Deutsche Absurdität: Demokratie ohne Meinungsfreiheit

Politische Aktivisten und viele der politischen Darsteller, die politische Ämter innehaben oder darum konkurrieren, sie haben ein neues Hobby: Die Herstellung der Einheitsmeinung. Die Einheitsmeinung, das ist die erlaubte Meinung. Was gerade erlaubte Meinung ist, ist eine Frage des Zeitgeistes. Derzeit sind Aussagen, die von wem auch immer und warum auch immer als Hassaussagen oder Hetze deklariert werden, nicht im Trend und werden deshalb gelöscht oder aus dem öffentlichen Raum verbannt.

Diejenigen, die diese Löschaktionen propagieren und bereits durchführen, nehmen für sich in Anspruch, sie würden der Demokratie einen Dienst erweisen. Tatsächlich sind sie die größten Feinde der Demokratie, denen nicht Freiheit, sondern Kontrolle und nicht Demokratie, sondern Totalitarismus am Herzen liegt.

Wir haben uns deshalb entschlossen eine kleine Reihe zur Verteidigung der Meinungsfreiheit zu starten und aus wissenschaftlicher Sicht dazu zu sagen, was es dazu zu sagen gibt.

Da sich kaum ein Philosoph verdienter um die Demokratie und die individuelle Freiheit gemacht hat als Karl Raimund Popper, ist es naheliegend mit ihm den Anfang zu machen. Die folgende Passage stammt aus einem Vortrag, den Popper 1958 in Zürich unter dem Titel “Woran der Westen glaubt” gehalten hat.

Warnung: In der kurzen Sequenz kommen Worte wie “Vernunft”, “Rationalität”, “Rationalismus” oder “Kritik” vor. Leser, die mit diesen Worten nicht bekannt sind bzw. ihren semantischen Gehalt nicht kennen, mögen beruhigt sein, es hat nichts mit Hassrede zu tun.

Popper bessere Welt“Was ich meine, wenn ich von der Vernunft spreche oder vom Rationalismus, ist weiter nichts als die Überzeugung, dass wir durch Kritik lernen können – durch kritische Diskussion mit anderen und durch Selbstkritik. Ein Rationalist ist also ein Mensch, der bereit ist, von anderen zu lernen, nicht dadurch etwa, dass er jede Belehrung einfach aufnimmt, sondern dadurch, dass er seine Ideen von anderen kritisieren lässt und dass er die Ideen von anderen kritisiert.
Der Nachdruck liegt hier auf den Worten ‘kritische Diskussion’: Der rechte Rationalist glaubt nicht, dass er selbst oder sonst jemand die Weisheit mit Löffeln gegessen habe. Er weiß, dass wir immer wieder neue Ideen brauchen und dass uns die Kritik nicht zu neuen Ideen verhilft. Aber sie kann uns dazu verhelfen, den Hafer von der Spreu zu sondern. Er weiß auch, dass die Annahme oder die Verwerfung einer Idee niemals eine rein rationale Angelegenheit sein kann. Aber nur die rationale Diskussion kann uns helfen, eine Idee von mehr und mehr Seiten zu sehen und sie gerecht zu beurteilen. Ein Rationalist wird natürlich nicht behaupten, dass sich alle menschlichen Beziehungen in der kritischen Diskussion erschöpfen. Das wäre wieder höchst unvernünftig. Aber ein Rationalist kann vielleicht darauf hinweisen, dass die Einstellung des ‘give and take’, des Gebens und des Annehmens, die der kritischen Diskussion zugrunde liegt, auch rein menschlich von großer Bedeutung ist. Denn ein Rationalist wird sich leicht darüber klar, dass er seine Vernunft anderen Menschen verdankt. Er wird leicht einsehen, dass die kritische Einstellung nur das Ergebnis der Kritik anderer sein kann und dass man durch die Kritik anderer selbstkritisch sein kann.
[…]
Das ist in Kürze, was ich meine, wenn ich mich als einen Rationalisten deklariere. Aber wenn ich mich als reinen Aufklärer deklariere, dann meine ich noch etwas mehr. Ich denke dann an die Hoffnung einer Selbstbefreiung durch das Wissen, die Pestalozzi inspirierte, und an den Wunsch, uns aus unserem dogmatischen Schlummer aufzurütteln, wie es Kant nannte. Und ich denke an die Pflicht jedes Intellektuellen, die leider die meisten Intellektuellen, insbesondere seit den Philosophen Fichte, Schelling und Hegel, vergessen haben. Es ist die Pflicht, nicht als Prophet zu posieren.
Gegen diese Pflicht haben insbesondere die Denker Deutschlands schwer gesündigt; zweifellos weil es von ihnen erwartet wurde, dass sie als Propheten auftreten – als Religionsstifter, als Offenbarer der Geheimnisse der Welt und des Lebens. Hier, wie überall, erzeugt die ständige Nachfrage leider ein Angebot. Propheten und Führer wurden gesucht. Kein Wunder, dass Propheten und Führer gefunden wurden. Was insbesondere im deutschen Sprachbereich auf diesem Gebiet stattgefunden hat, grenzt ans Unglaubliche. In England sind diese Dinge glücklicherweise sehr wenig beliebt. Wenn ich die Situation in den beiden Sprachbereichen vergleiche, dann steigt meine Bewunderung für England über alle Grenzen. Man muss sich in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass die Aufklärung mit Voltaires Briefen aus London über die Engländer anfing: mit dem Versuch, das intellektuelle Klima Englands, jene Trockenheit, die so merkwürdig mit seinem physischen Klima kontrastiert, auf dem Kontinent einzuführen. Diese Trockenheit, diese Nüchternheit, ist einfach ein Ausfluss des Respekts vor dem Nebenmenschen, dem man nichts einreden will oder vorzumachen versucht.

