Die neue Denunziationskultur

Geschichte wiederholt sich nicht?

Hansen ZauberwahnIn dieser Predigt forderte der Inquisitor alle Beteiligten und Laien des Bezirks auf, ihm binnen wenigen Tagen bei Strafe der Exkommunikation alles anzuzeigen, was sie über Personen wussten, die ihnen als Häretiker bekannt oder verdächtig waren, die gegen die Sakramente der Kirche sprachen, die in Leben und Sitten sich vom Herkommen der Gläubigen entfernten, die Dämonen anriefen und ihnen opferten. Diese Denunziationspflicht erstreckte sich auf alle Glieder der Kirche, also auch auf Eltern und Kinder, Geschwister und sonstige Verwandte. Die Aufforderung wurde auch an Kirchentüren angeschlagen. […] Nach Ablauf des Gnadenmonats ordnete dann der Inquisitor die in der Regel zahlreich eingelaufenen Denunziationen und eröffnete das speziell für den Ketzerprozess erfundene ausnahmsweise und summarische Verfahren, indem er die Personen, denen er Anzeigen verdankte, unter Eid ihre Aussagen wiederholen und demgemäß die Beschuldigten dann verhaften ließ” (Hansen, Joseph (1900). Zauberwahn, Inquisition und Hexenprozeß im Mittelalter. München: R. Oldenbourg, S.217-218)

Inquisition war, so belegt diese kurze Stelle, auf die Mithilfe jener Bürger, die man als mittelalterliche Variante des Gutmenschen ansehen kann, angewiesen: Bürger, die sich bei der Obrigkeit andienen wollten und dazu bereit waren, ihre Mitbürger zu denunzieren. Mittelalterliche Gutmenschen musste man jedoch anreizen, einerseits mit Exkommunikation bedrohen, andererseits sie mit einem sechs Jahre andauernden Ablass ihrer Sünden bezahlen (Hansen, 1900: 218). Mittelalterliche Gutmenschen mussten sich zudem zu ihrer Korrektheit bekennen und die Denunziation von Mitmenschen in der Halböffentlichkeit der an der Inquisition direkt Beteiligten ausführen.

Heute sind wir weiter.

Heute findet Denunziation über anonyme Hinweise, die bei einer Meldestelle abgegeben werden, statt. Der Denunzierende muss sich nicht zu erkennen geben, kann mit Nicknamen auftreten. Die Belohnung von Denunzierenden erfolgt nicht mehr extrinsisch durch einen sechs Jahre andauernden Ablass, sondern intrinisch, durch einen Zeitraum des Sich-Gutfühlens, das je nach Persönlichkeit des Denunzianten von wenigen Minuten bis zu mehreren Stunden nach einer erfolgten Denunziation andauern kann. Um die Gratifikation, die aus der Denunziation zu erreichen ist, auch aufrechtzuerhalten, muss ein moderner Denunziant entweder kontinuierlich oder in immer kürzer werdenden Abständen denunzieren, denn, wie die Deprivations-/Sättigungshypothese der Sozialpsychologie schon besagt, mit jedem Mal, mit dem ein Verhalten belohnt wird, sinkt die entsprechende Belohnung im Wert.

2_Februar_1940Im Gegensatz zu früher ist es nicht mehr der Verdacht, dass ein Mitmensch sich gegen die von der Kirche als heilig behaupteten Sakramente vergangen hat, dass er Dämonen huldigt, heute muss der Mitmensch den Verdacht “Hasskommentar” ausgelöst haben. Gleichwohl haftet sowohl dem Verdacht der Kommunikation mit Dämonen wie dem Beleg, dass es sich bei Kommentar X um einen Hasskommentar handelt, eine entsprechende Schwierigkeit der Bestimmung, wie EU-Justizkommissarin Vera Jourova im Hinblick auf Hasskommentare sagt, an. Eine Schwierigkeit, die man als Willkür beschreiben kann, und die sowohl im Falle der Anbetung von Dämonen als auch im Falle der Äußerung von Hasskommentaren durch die Abweichung, die im Begriff des Ketzertums gefasst ist, beschrieben werden kann.

