Nur keine Verantwortung: Die Ausweitung der Kindheit

Die Infantilisierung der Gesellschaft, die letztlich nichts anderes ist, als die Ablehnung Der Übernahme von Verantwortung für das eigene Leben, diese Infantilisierung, wir haben sie vor einigen Tagen mit Pascal Buchner beschrieben. Gestern kam uns nun eine Pressemeldung auf den Tisch, die diese Infantilisierung perfekt demonstriert.

geschichte_der_kindheitWir wollen den Ausgangspunkt bei Philippe Ariès nehmen, dessen Buch “Die Geschichte der Kindheit”, als es 1975 ins Deutsche übersetzt vorlag, erhebliche Debatten ausgelöst hat, stand es doch im Widerspruch zu der für gültig gehaltenen Lehrmeinung, nach der Kinder unschuldige Wesen sind, die es, um mit Rousseau zu sprechen, so lange wie möglich vor den schädlichen Einflüssen der Gesellschaft zu schützen gelte. Die Kindheit als Phase der Unschuld, sie ist westlichen Gesellschaften seither ins Mark gemeißelt.

Ariès hat die kindliche Unschuld ebenso wie die angebliche natürliche Phase der Kindheit als gesellschaftliches Konstrukt aufgezeigt. Vermutlich im 17. Jahrhundert, so schließt Ariès aus seinen Analysen der Darstellung von Kindern in Literatur und Kunst, sei die Kindheit erfunden worden. Sein Reichtum habe es dem aufkommenden Bürgertum ermöglicht, den entsprechenden Schutzraum für seine Kinder zu schaffen.

Dass es sich bei diesem Schutzraum, bei der erfundenen Kindheit, um ein Phänomen des Bürgertums handelt, an dem Arbeiter, Handwerker, Dienstboten oder andere Schichten der Bevölkerung keinen Anteil hatten, das zeigt Buchner in seiner Darstellung der Entwicklung der Kindheit, und das kann man den Büchern von Charles Dickens entnehmen, in denen z.B. die Figur des kleinen Jungen, der Straßenübergänge für Fußgänger von Pferdemist freihält, regelmäßig zu finden ist.

Die Erfindung der Kindheit, die Schaffung eines Schutzraumes, der Kinder so lange wie nur möglich von Verantwortung fernhält und letztlich auf den Status eines kleinen, nicht-verantwortlichen und formbaren Organismus reduziert, sie ist nicht nur relativ neu, sie wird auch von einem ungeheuren Wachstum der Kindheitsindustrie begleitet.

Wer Kindheitsindustrie hört, der denkt in erster Linie an die spezielle Nahrung, Kleidung, das Spielzeug, die Gegenstände des täglichen Lebens, die auf die angeblich abweichenden Bedürfnisse von Kindern abgestimmt sind, und vieles mehr. Die Kindheitsindustrie umfasst jedoch auch (oder vor allem?) all diejenigen, die mit der Erfindung der Kindheit eine Möglichkeit des Unterhalts erworben haben: die Lehrer, die Kindergärtner, die Kinderärzte, die Kinderpsychologen, die Kindertherapeuten, die Schulpsychologen, die Betreuer, die Sozialarbeiter, Streetworker, die vielen Tausend Beamten der Jugendgerichtshilfe und viele mehr.

Diese Kindheitsindustrie, sie ist stetig gewachsen, und sie ist ständig bemüht, den Gegenstand ihrer Bemühungen so lange wie nur möglich im Stadium der Unmündigkeit, in dem seine Betreuung notwendig ist, zu halten.

Entsprechend endet die Kindheits- und Jugendphase längst nicht mehr mit dem 18. Lebensjahr, mit dem angeblich die Reife vorhanden sein soll, um als volljährig und wahlberechtigt zu gelten. Entsprechend hat man im Strafrecht den Heranwachsenden erfunden, der zwar volljährig, aber nicht voll ernst zu nehmen und nicht voll mündig ist. Er schleppt sich bis zum 21. Lebensjahr und darf darauf hoffen, vor Gericht wie ein unmündiger Jugendlicher, der für seine Handlungen nicht voll verantwortlich ist, behandelt zu werden.

