Das Papier nicht wert: Vernichtendes Urteil über rechtspsychologische Gutachten

Vor einigen Jahren hat Dr. habil. Heike Diefenbach den Begriff der Positionsgesellschaft geprägt. Deutschland ist eine solche Positionsgesellschaft. Das Markenzeichen einer Positionsgesellschaft besteht darin, dass nicht die tatsächliche Leistung, die eine Person erbringt, Gegenstand der Beurteilung dieser Leistung ist, sondern die Position dessen, der die Leistung erbringt. Anders formuliert handelt es sich um einen Fehlschluss ad auctoritatem in einer spezifischen Form, die mehrere Varianten hat:

  • charlatanPersonen, die z.B. eine wissenschatfliche Position an einer Universität eingenommen haben, leiten daraus ab, dass Sie nun Wissenschafter sind und entsprechend das, was sie tun, wissenschaftliches Arbeiten sein muss.
  • Institutionen, die z.B. Expertisen vergeben, gehen davon aus, dass dann, wenn sie eine Expertise bestellen und z.B. einen Nachwuchswissenschaftler rekrutieren, der dieselbe erstellen soll, sie auch eine Expertise erhalten. Nicht Kenntnisse und Erfahrung machen entsprechend Expertise aus, sondern die Bezeichnung eines Dokuments als solche.
  • Institutionen, die z.B. eine Beurteilung zu einem psychologischen Thema erhalten wollen, gehen davon aus, dass jeder, der ein psychologisches Studium absolviert hat, dazu geeignet ist, die entsprechende Beurteilung abzugeben.

Dies sind nur einige Beispiele der vielen Irrtümer, zu denen der Glauben an die Positionsgesellschaft führt. Gemeinsam ist den Irrtümern, dass sie die Realität quasi verkehrt herum bauen: Nicht die tatsächliche Leistung ist das, was Grundlage einer Bewertung ist, sondern die Position dessen, der die Leistung erbracht hat. Entsprechend findet sich unter so genannten Expertisen der größte Unsinn und Personen, die eine Position an einer Universität inne haben, geben Unsinn von sich, der mit Wissenschaft nun gar nichts zu tun hat.

Die Folgen der Positionsgesellschaft sind erheblich, denn der Glauben an die Positionsgesellschaft erlaubt es Scharlatanen, die keinerlei Kenntnisse besitzen, als Experten oder Gutachter oder Wissenschaftler durchzugehen und die Leben einer Vielzahl von Menschen zu beeinflussen, in der Regel zu beeinträchtigen.

Ein besonders gravierendes Beispiel kommt aus Nordrhein-Westfalen. Das Beispiel wird von Prof. Dr. Christel Salewski, Prof. Dr. Stefan Stürmer sowie fünf wissenschaftlichen Mitarbeitern bereit gestellt, und zwar in Form einer Untersuchung, die in Deutschland zu den Seltenheiten im wissenschaftlichen Feld gehört. Es ist eine Untersuchung, die die Qualität von psychologischen Rechtsgutachten untersucht. Man kann derartige Untersuchungen wie die von Salewski und Stürmer gar nicht genug loben, denn diese Art Untersuchungen kommen in einer Positionsgesellschaft wie Deutschland eigentlich nicht vor.

Man stelle sich nur die Hypothese vor, auf der die Untersuchung basiert: Im Land Deutschland, in dem die Position die Leistung bestimmt, kommen Salewski und Stürmer zu der Hypothese, dass nicht jeder, ungeachtet davon, ob er die gleiche Position wie ein anderer bekleidet, dieselbe Leistung erbringt wie dieser andere: Ungleichheit im Land der Gleichheitsapostel – unerhört. Und dennoch: Salewski und Stürmer haben ihre Hypothese in Forschung gepackt, in explosive Forschung zudem, in die Erforschung der Qualität von rechtspsychologischen Gutachten, die von Familiengerichten in Auftrag gegeben werden, um die Frage, wem der streitenden Eltern das Sorgerecht für die gemeinsamen Kinder zugesprochen werden soll, zu beantworten.

“Welche Qualität weisen diese rechtspsychologischen Gutachten auf?”, so haben sich Salewski und Stürmer gefragt.