Im deutschen Sprachbereich ist es leider anders. Hier will jeder Intellektuelle ein Mitwisser der letzten Geheimnisse, der letzten Dinge sein. Hier werden nicht nur Philosophen, sondern auch Wirtschaftler, Ärzte und insbesondere Psychologen zu Religionsstiftern.
Was ist das äußere Kennzeichen dieser beiden Einstellungen – der des Aufklärers und der des selbsternannten Propheten? Es ist die Sprache. Der Aufklärer spricht so einfach, als es eben möglich ist. Er will verstanden werden. […} Er spricht immer klar, einfach und direkt.
Warum liegt uns Aufklärern so viel an der Einfachheit der Sprache? Weil der rechte Aufklärer, der rechte Rationalist, niemals überreden will. Ja, er will eigentlich nicht einmal überzeugen: Er bleibt sich stets dessen bewusst, dass er sich ja irren kann. Vor allem aber achtet er die Selbständigkeit, die geistige Unabhängigkeit des anderen zu hoch, als dass er ihn in wichtigen Dingen überzeugen wollte; viel eher will er seinen Widerspruch herausfordern, seine Kritik. Nicht überzeugen will er, sondern aufrütteln, zur freien Meinungsbildung auffordern. Die freie Meinungsbildung ist ihm wertvoll. Sie ist ihm nicht nur darum wertvoll, weil wir mit der freien Meinungsbildung der Wahrheit näher kommen können, sondern auch darum, weil er die freie Meinungsbildung als solche respektiert. Er respektiert sie auch dann, wenn er eine Meinung für grundfalsch hält.
Einer der Gründe, warum der Aufklärer nicht überreden und nicht einmal überzeugen will, ist der folgende: Er weiß, dass es außerhalb des engen Gebietes der Logik und vielleicht der Mathematik keine Beweise gibt. Um es kurz zu sagen, beweisen kann man nichts. Man kann wohl Argumente voranbringen und man kann Ansichten kritisch untersuchen. Aber außerhalb der Mathematik ist unsere Argumentierung niemals lückenlos. Wir müssen immer die Gründe abwägen; wir müssen immer entscheiden, welche Gründe mehr Gewicht haben: die Gründe, die für eine Ansicht sprechen, oder die, die gegen sie sprechen. So enthalten die Wahrheitssuche und die Meinungsbildung immer ein Element der freien Entscheidung. Und es ist die freie Entscheidung, die eine Meinung menschlich wertvoll macht.

Kurz: Wer Meinungen verbieten oder entfernen will, der tut dies aus einem Mangel an Respekt vor seinen Mitmenschen, und zwar vor allem vor den Mitmenschen, die nicht Urheber der entfernten oder verbotenen Meinungen sind. Er schränkt deren Freiheit ein (oder beseitigt sie), sich über eine eigene freie Entscheidung eine eigene Meinung zu bilden, erhebt sich über sie, macht sich zum Richter über wahr und falsch und gibt damit zu erkennen, dass er dumm ist, denn er hat die Grundlage der Realität nicht erkannt: Argumente sind niemals lückenlos und Wissen niemals Wahrheit, denn: beweisen kann man nichts. Wer dies bestreitet, der will entweder als Prophet (oder Scharlatan) verehrt werden, dem sich die Wahrheit offenbart hat, oder er ist dumm, sehr dumm.

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