Die Polizeiliche Kriminalstatistik hat gar den Jungerwachsenen erfunden, der dem Heranwachsenden nachfolgt und erst mit dem 25. Lebensjahr erwachsen werden soll. Wenn es darum geht, die Kindheit zu verlängern und aus der Sonderbehandlung der weiterhin unmündig Gehaltenen ein Einkommen zu extrahieren, dann sind der Phantasie offensichtlich keine Grenzen gesetzt.

Entsprechend ist es nicht verwunderlich, wenn die Verlängerung der Unmündigkeit aus dem Strafrecht in die alltägliche Welt übertragen wird und eine neue Phase der Unmündigkeit von Volljährigen geschaffen wird.

Vorreiter scheint hier die Universität Hamburg zu sein, die Folgendes anbietet:

Uni Hamburg
und der Unselbständigkeit?

“Wie ich als Mutter oder Vater mein Kind bei der Studienentscheidung unterstützen kann

Jedes Jahr stehen studieninteressierte junge Erwachsene vor der Frage, welches Studienfach sie wählen sollten. Die Entscheidungen treffen sie oft nicht allein, sondern im Austausch mit den Eltern, die als Rat- und oft auch als Geldgeber gefragt sind. Doch viele Mütter und Väter sind mit Begriffen wie „Credit Points“, „STiNE-Account“ und dem Bachelor- und Mastersystem nicht vertraut. Um den Eltern ein Basiswissen über das universitäre System zu vermitteln und der Frage nachzugehen, ob und wie sie ihre studieninteressierten Kinder bei der Entscheidung für ein Studienfach unterstützen sollten, lädt die Universität Hamburg ein zur

Vortrags- und Diskussionsveranstaltung der
Zentralen Studienberatung und Psychologischen Beratung der Universität Hamburg (ZSPB).”

Die Verlängerung der Kindheit und damit die Verweigerung der Mündigkeit geht mit einer Verlängerung der Zuständigkeit von Eltern einher. Sie werden von den Betreuern und Beratern, von den Umsorgern, die an der Verlängerung der Unmündigkeit verdienen, in die Pflicht genommen. Sie sind instrumentell dabei, ihre Kinder in Unmündigkeit zu halten. Denn deren Unmündigkeit ist die Einkommensquelle der Betreuer, Berater und Umsorger.

In den meisten Kulturen gibt es Initiationsphasen, die den Übergang von einem Status in den nächsten markieren, z.B. den Übergang von der Kindheit in den Status eines vollwertigen Mitglieds der Gesellschaft. Westliche Kulturen scheinen den umgekehrten Weg zu gehen, sie scheinen die Übergänge beseitigen und die ewige Kindheit, die ewige Verantwortungslosigkeit institutionalisieren zu wollen, die Infantilisierung der Gesellschaft, die die Macht in die Hände von Verwaltungen und all denen legt, die die Verantwortungslosen in ihrem täglichen Leben führen, begleiten und betreuen wollen.

An die Stelle der Initiationsriten, die Kindern und Jugendlichen den Übergang in die Welt der Erwachsenen bzw. das Nehmen einer Entwicklungsstufe signalisieren, tritt langsam aber stetig die durchgehende Betreuung, Beratung, Umsorgung und Umhegung durch die Vertreter der Kinder- und Jugendlichenindustrie, die aus deren Unmündigkeit nicht nur ihren finanziellen Nutzen ziehen.

Und so wird langsam Privatheit und Eigenverantwortung beseitigt und ersetzt durch die Öffentlichkeit z.B. der Bildungsbiographie, um die sich Horden für sich gutmeinender Nutznießer sorgen, die verunmöglichen, was angeblich das höchste Ideal moderner Gesellschaften ist: den selbständigen, eigenverantwortlichen und mündigen Bürger.

P.S.

Es ist sicher kein Zufall, dass das Hamburger Angebot von einem Psychologen und einer Pädagogin gemacht wird.

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