Die Antwort haben sie im OLG-Bezirk Hamm gesucht. Der OLG-Bezirk Hamm umfasst 38 Amtsgerichte, die Salewski und Stürmer gebeten haben, an der Untersuchung mitzuwirken. 29 dieser Amtsgerichte haben es nicht für notwendig befunden, an der Untersuchung mitzuwirken. In diesen Amtsgerichten, so kann man annehmen, herrscht der Glaube an die Positionsgesellschaft und man weiß um die Qualität der rechtspsychologischen Gutachten auch ohne dieselbe zu prüfen oder man will von der Qualität der rechtspsychologischen Gutachen lieber nichts wissen.

olg-hammVon den verbleibenden 9 Amtsgerichten haben sich schließlich 4 bereit erklärt, alle rechtspsychologischen Gutachten, die von Familienrichtern an diesen Amtsgerichten in den Jahren 2010 und 2011 in Auftrag gegeben wurden, zur Untersuchung beizusteuern. Nach Aussonderung von 9 Gutachten, die schon auf den ersten Blick als Humbug klassifiziert werden konnten, sind 116 Gutachten im Umfang zwischen 10 und 137 Seiten für die Untersuchung übrig geblieben.

Die Untersuchung, die Salewski und Stürmer gemeinsam mit ihren 5 Mitarbeitern durchgeführt haben, sei Studenten der Sozialwissenschaften wärmstens ans Herz gelegt, denn sie ist ein Musterbeispiel für eine gut und methodisch sauber gemachte Evaluationsstudie. Wer wissen will, wie man die Qualität von wissenschaftlichen Arbeiten oder wissenschaftlichen Gutachten beurteilt, der wird bei Salewski und Stürmer fündig.

In einem mustergültigen theoriegeleiteten Vorgehen haben Salewski und Stürmer zunächst aus den Ansprüchen, die an ein rechtspsychologisches Gutachten gestellt sind, vier Kategorien abgeleitet, die entsprechend in rechtspsychologischen Gutachten enthalten sein müssen, um dem wissenschaftlichen Anspruch, der an sie gerichtet ist, gerecht zu werden.

Demnach muss in den Gutachten:

  • der gerichtliche Auftrag, der an das Gutachten gestellt ist, in Arbeitshypothesen, die nachvollziehbar und prüfbar sind, übertragen werden;
  • die Methode, über die Informationen gewonnen werden, die zur Prüfung der Arbeitshypothese herangezogen werden, begründet werden;
  • die Qualität der so erhobenen Daten anhand der gängigen Kriterien von Reliabilität und Validität bewertet werden;
  • die Schlüsse, die auf Grundlage dieser Daten gezogen werden, mit Blick auf die benutzten Methoden kritisch diskutiert werden;

Diese Kriterien haben die Forscher an die 116 rechtspsychologischen Gutachten, die sie ausgewertet haben, angelegt und: Das Ergebnis ist verheerend.

Rechtspsychologische Gutachten, so muss man nach der Untersuchung von Salewski und Stürmer feststellen, sind in der Mehrzahl keine wissenschaftlichen Gutachten, sondern Ergüsse der jeweiligen Autoren, in denen dieselben darstellen, was ihnen gerade in den Sinn kommt. Sie sind willkürliche al-gusto Darlegungen, die keinerlei Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, geschweige denn Objektivität erheben können.

Im Einzelnen kommen Salewski und Stürmer zu den folgenden Ergebnissen:

  • In 56% der Gutachten leiten die Gutachter keinerlei Arbeitshypothese aus dem gerichtlichen Auftrag ab. In anderen Worten: In 56% der Gutachten haben die Gutachter willkürlich drauf los gegutachtet, ohne sich an eine feste Fragestellung zu halten.
  • In 85,8% der Gutachten wird nicht begründet, warum die Daten, die dem Gutachten zu Grunde liegen, in der Weise erhoben wurden, in der sie erhoben wurden, d.h. 85,8% der Gutachten sind mit hoher Wahrscheinlichkeit willkürlich erstellt und geben nur das wieder, was der Gutachter so denkt. Für diese Annahme spricht, dass
  • in 35% der Fällen keinerlei methodische Datenerhebung erfolgt ist. Vielmehr wird gesammelt, was dem Gutachter passend zu sein scheint, wobei, wie Salewski und Stürmer in kaum zu steigerndem Euphemismus schreiben “methodisch problematische Verfahren” zum Einsatz kommen.
  • In 2 der 116 Gutachten diskutieren die Gutachter zum Abschluss die Beschränkungen des eigenen Vorgehens.

