Wissenschaftsfreiheit – Witz oder Wirklichkeit?

Wenn man zum ersten Mal Thomas Kuhns “Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen” liest, mutet seine Vorstellung, dass ein Wissenschaftler den Übergang von einem Paradigma in ein anderes Paradigma nur durch eine Konversion, die Kuhn mit einer plötzlichen Erleuchtung und ähnlich einer religiösen Konversion beschreibt (vor allem in seinem Beitrag “Reflections on my Critics” im von Lakatos und Musgrave herausgegebenen Band: Criticism and the Growth of Knowledge hat er diese Idee weiter ausgearbeitet), schaffen können soll, doch eher seltsam und fremd an.

In der Regel ist man jung, wenn man Kuhns “Struktur wissenschaftlicher Revolutionen” liest.

KuhnEin Paradigma, das zur Erinnerung, ist für Kuhn so etwas wie ein autoritärer Erzieher, der den Wissenschaftlern, die ihm folgen, nicht nur sagt, wie sie die Welt betrachten sollen, er gibt ihnen auch Rätsel auf und stellt die Lösungen bereit. Weil Wissenschaftler sich nicht so gerne als Abhängige darstellen, sprechen sie lieber von einer Theorie, nicht so gerne von einem autoritären Erzieher.

Ein Paradigma ist jedoch mehr. Es ist nicht nur Theorie in Satzform, es ist auch Weltsicht und Methode, d.h. wer in einem Paradigma lebt, der sieht die Welt aus der Perspektive des Paradigmas, er nutzt Methoden, die im Paradigma zur Verfügung gestellt werden, und die Forschungsfragen, die er beantwortet, finden sich ausschließlich im Rahmen seines Paradigmas.

Wenn Archäologen oder Ägyptologen eine Pyramide sehen, dann sehen sie automatisch das Grab eines Pharaos. Sie können gar nicht anders, denn in ihrem Paradigma sind Pyramiden Gräber. Andere, die sich außerhalb des Paradigmas befinden, sehen etwas Anderes, ein Kraftwerk, eine Sternwarte uvm. Und alle versuchen sie die Sichtweise, die ihnen ihr Paradigma vorgibt, mit Funden zu belegen.

Um aus einem Grabseher einen Kraftwerkseher zu machen, ist einiges an Überzeugungsarbeit notwendig und vermutlich braucht es mehr als Überzeugungsarbeit, vermutlich ist wirklich eine Konversion, ein Übertritt von einem Glauben zu einem anderen, notwendig.

Dass dem so ist, das wird einem dann klar, wenn man älter wird, wenn man z.B. betrachtet, wie hartnäckig sich bestimmte Mythen halten, wie schwer, ja nahezu unmöglich es ist, Menschen davon zu überzeugen, dass ihre Sicht der Welt nicht mit den Tatsachen übereinstimmt.

Um zu erklären, warum sich falsche Überzeugungen halten, warum es Personen gibt, die an ein Gender Pay Gap glauben (wollen), warum es Wissenschaftler gibt, die glauben wollen, sie seien in der Lage, Entscheidungen für andere zu treffen und, letztlich, warum es Wissenschaftler gibt, die nach wie vor an die Wissenschaftsfreiheit glauben, ist eine psychologische Erklärung notwendig, eine Erklärung, die auf die Verquickung eigener Interessen, der eigenen Biographie und der wissenschaftlichen Tätigkeit rekurriert, wobei der “scientific community”, die Thomas Kuhn in diesem Zusammenhang beschrieben hat, die Rolle des Aufpassers zukommt, der darüber wacht, dass keine abweichenden Ideen, keine, das gemeinsame Paradigma (vom Gender Pay Gap bis zur Wissenschaftsfreiheit) in Frage stellenden Ideen, produziert werden und Anhänger finden.

Wie sehr manche Wissenschaftler an Mythen hängen, kann man am Beispiel der Freiheit von Forschung und Lehre deutlich machen, jener arg strapazierten Leerformel, mit der Verwaltungen einerseits Wissenschaftler unter Einführung der wissenschatflichen Selbstverwaltung zu ihren Handlangern machen, andererseits vom Forschen abhalten.

Aber Freiheit von Forschung und Lehre findet nicht nur innerhalb des Rahmens statt, den die Verwaltung vorgibt. Sie findet ausschließlich innerhalb der engen Grenzen statt, die politische Ideologien setzen: Mit dem Professorinnenprogramm wird von Ministerien aktiv in die Struktur von Hochschulen eingegriffen.

Es wird Hochschulen, die finanziell auf dem letzten Loch pfeifen, eine Kröte als Köder vorgehalten und Mephisto spricht: “Du gibst Deine Freiheit auf und berufst, wie von uns gewünscht, ausschließlich Frauen auf Lehrstühle, und wir finanzieren Dich in Gegenleistung.”

