Deutschland: Liberalismus-Entwicklungsland

Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist einer der zentralen Werte des Liberalismus. Die Idee, dass es wichtig ist, Meinungen miteinander konkurrieren zu lassen und dass es überdies wichtig ist, keine Meinung vom Wettbewerb auszuschließen, ist ein Grundpfeiler des Liberalismus.

Dass der freien Meinungsäußerung keine Grenzen gezogen werden dürfen, basiert auf der Erkenntnis, dass dann, wenn man bestimmte Meinungsäußerungen, wie erschreckend, dumm oder beleidigend sie auch sein mögen, aus dem Wettbewerb ausschließt, postwendend zwei Probleme auftauchen, die nicht gelöst werden können:

  • Ist die Möglichkeit, bestimmte Meinungen als unzulässig auszuzeichnen, erst zugelassen, dann wird sie als Folge missbraucht werden, um ideologisch unpassende Meinungen vom Wettbewerb der Meinungen auszuschließen.
  • Dass dieser Missbrauch erfolgen wird, ist Resultat der Notwendigkeit, nicht zugelassene Meinungen bestimmen zu müssen. Generell wird derjenige, dessen Meinung nicht zugelassen wird, damit nicht einverstanden sein, was in demokratischen Systemen zur Konsequenz hat, dass immer die Meinungen nicht zugelassen werden, die gerade keine Mehrheit finden. Ergebnis ist der Despotismus der Mehrheit, wie Tocqueville diese Konsequenz der Einschränkung von Meinungsfreiheit genannt hat.

Folglich tut man, wenn man verhindern will, dass die Festlegung der zugelassenen Meinung zum Kriegsschauplatz von Ideologen und Glaubenskriegern wird, die unterdrücken wollen, was ihnen nicht passt, gut daran, die Finger von der Meinungsfreiheit zu lassen und alles zuzulassen, was als angebliche Meinung daherkommt.

Diese Konsequenz ist nicht nur der Einsicht geschuldet, dass Einschränkungen in Meinungsfreiheit notwendig deren Abschaffung zur Folge haben, sondern auch der Überzeugung, dass dumme oder beleidigende Meinungen, die nicht begründet sind, im Wettbewerb der Meinungen schnell ausgeschieden werden und entsprechend in der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Hinzu gesellt sich ein Argument des gesunden Menschenverstandes, denn Worte richten in der Regel keinen Schaden an. Den Schaden richtet immer Menschen an, die dann, wenn sie zur Rechenschaft gezogen werden, zuweilen als Entschuldigung für sich anführen, sie seien von Worten verführt worden. Das ist natürlich Unsinn, es sei denn, man gibt neben der Idee der Freiheit auch gleich die Idee eines menschlichen Willens auf.

Als Konsequenz müssen Liberale bereit sein, beleidigende und dumme Meinungen im Diskurs nicht nur zuzulassen, sondern auch zu tolerieren, d.h. man muss mit Meinungen leben, die beleidigend sind, die zu Gewalt aufrufen, die anzüglich sind, die man als empörend einordnet. Man kann Freiheit eben nicht parzellieren. Es gibt nur Freiheit oder keine Freiheit.

Nun hat man in Deutschland schon vor längerer Zeit die Büchse der Pandora geöffnet, zugelassene Meinungen definiert und nicht zugelassene ausgeschieden. Als Ergebnis stellen sich nicht nur regelmäßig neue Forderungen ein, doch die eine oder andere Meinungsäußerung zu verbieten, auch die Idee der freien Meinungsäußerung hat gelitten, erodiert in Deutschland, so dass man sagen könnte, das Land befindet sich auf dem Weg von einer zumindest in Ansätzen liberalen zu einer autokratischen Demokratie.

Ergebnisse, die das PEW-Research Center gerade veröffentlicht hat, unterstützen diese Folgerung.

Die dortigen Sozialforscher nehmen Sozialforschung insofern ernst, als sie in der Regel nicht nur Fragen stellen, wie man sie als Fragen von der Stange von Umfrageinstituten zugemutet bekommt. Sie fragen auch unbequem, politisch unkorrekt und entwickeln harte Tests, z.B. im Hinblick auf die Verbreitung und die Akzeptanz von Meinungsfreiheit.

So haben Sie in etlichen Ländern in der Regel 1000 Erwachsene die folgende Frage gefragt:

Bürger sollten in der Lage sein, Meinungen zu äußern in denen

  • sie die Regierung kritisieren;
  • sie Minderheiten beleidigen;
  • sie Glaubensgruppen beleidigen;
  • sie anzügliche Äußerungen machen;
  • sie zu gewalttätigen Protesten aufrufen;

Die Befragten hatten die Möglichkeit, die einzelnen Aussagen zu bejahen oder zu verneinen.

Diese Befragung ist in der Tat ein Lackmustest des Liberalismus. Wir haben 15 Länder aus der Befragung herausgenommen und die Prozentwerte derjenigen, die die fünf Aussagen jeweils bejahen, addiert. Als Resultat ergibt sich eine Skala von 0 bis 500 und das in der folgenden Abbildung dargestellte Ergebnis.

Freie Meinungsaeusserung

Am liberalsten ist die Haltung der US-Amerikaner zum Recht auf freie Meinungsäußerung. Im Kanon der Länder ist Deutschland Russland und der Türkei näher als den USA und weniger liberal als Länder wie Polen, Tansania, Nigeria oder Chile. Insofern man bei den genannten Ländern gerne von Schwellen- bzw. Entwicklungsländern spricht, wäre der Schluss aus der Abbildung wohl, dass Deutschland sich auf der Schwelle zum Entwicklungsland im Hinblick auf das Recht auf Freie Meinungsäußerung befindet, auf dem Übergang von der liberalen zur autokratischen Demokratie.

Wike, Richard & Simmons, Katie (2015). Global Support for Principle of Free Expression, but Opposition to Some Forms of Speech. Americans Especially Likely to Embrace Individual Liberties. Washington: PEW-Research Center.

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