Vom Ökologischen Fehlschluss: Arbeitslosigkeit und Selbstmord

Manche Wissenschaftler versuchen, mit Zahlen zu beeindrucken.

Daten für 63 Länder.

Durchschnittlich 233.000 Selbstmorde pro Jahr.

Längsschnittdaten für 12 Jahre.

Alles auf den ersten Blick beeindruckend.

Die durchschnittlich 233.000 Selbstmorde in 63 Ländern, haben Carlos Nordt, Ingeborg Wanke, Erich Seifritz und Wolfram Kawohl nicht nur gesammelt, nein, sie haben die durchschnittlich 233.000 Selbstmorde auch in Zusammenhang gebracht, mit der Arbeitslosenrate.

suizidale arbeitslosigkeitUnd siehe das: es korreliert.

Wer hätte das gedacht?

Konsequenz der Untersuchung:

Wildes Assoziieren: “In particular, the interaction of fiscal austerity with economic shocks and weak social protection seems to escalate health and social crisis, at least in Europe.” (6)

Da die Autoren weder Sparpolitik noch ökonomische Schocks noch die Intensität der sozialen Sicherung noch das, was sie als Gesundheits- und soziale Krise bezeichnen, in ihrem Beitrag geprüft haben, ist die zitierte Aussage reine Phantasie, die nur Aufschluss über die politische Verortung der Autoren zulässt und mit Wissenschaft nichts zu tun hat.

Noch eine Konsequenz der Untersuchung:

“Efforts at suicide prevention should be extended to professionals working with individuals at risk of unemployment, such as social workers and human resource management professionals” (6)

Konsequenz 2 darf natürlich nicht fehlen, denn, so steht zu vermuten, die gesamte Untersuchung wurde nicht duchgeführt, um wissenschaftliche Erkenntnis zu gewinnen, sondern dazu, weitere Fördergelder und weitere Maßnahmen der öffentlichen Hand für Sozialberufler zu legitimieren. Scheinbar gibt es unter Sozialberuflern in der Hilfeindustrie einen wachsenden Wettbewerb darüber, wer mit öffentlichen Mitteln welcher Klientel Glück, Gesundheit oder Leben bringen darf.

Dass die Studie keinem wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse folgt, zeigt zudem ein Kardinalfehler der empirischen Sozialforschung, der häufig mit Aggregatdaten in Verbindung gebracht wird und der den Namen “ökologischer Fehlschluss” trägt. Manche meinen, dass immer dann, wenn man Aggregatdaten miteinander korreliert, ein ökologischer Fehlschluss vorliegt. Das ist natürlich falsch und einer mangelnden Methodenkenntnis geschuldet, die durch eine fehlende logische Grundbildung verstärkt wird.

Deshalb zum ökologischen Fehlschluss:

  • flaws and fallaciesNordt, Warnke, Seifritz und Kawohl finden in ihren Daten einen Zusammenhang zwischen der Selbstmordrate je 100.000 Einwohner und der Arbeitslosenrate, und zwar auf Landesebene.
  • Daraus schließen Sie, dass Arbeitslose ein höheres Risiko haben, sich umzubringen.
  • Das ist ein ökologischer Fehlschluss.

Warum?
Darum:

  • Die Arbeitslosenrate und die Suizidrate, die Nordt, Warnke, Seifritz und Kawohl in ihren Analyen benutzen, beziehen sich auf jeweils eines der 63 Länder im Datensatz der Autoren.
  • Sie finden demnach, dass die Arbeitslosenrate für Länder mit der Selbstmordrate für dieselben Länder korreliert.
  • Ein Zusammehang zwischen Arbeitslosigkeit und Selbstmord, so er bestünde, wäre jedoch ein individueller, denn es wären nicht Länder, die sich umbringen, wenn sich ihre Arbeitslosenrate erhöht, sondern Individuen.
  • Also behaupten die Autoren, dass man vom Zusammenhnag auf Länderebene eine Äquivalenz zum Zusammenhang auf Individualebene herstellen kann.
  • Und damit geben sie sich dem Gelächter, vielleicht auch einem gutmütigen Abwinken bei denen preis, die von Methoden eine Ahnung haben.

Wenn man auf Länderebene einen Zusammenhang findet, dann benötigt man nämlich eine Hypothese, die man wiederum prüfen muss, um auf die Individualebene zu gelangen. James Coleman hat dies mit seiner berühmten Badewanne deutlich gemacht, Brückenhypothesen führen vom Aggregat zum Individuum, eine Theorie erklärt, warum sich Arbeitslose häufiger umbringen sollen als nicht-Arbeitslose und eine Aggregierungsregel erklärt, wie man von den arbeitslosen Selbstmördern zur Selbstmordrate gelangt.