Die Bologna-Reform hat Hochschulen zu Anstalten wiederkehrender Langeweile in EU-gerechten Modulen gemacht, in denen immer dasselbe gelehrt wird und kein Platz mehr ist für Ideen und interessante Forschung.

Die Reform des Hochschulrahmengesetzes hat die Besoldung von Professoren so stark reduziert, dass ein Lehrstuhl nur noch für diejenigen interessant ist, die überzeugt sind, auf dem freien Arbeitsmarkt kein Bein auf den Boden zu bekommen. Entsprechend gestaltet sich die institutionalisierte Wissenschaftslandschaft.

Die an Universitäten verbliebenen Wissenschaftler sind nicht nur der täglichen Intervention der Herrscher über die politische Korrektheit, der Gender-Kommissare auf entsprechenden Gleichstellungsstellen und ihren Wasserträgern in ASta und sonstigen Studentengremien ausgesetzt, in denen sich der politische Nachwuchs sammelt, dem nichts an Studium, dafür viel an politischer Agitation gelegen ist, sie werden auch immer mehr zu Vasallen und Erfüllungsgehilfen von Ministerien und den politischen Vereinen der Parteien, die Auftragsforschung verteilen, um Ergebnisse, die sie vorgeben, als wissenschaftlich verkaufen zu können.

Kurz: Wer heute noch an Wissenschaftsfreiheit glaubt, der ist ein Träumer, den man mit mindestens 10 Paukenschlägen wecken muss.

Akademie Wissenschaften HamburgEin Paukenschlag könnte an der Akademie der Wissenschaften in Hamburg in Vorbereitung sein. Unter dem Titel “Wie frei ist die Forschung?” lädt die Akademie der Wissenschaften in Hamburg zu vier Vorlesungen zum Thema “Freiheit der Forschung und Lehre” ein, unter denen sich zumindest zwei Vorträge finden, die Anlass zu der Hoffnung geben, dass sich in den institutionalisierten Wissenschaften ein Paradigmenwechsel ankündigt.

So will Torsten Wilholt in seinem Vortrag “Argumente für die Forschungsfreiheit” zusammentragen und die Grundlagen der Forschungsfreiheit bestimmen, ein Vorhaben, das man zum Ausgangspunkt nehmen kann, um das tatsächliche Ausmaß der Freiheit der Forschung nicht nur zu bewerten, sondern, sofern noch etwas an Freiheit übrig geblieben ist, gegen weitere Eingriffe zu verteidigen. Und natürlich kann man die Grundlage zum Ausgangspunkt nutzen, um die Freiheit von Forschung wieder herzustellen und sie vor allem gegen die Einflussnahme von Politikern über Ministerien und sonstige Institutionen der Exekutive zu verteidigen.

Der unseres Erachtens interessanteste Vortrag kommt von Martin Carrier, der an der Universität Bielefeld Professor für Wissenschaftsphilosophie ist. Er untersucht den Widerspruch zwischen “Autonomie und gesellschaftlichen Ansprüchen” und tut dies unter der Überschrift “Forschungsfreiheit und Forschungsbedarf”.

Gesellschaftliche Ansprüche, so Carrier, werden in immer größerem Ausmaß an die Wissenschaft herangetragen. Dabei ließen Auftragsforschung und Programmforschung die Grundlagenforschung mit ihrer wissenschaftlichen Auswahl von Forschungsthemen streckenweise in den Hintergrund treten. Dies ist eine sehr vorsichtige Formulierung u.a. dafür, dass Ministerien Hochschulen zunehmend als ihre Außenstellen ansehen, an die man sich wendet, wenn es Bedarf für die Legitimation eines politischen Vorhabens gibt.

Dann sucht man nach dem geeigneten Wissenschaftler an der geeigneten Hochschule, der entweder in ein Gremium des Ministeriums berufen wird, aus dem heraus er Drittmittelforschung beauftragen kann, oder der direkt auf die Gehaltsliste des Ministeriums gesetzt wird, um seinerseits die gewünschte Drittmittelforschung auszuführen. Da Drittmittel eine wichtige Finanzierungsquelle für chronisch unterfinanzierte Hochschulen sind und sich im Lebenslauf von Wissenschaftlern wie Empfehlungsschreiben auswirken, nutzen Politiker über Ministerien die Möglichkeit aus, wissenschaftliche Freiheit zu beseitigen und Hochschulen zu Satelliten der eigenen Interessen zu machen.

Wir hoffen, der Vortrag von Martin Carrier wird diesem Zusammenhang gebührend Rechnung tragen.

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