mountebankWenn man diese verheerenden Ergebnisse Revue passieren lässt, dann kommt man nicht umhin festzustellen, dass der durchschnittliche Gutachter, der in Familienstreitigkeiten rechtspsychologische Gutachten erstellt, ein unfähiger, zum Begutachten untauglicher und mit keinerlei Selbstzweifel behafteter, prätentiöser Scharlatan ist, der im Mittelalter aus der Stadt gejagt worden wäre, weil seine Quacksalbe Schaden und nicht Heilung zur Folge hat.

Nun leben wir nicht mehr im Mittelalter, sondern in einer Positionsgesellschaft, in der Richter annehmen, dass Personen, die rechtspsychologische Gutachten erstellt, dazu fähig sind, rechtspsychologische Gutachten zu erstellen. Aus der Logik der Institution “Familiengericht” heraus, ist es zwangsläufig, dass Gutachten immer dann in Auftrag gegeben werden, wenn der Richter nicht selbst entscheiden will. Entsprechend wird die Mehrzahl der Richter dem Gutachten folgen, mit den entsprechenden Folgen für die Kinder, über deren weiteres Leben entschieden wird.

Wie es sein kann, dass Unfähigkeit in dem von Salewski und Stürmer gefundenen Ausmaß Einlass in deutsche Familiengerichte finden und Ausschlag bei Entscheidungen im Hinblick auf das Sorgerecht geben kann, ist eine Frage, die sich ebenso aufdrängt, wie sie sich einfach beantworten lässt, und zwar mit einem Verweis auf die Positionsgesellschaft.

Der Glaube an die Positionsgesellschaft ermöglicht es, dass unfähige Personen, in diesem Fall rechtspsychologische Gutachter, zu deren Gunsten wir annehmen wollen, dass sie sich ihrer eigenen Inkompetenz nicht bewusst sind, derselbe Wert zugewiesen wird, wie fähigen Gutachtern. Da keinerlei Qualitätskriterien an die Gutachten herangetragen werden, deren Wert vielmehr über die institutionelle Anbindung oder den Bildungsabschluss der Gutachter festgelegt wird, fällt niemandem auf, dass die angeblichen Gutachten das Papier nicht wert sind, auf das sie gedruckt wurden.

Und am Ende zeigt sich, dass die Positionsgesellschaft mit einem Race to the Bottom verbunden ist, damit, dass die Inkompetenten langsam aber sicher die Oberhand gewinnen, da niemand Standards und Qualitätskriterien einfordert – fast niemand, heißt das, und deshalb kann man die Untersuchung von Salewski und Stürmer nicht genug loben.

Wir danken einem Leser aus der Schweiz für den Hinweis auf die Untersuchung von Salewski und Stürmer.

Folgen Sie uns auf Telegram.
Anregungen, Hinweise, Kontakt? -> Redaktion @ Sciencefiles.org
Wenn Ihnen gefällt, was Sie bei uns lesen, dann bitten wir Sie, uns zu unterstützen. ScienceFiles lebt weitgehend von Spenden. Helfen Sie uns, ScienceFiles auf eine solide finanzielle Basis zu stellen.
Wir haben drei sichere Spendenmöglichkeiten:

Donorbox

Unterstützen Sie ScienceFiles


Unsere eigene ScienceFiles-Spendenfunktion

Zum Spenden einfach klicken

Unser Spendenkonto bei Halifax:

ScienceFiles Spendenkonto: HALIFAX (Konto-Inhaber: Michael Klein):
  • IBAN: GB15 HLFX 1100 3311 0902 67
  • BIC: HLFXGB21B24

Print Friendly, PDF & Email
11 Comments

Schreibe eine Antwort zu MArkusAntwort abbrechen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Entdecke mehr von SciFi

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen

Entdecke mehr von SciFi

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen