Aktive Sterbehilfe: eine Frage der Selbstbestimmung

Die Frage danach, ob aktive Sterbehilfe erlaubt sein soll oder nicht, rührt an den Grundfesten westlicher Gesellschaften, insbesondere an dem, was viele als christliches Erbe sehen. Dieses christliche Erbe sieht es vor, sich auch oder gerade um die zu kümmern, die sich nicht mehr selbst versorgen können, in Altersheimen zum Beispiel, in denen alte Menschen, die ein selbstbestimmtes Leben geführt haben und nach dem Tod ihres Partners alleine weitergelebt haben, am Ende ihrer Tage in ein Zweibettzimmer gezwängt werden, um dort darauf zu warten, dass sie die Mildtätigkeit ihrer Gesellschaft erreicht, natürlich innerhalb der Arbeitszeiten und nur im Hinblick auf die Grundbedürfnisse.

Am anderen Ende der “sich-kümmern”-Skala stehen die Kranken und Pflegefälle, die zuweilen keinerlei eigenen Beitrag mehr zu ihrem Leben leisten können, deren Leben im Gegenteil zu einer von Schmerzen gepeinigten Hölle geworden ist, wie dies bei Tony Nicklinson der Fall war, dessen Beispiel als das Beispiel eines Verzweifelten, dem die Sterbehilfe von britischen Gerichten verweigert wurde, durch die Presse gegangen ist.

dignity in dyingAber sein Leiden scheint nicht umsonst gewesen zu sein, denn ausgerechnet der ehemalige Archbishop of Canterbury, also das ehemalige geistliche Oberhaupt der Church of England, Lord Carey, hat nun seine Entscheidung publik gemacht, einen Gesetzentwurf zur Legalisierung aktiver Sterbehilfe, der zur Zweiten Lesung im House of Lords ansteht, zu unterstützen. Es sei vor allem der Fall Nicklinson gewesen, der seine alten philosophischen Sicherheiten darüber, dass Sterbehilfe falsch sei, zum Einsturz gebracht habe, so Lord Carey, dem es nunmehr darum geht, unnötiges Leiden zu verhindern, und zwar durch seine Unterstützung für das Gesetz, das im Vereinigten Königreich die aktive Sterbehilfe erlauben soll.

Lord Carey hat seine Meinung angesichts der Realität geändert. Die Wirklichkeit war noch immer das beste Mittel gegen Ideologie. Auch der überzeugteste Sozialist fängt an, Eigentum zu verteidigen, wenn er mit Knappheiten konfrontiert ist und der Gefahr, seinen Lebensstandard aufgeben zu müssen. Noch der Überzeugteste unter denen, die die Sterbehilfe ablehnen, wird seine Ablehnung zumindest überdenken, wenn er mit der Realität, wie sie Fälle wie der von Tony Nicklinson nun einmal darstellen, konfroniert ist.

Für Liberale ist die Frage aktiver Sterbehilfe sowieso keine Frage: Für Liberale ist Selbstbestimmung der höchste Wert, und entsprechend ist die freie Entscheidung eines Individuums, sein Leben zu beenden, zu akzeptieren und zu respektieren. Man könnte dies auch in Frageform verpacken und fragen: Wer gibt jemandem das Recht, die freie Entscheidung eines anderen, sterben zu wollen, nicht zu akzeptieren, und auf welcher Grundlage nimmt sich jemand das Recht, diese freie Entscheidung nicht zu respektieren?

Auf diese Frage gibt es in der Regel drei gleichermaßen unbefriedigende Antworten:

  • Gläubige behaupten, es sei Sünde, sein Leben zu beenden und Mord bei Selbstmord zu helfen, selbst wenn das in Frage stehende Leben mit noch so viel Schmerzen und Leid verbunden ist. Diese Position ist weder begründet noch belegbar, denn das Konzept der Sünde rekurriert auf einen Gott, dessen Existenz bislang unbewiesen ist. Daher sind die vermeintlichen Verhaltensgesetze, die Selbstmord oder Sterbehilfe verbieten, auf Basis ihrer moralischen Qualität zu beurteilen, was letztlich bedeutet, die Schmerzen und das Leid, das ein konkreter Mensch zu erdulden hat und das ihn dazu bewegt, seinem Leben ein Ende setzen zu wollen, müssen mit der Wichtigkeit, der entsprechenden religiösen Regeln, die Leid in Kauf nehmen, um aufrechterhalten werden zu können, gewichtet werden. Man hat also die Wahl, aus Prinzip dem Leiden anderer zuzusehen, es in Kauf zu nehmen oder das Leiden zu verkürzen und das Prinzip entsprechend aufzugeben. Ein Prinzip, das individuelles Leiden akzeptiert, ist keine Basis, auf der die freie Entscheidung anderer in Abrede gestellt werden kann, denn wer hat das Recht, andere gegen ihren Willen zum Leiden zu verurteilen,  und die Entscheidung dennoch nicht akzeptiert und respektiert wird, dann auf Basis einer Motivation der Herrschaft über und Kontrolle von anderen.
  • assisted-suicide-thumbDas führt zur nächsten Position, die behauptet, die Erlaubnis aktiver Sterbehilfe würde die Schleusen für Missbrauch öffnen und dazu führen, dass alte Menschen, die sich nicht wehren können, von ihren erbgierigen nächsten Verwandten entsorgt werden. Nun ja, das Argument wird gewöhnlich in paternalistischer Schutzterminologie verpackt, aber die versteckten Prämissen sind diejenigen, die wir gerade ausgesprochen haben. Auch diese Position ist nicht haltbar, denn in allen Dingen, in denen Menschen etwas tun oder regeln, liegen Missbrauch und Gebrauch nahe beeinander. Wer den Missbrauch generell ausschließen will, der muss das menschliche Leben ausschließen, was im unmittelbaren Fall Selbstmord bedeuten würde, was wiederum eine groteske Konsequenz der eigenen absurden Position ist.
  • Schließlich gibt es noch eine Art moderner Moralapostel, der prinzipiell ein Problem damit hat, Menschen allzu viel Freiheit über ihr eigenes Leben zuzugestehen. Während Philosophen im 16. 17. und 18. Jahrhundert (von Bacon und Hobbes über Locke bis Kant) den Ursprung aller Entscheidungsgewalt im Individuum festgemacht haben, haben diese Moralapostel die Welt in ihr Gegenteil verkehrt: Nicht Individuen haben heute die Hoheit über Entscheidungen, die ihr Leben betreffen, sondern kollektive Akteure, Gruppen, Gesellschaften, Regierungen, also Gebilde, die es nicht gibt, die man aber sehr gut zu Zwecken von Kontrolle und Herrschaft einsetzen kann. Und so hat sich über die Zeit die Normalität eingeschlichen, dass die Frage, ob ich sterben will und kann, eine Frage ist, die von Dritten entschieden wird. Nirgends wird die schleichende Entmündigung von Individuen, die in modernen Staaten stattgefunden hat, so deutlich wie in Fragen, die mit dem menschlichen Leben zusammenhängen. Egal, ob damit Sterbehilfe oder Abtreibung gemeint sind, ständig finden sich interessierte Dritte, von denen man nicht wirklich weiß, welche Zwecke sie verfolgen und welche Motivation sie antreibt, die denken, sie könnten die freie Entscheidung von Individuen aussetzen, letztere daran hindern, ihr Leben in letzter Konsequenz selbst in die Hand zu nehmen. Auch diese Position ist aus liberaler Sicht nicht haltbar, denn sie entmündig den Einzelnen zu Gunsten einer amorphen Masse von Interessen und Handlungsmotivationen Dritter, die zum Missbrauch geradezu einlädt.

Und so kommen wir zum Ende dieser kurzen Abhandlung zu dem Schluss, dass es an sich schon eine Unglaublichkeit ist, dass man darüber diskutiert, ob der Entschluss, sterben zu wollen, den ein freies Individuum trifft, respektiert und akzeptiert werden muss oder nicht. Aber wenn man nun schon einmal mit einer Realität konfrontiert ist, die individuelle Freiheit nur als Travestie kennt, dann ist jede Besserung besser als keine Besserung, und deshalb gibt es keine Alternative zu einem Gesetz, das die aktive Sterbehilfe erlaubt, wie dies im Vereingten Königreich hoffentlich bald in Kraft treten wird.

Auch dieses Gesetz ist nicht wirklich ein Durchbruch gegenüber dem allgegenwärtigen Paternalismus, denn der Wunsch zu sterben, wird zu einem Bittgang, dem zwei Ärzte zustimmen müssen. Aber scheinbar ist die Angst vor den Angehörigen so begründet und so groß, dass man Schutzmechanismen einbauen muss, die aktive Sterbehilfe zum Zwecke schnellerer Erbschaft erschweren.

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