso nur hat.
  • Wer nicht wählt, darf sich hinterher nicht beschweren.

Um diese Behauptungen zu untersuchen, ist es zunächst einmal sinnvoll, kurz zusammenzustellen, was der Zweck von Wahlen, ihre Funktion als solche ist:

EuropawahlWahlen sind institutionalisierte Inszenierungen, die der Legitimation des politischen Systems und seiner Akteure dienen. Ihr Ziel besteht darin, die Volksgewalt symbolisch von Wählern auf ihre Repräsentanten zu übertragen.

Wählen ist demokratische Pflicht, Nichtwahl eine Abkehr von der Demokratie.

Warum sollte Wählen eine demokratische Pflicht sein? Die Behauptung ist nicht ganz nachvollziehbar, denn Demokratien werden der Legende zufolge von autonomen und selbstverantwortlichen Individuen bevölkert, und deshalb kann Wahl keine Pflicht sein, setzt die Erklärung von Wahlen zur Pflicht doch die Existenz einer höheren Instanz voraus. Deren Existenz hätte zur Folge, dass Indivdiuen nicht autonom und selbstverantwortlich sein können, vielmehr weisungsgebunden, Wahl-weisungsgebunden sind.

Aber wer nicht wählen geht, der wählt damit die Demokratie ab.

Diese Behauptung ist ein klassischer Fehlschluss, denn aus der Tatsache, das jemand nicht wählen geht, folgt, dass er nicht wählen geht, nicht mehr und nicht weniger. Entsprechend kann die Nichtwahl gerade das Mittel sein, das zur Rettung der Demokratie eingesetzt wird, zum Beispiel dann, wenn sich eine autokratische Oligarchie gebildet hat, die ihre Ziele durch Wahl zu legitimieren sucht, Ziele, die mit demokratischen Grundwerten nicht zu vereinen sind.

Eine breite Abstinenz von der Wahl am 5. März 1933 hätte vermutlich nicht die Machtergreifung der Nationalsozialisten verhindert, aber ein Zeichen dahingehend gesetzt, dass die Machtergreifung nicht durch die Mehrheit der Wähler legitimiert ist. Da sich 88,7% der Wähler an der entsprechenden Wahl beteiligt haben und die NSADP mit 43,9% der Stimmen eine klare Mehrheit errungen hat, muss man leider feststellen, dass die NSDAP und alles was der Machtergreifung nachfolgt demokratisch legitimiert war.

Ob die angesprochenen Jugendlichen darauf hereinfallen?
Ob die angesprochenen Jugendlichen darauf hereinfallen?

Generell ist die Abstinenz von einer Wahl das einzige Mittel, das es ermöglicht, seine Hände vom vorhandenen politischen System zu waschen und nachfolgend keinerlei Verantwortung für das, was regiert wird, übernehmen zu müssen. Dies führt zum nächsten Irrtum, den Wähler immer wieder begehen, Wähler, die Parteien gewählt haben, die nicht in die Regierung gelangt sind und entsprechend Opposition sein sollen. Aus dieser Wahl der Opposition wird dann eine nicht-Verantwortung für das abgeleitet, was die regierende Partei oder die regierende Koalition tut.

Dies ist ein weiterer Fehlschluss: Bei Wahlen geht es darum, das gesamte System zu legitimieren. Es ist ein Kern demokratischer Willensbildung, dass durch Wahl das gesamte System legitimiert wird und dass die unterlegenen Wähler und Parteien sich an den demokratischen Grundkonsense halten und entsprechend ertragen, was die Regierung erlässt. Gewählte Opposition dient der Kontrolle der Regierung, muss also sichern, dass Verfahrensregeln eingehalten werden. Gewählte Opposition soll keinen Einfluss auf Inhalte haben. Ihre Funktion besteht nicht darin, Einfluss zu haben, sondern darin, Wähler, die in Opposition zur Regierung stehen, in das politische System zu integrieren.

Wer nicht wählen geht, darf sich hinterher nicht beschweren.

Wer wählen geht, stimmt implizit der Folge seiner Wahl zu, dass er dann, wenn er die Partei gewählt hat, die nicht in die Regierung gelangt ist, sich vier lange Jahre mit dem begnügt, was die nun Oppositionspartei weitgehend ohne Einfluss äußert. Wähler der Regierungs- wie der Oppositionsparteien erklären sich einverstanden, das zu ertragen, was die Regierungspartei im Namen von nunmehr allen Deutschen tut, und sie verpflichten sich, keinen gewaltsamen Versuch zu unternehmen, die Regierung zu stürzen.

rational-non-voterLogisch folgt daraus, dass nur, wer nicht wählen geht, das Recht hat, sich anschließend über das, was im Namen des deutschen Volkes im Bundestag veranstaltet wird, zu beschweren, denn die Parteien wurden durch ihn nicht legitimiert, und entsprechend sind sie auch nicht in der Lage, in seinem Namen zu regieren.

Wer nicht wählen geht, verschwendet den wenigen Einfluss, den er sowieso nur hat.

Das ist der ulkigste der Einwände, denn welchen Einfluss hat das Kreuz von Hans X auf das Wahlergebnis? Es ist eines dieser Mysterien moderner Gesellschaften, dass Akteure wählen gehen, wohlwissend, dass ihre Stimme dann, wenn sie nicht abgegeben worden wäre, keinen Unterschied bewirkt hätte: Weder wäre der Wahlausgang ein anderer noch wäre die Sitzverteilung eine andere. Die Stimme eines jeden Einzelnen ist demnach wirkungs-, wenn nicht nutzlos. Daher kann man durch Nichtwahl nichts verschwenden, denn die Wahl an sich hat keinerlei materiellen Gehalt. Sie mag für manche einen immateriellen Gehalt haben. Manche mögen affektiv oder aus sonstigen irrationalen Gründen an der Abgabe ihrer Stimme am Wahltag hängen, sie mögen denken, die Demokratie breche zusammen, wenn ausgerechnet sie nicht wählen, aber nichts davon ist der Fall, denn es ist nicht so, dass jede Stimme zählt, vielmehr haben Einzelstimmen keinen Wert.

Wahlen sind nämlich Verfahren, die ent-individualisieren. Hans X geht in der Gruppe der Wähler der SPD oder der AfD oder der CDU auf, wird zum Teil eines Ganzen. Er hört als einzelner Wähler auf, existent zu sein. Weil dem so ist, können die Interessen von Hans X durch die Wahl der Partei, die Hans X gewählt hat, auch nicht wahrgenommen werden. Das wäre auch zu viel verlangt, denn die Politiker in der gewählten Partei wissen gar nichts von den Interessen von Hans X. Sie wissen auch nicht um die Interessen ihrer anderen Wähler, weshalb sie auch die Interessen der anderen Wähler nicht wahrnehmen können. Vielmehr definieren Parteien die Interessen derjenigen, die sie gewählt haben, und zwar nachdem sie gewählt wurden.

Non voterSie oktroyiern Parteiinteressen auf Wähler und behaupten, die Parteiinteressen seien eigentlich die Interessen der Wähler. Entsprechend wird es zum Interesse aller Wähler erklärt, dass die EU Milliarden in die Subventionierung der Landwirtschaft steckt und damit die Preise für landwirtschaftliche Güter und für alle künstlich erhöht. Es wird zum Interesse aller erklärt, die wählen gehen, dass die EU-Kommission eine Frauenquote im Vorstand börsennotierter Unternehmen durchsetzt. Es wird zum Interesse aller Wähler erklärt, dass die Parteien im Bundestag sich eine üppige Parteienfinanzierung gönnen, dass sie politische Stiftungen unterhalten, die die Steuerzahler mehr als 500 Millionen Euro im Jahr kosten, dass sich Politiker Rentenansprüche zugestehen, die man angesichts der Kürzungen bei der Gesetzlichen Rentenversicherung nur als unanständig bezeichnen kann, und es wird zum Interesse aller Wähler erklärt, dass Parteien ihnen erklären, wem gegenüber sie tolerant und freundlich zu sein haben und wem gegenüber nicht.

Wahlen dienen der Legitimation des politischen Systems. Deshalb legitimiert jeder, der wählen geht, alles, was anschließend passiert. Es kann auch gar nicht anders sein, denn seine höchstpersönlichen Interessen sind Politikern in Opposition und Regierung überhaupt nicht bekannt. Daher wäre es mehr als ein Zufall, wenn ausgerechnet seine Interessen von einer Partei, egal, ob sie sich in Opposition oder Regierung befindet, umgesetzt würden. Wahlen sind symbolische Veranstaltungen, die dazu dienen, die Parteioligarchie zu legitimieren und damit alle Parteien.

Wer die gesamte Parteioligarchie nicht legitimieren will, der darf nicht wählen gehen.

Nichtwahl ändert natürlich nichts daran, dass Parteien und Politiker sich vornehmlich die eigenen Taschen füllen, aber jeder Nichtwähler trägt mit seiner Nichtwahl dazu bei, dass der Anschein der Demokratie, mit dem sich die Parteioligarchie umgibt, bröckelt und das darunterliegende Parteidiktat sichtbar wird. Und deshalb ist es zudem wichtig, dass Nichtwähler die Gründe ihrer Nichtwahl artikulieren und damit deutlich zu erkennen geben, dass sie wissen, dass sie nicht durch die Parteioligarchen repräsentiert werden.

P.S.
Wären Parteien tatsächlich an Demokratie interessiert, sie müssten sich hektisch auf den Weg machen, um die Gründe zu ermitteln, die Nichtwähler bewogen haben, der Wahl fern zu bleiben. Sie müssten sich – wie es in der Politikwissenschaft heißt – responsiv verhalten und etwas an ihrem personellen Angebot oder ihren Themen ändern. Die Tatsache, dass etablierte Parteien sich um Nichtwähler nicht kümmern, sie nur dann im Munde führen, wenn man Nichtwähler benutzen kann, um Schuld am Wahlausgang zu attribuieren, zeigt deutlich, dass Parteien nicht an Demokratie interessiert sind, sondern daran, ihre eigenen Interessen zu verfolgen, und die eigenen Interessen bestehen zunächst darin, sich selbst und dann seine Vasallen zu bereichern.

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