Das Sprechen gegen “die Sakramente der Kirche”, das Sich-Entfernen in “Leben und Sitten vom Herkommen der Gläubigen”, es zeigt sich auch heute in der Abweichung, im Sprechen gegen die politische Korrektheit und im Abweichen vom gedanklichen Mainstream, deshalb ist es so passend, dass das, “was Hass-Inhalte sind”, so schwierig zu erkennen ist. Auch die Frage, ob jemand mit Dämonen kommuniziert, konnten nur eigens dafür ausgebildete und befähigte Inquisitoren beantworten, so wie nur Spezialisten beantworten können, was ein Hasskommentar ist. Auch hier erweist sich die Moderne anschlussfähig an das Mittelalter.

Und wie im Mittelalter, so sind es auch in der Moderne die Menschen, die sich für besonders gut halten, die die Maschinerie der Inquisition dadurch am Laufen halten, dass sie ihre selbst-attribuierte Gutheit dadurch praktizieren und inszenieren, dass sie sich zum Büttel der Obrigkeit machen und ihre Mitmenschen denunzieren. Das tun sie nicht mehr für 6 Jahre Ablass, sondern für eine Form von Selbstzufriedenheit durch Denunziation, aus der nur fragile Persönlichkeiten, die diesseits oder jenseits der Grenze einer psychischen Störung wandern, eine Gratifikation ziehen können.

Und wie einfach es ist, die Bürger in zwei Lager zu spalten, in Denunzianten und Denunzierte, das zeigt Heiko Mass, der sich vielleicht schon als Don Heiko Niño de Guevara der Facebook-Inqusition sieht, mit einem rhetorischen Trick, der an Plumpheit kaum zu überbieten ist:

“Die Meinungsfreiheit sei auch in Europa äußerst wichtig, meint Maas, habe aber Grenzen: “Wenn jemand aufruft, Flüchtlinge zu ermorden oder Juden zu verbrennen, dann ist das nichts, was von der Meinungsfreiheit gedeckt ist, sondern dann ist das strafbar. Dann wird das verfolgt, und dann sollten das die sozialen Plattformen auch aus dem Netz löschen.”

Wie jeder Facebook-Nutzer täglich in seiner Timeline sieht, vergeht kein Tag, ohne dass nicht Tausende von Aufrufen dahingehend erfolgen, einen namentlich benannten Flüchtling zu ermorden oder einen bekannten Juden zu verbrennen – oder? Oder handelt es sich hier um einen plumpen Versuch von Heiko Mass, um ein Lifeboat-Example (aus der entsprechend Plump-Schatulle des Kriegsdienstverweigerer-Pazifismus-Tests: “Was würden Sie tun, wenn ein Russe ihr Haus überfallen und drohen würde, ihre Oma zu erschießen?), mit dessen Hilfe die wohlbekannte Mücke genutzt werden soll, um einen Elefanten in Form einer Meldestelle aufzublasen, eine Meldestelle, die genutzt werden kann, um Menschen gegeneinander auszuspielen und letztlich Kontrolle über dieses elende Internet mit seinen sozialen Netzwerken auszuüben, in denen Menschen ihre Meinung sagen können, jene Meinung, die wie Heiko Mass einräumen muss, “auch in Europa äußert wichtig ist”, aber nicht wichtig genug, als dass sie nicht eingeschränkt werden könnte.

Und was sind das nur für jämmerliche Bürger, die lieber ein staatliches Meldeamt institutionalisiert sehen, bei dem sie sich als Denunziant andienen können, als dass sie sich selbst aufraffen, für Ordnung in ihrer direkten Internet-Umgebung zu sorgen?

Vermutlich hat nur die Psychiatrie eine Antwort auf diese Frage.

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