Das ist natürlich fortgeschrittene Sozialtheorie, die man vermutlich von Autoren, die im Lancet-Psychiatry veröffentlichen, nicht unbedingt erwarten kann, aber man kann schon erwarten, dass sie sich ab und zu die Frage nach dem Warum stellen: Warum sollte der Zusammenhang zwischen Arbeitslosenrate pro Land und Suizidrate pro Land darauf zurückzuführen sein, dass Arbeitslose sich häufiger umbringen als nicht-Arbeitslose?

Warum nicht darauf, dass eine höhere Arbeitslosenrate ein Indikator für höhere staatliche Sozialleistungen ist, was wiederum von höherer Steuerlast begleitet wird und dazu führt, dass sich die Mittelschichtsväter, die den Lebensstandard, den die von ihnen Abhängigen Frau und zwei Kinder gewohnt sind, nicht mehr aufrecht erhalten können, umbringen, obwohl sie noch einer geregelten Arbeit nachgehen, die nur nicht mehr genug Geld einbringt.

Warum nicht darauf, dass Arbeitslosigkeit dazu führt, dass Arbeitslose in Parks sitzen, Bier trinken und Krach machen, was die Selbstmordquote unter depressiven Anwohnern erhöht?

Warum nicht darauf, dass eine Arbeitslosenquote ein Indikator für Unternehmenspleiten ist und wie schon Durkheim in seinem Buch “Der Selbstmord” gezeigt hat, gibt es einen Anstieg der anomischen Selbstmorde in Zeiten wirtschaftlicher Krise, was u.a. darauf zurückgeführt werden kann, dass gescheiterte Unternehmer mit der Schmach des Scheiterns nicht leben können oder wollen.

Durkheims SelbstmordÜberhaupt, Durkheim, Emile Durkheim hat seiner Untersuchung des Selbstmords mehr als 450 Seiten gewidmet, Seiten, auf denen er mit Aggregatdaten argumentiert. Und obwohl er keine statistischen Verfahren zur Verfügung hat, im Gegensatz zu Nordt, Warnke,  Seifritz und Kawohl, ist seine Analyse um ein Vielfaches besser und schärfer, und zwar deshalb, weil er sich Fragen zur Zweckmäßigkeit seiner Methode stellt, weil er Theorien diskutiert, die das Ziel haben, die Motive für Selbstmord zu erklären, weil er sich fragt, wie man die Ursachen von Selbstmord auffinden kann und viele Fragen mehr stellt, die sich den Autoren von der Universität in Zürich nicht einmal im Traum stellen, denn für sie scheint festzustehen, dass Arbeitslosigkeit Selbstmord befördert.

Warum? Weil es ihnen plausibel erscheint.

Aber vielleicht haben Sie ja Recht, vielleicht erhöht die Arbeitslosigkeit von X die Wahrscheinlichkeit von Selbstmorden in seinem Umfeld, Selbstmorde von Personen, die nun häufiger mit X konfrontiert sind.

Dennoch: Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass der Zusammenhang zwischen Arbeitslosenrate und Suizidrate, der auf Ebene eines Landes gefunden wird, ein Beleg dafür ist, dass sich Arbeitslose häufiger umbringen als nicht-Arbeitslose. Und falls es einen Beleg geben sollte, so findet er sich sicherlich nicht in der Arbeit von Nordt, Warnke, Seifritz und Kawohl, die man damit gefahrlos dem Schredder überantworten kann.

Natürlich ist kein Fehlschluss groß genug, als dass ihn Jorunalisten nicht aufgreifen würden. Und so findet sich bereits im Wiener Standard ein Beitrag, der mit “Arbeitslosigkeit führt zu mehr Suiziden” überschrieben ist – ein Titel, der der Phantasie des Journalisten entsprungen sein muss, der den Beitrag verfasst hat und ein Titel der deutlich macht, dass auch oder gerade unter Journalisten das Urteilsvermögen darüber, ob eine angeblich wissenschaftliche Studie korrekte oder sinnvolle Ergebnisse erbracht hat, durch ideologische Vorlieben ersetzt worden ist.

Es hat nun einmal so zu sein, dass Arbeitslose sich häufiger umbringen. Also Arbeitslose – Ihr wisst, was zu tun ist!

Nordt, Carlos, Warnke, Ingeborg, Seifritz, Erich & Kawohl, Wolfram (2015). Modelling Suicide and Unemployment: a Longitudinal Analysis Covering 63 Countires, 2000-2011.

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