Kriminalität im Wandel: Viel mehr Straftaten, viel weniger Verurteilte

Um es gleich vorweg zu sagen: Gewaltkriminalität wird immer seltener.

“Im langfristigen historischen Wandel geht interpersonelle Gewalt in hochentwickelten Ländern zurück, während gleichzeitig die gesellschaftliche Sensibilität gegenüber Gewalt gestiegen ist. (4)”

Das schreibt Dietrich Oberwittler in einer sehr guten Zusammenstellung der Entwicklung der Kriminalität in Deutschland. Der beschriebene Trend zeigt sich u.a. darin, dass durch Gewalt zu Tode Gekommene in Deutschland immer seltener werden: Waren es zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch 15 von 500.000 Männer, die durch Gewalt zu Tode gekommen sind, so sind es derzeit 3 von 500.000 Männern (Frauen teilen die geringe Opferrate).

Gewaltdelikte, ganz im Gegensatz zu dem, was uns manche weismachen wollen, sind also in den letzten Jahrhunderten deutlich seltener geworden. Sie befinden sich derzeit auf einem historischen Tiefstand und sind auch im internationalen Vergleich sehr selten.

Dennoch hat die Kriminalität zugenommen, und zwar sprunghaft. So ist die Kriminalitätsbelastung, also die Anzahl der Straftaten pro 100.000 Einwohner, nach dem zweiten Weltkrieg im Vergleich zum Zeitraum von 1834 bis 1938 stark angestiegen. Die folgende Abbildung zeigt dies sehr eindrücklich (Bitte die unterschiedlichen Einheiten der linken und rechten Seite der Abbildung beachten!).

Oberwittler2

Schuld am sprunghaften Anstieg der Kriminalität in Deutschland sind Eigentumsdelikte, was erstaunlich ist, da es immer noch eine Reihe von Kriminologen gibt, die behaupten, Eigentumsdelikte stünden in einem Zusammenhang zur Verbreitung von Armut in einer Gesellschaft.

“Dass die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands im 20. Jahrhundert die absolute Armut (mit Ausnahme von Kriegs- und Nachkriegsphasen) vollständig beseitigte führte jedoch keineswegs zu einem Rückgang der Eigentumskriminalität, sondern feuerte sie im Gegenteil sogar noch an. Denn erst nach dem Zweiten Weltkrieg, beginnend mit dem deutschen Wirtschaftswunder, stieg die Verurteiltenrate (…) ebenso wie die polizeiliche Häufigkeitsziffer für Diebstahl und Unterschlagung deutlich an; letztere vervierfachte sich zwischen 1953 und 1993. Kriminologen erklären diese überraschende Entwicklung damit, dass materieller Überfluss mit der wachsenden Zahl leicht zu stehlender Wertgegenstände in Geschäften und Haushalten zu mehr Tatgelegenheiten führt, die dann auch genutzt werden” (3).

Die Erklärung, die Oberwittler hier Kriminologen in den Mund legt, wird diesen Kriminologen jedoch nicht gerecht, denn neben den Möglichkeiten, eine Straftat zu begehen, haben auch die Wahrscheinlichkeit, dabei erwischt zu werden und vor allem die Wahrscheinlichkeit, für die Straftat schnell und empfindlich bestraft zu werden, einen Einfluss auf das Ausmaß der Kriminalität. Berücksichtigt man diese Variablen, dann ergibt sich ein erschreckendes Bild:

1936 2006
registrierte Diebstähle 340.000 4.360.000
davon aufgeklärt 50% 43,6%
angeklagte Diebe 18,6% 9,3%
verurteilte Diebe 16,8 7,8
zu Freiheitsstrafe Verurteilte 9,5% 0,5%

Die Tabelle, die aus Oberwittlers Arbeit entnommen ist, zeigt am Beispiel des Diebstahls deutlich, dass die Wahrscheinlichkeit, bei einem Diebstahl als Täter ermittelt zu werden gesunken ist. Sie zeigt aber vor allem, dass die Wahrscheinlichkeit, als Folge eines Diebstahls mit einer empfindlichen Strafe rechnen zu müssen, z.B. Inhaftiert zu werden, erheblich gesunken ist. Von den 4.36 Millionen Einzeltaten, die 2006 von der Polizei erfasst wurden, führten nur 0,5% zu einer Inhaftierung des Täters, 1936 waren es noch 9,5%.

Dies weist auf eine massive Veränderung der Sanktionen hin. Die nächste Abbildung zeigt diese Veränderung der Rechtswirklichkeit sehr deutlich.

Oberwittler1

Rund 80% derjenigen, die 1882 vor einem Richter gelandet sind, konnten mit einer Freiheitsstrafe rechnen. 2010 waren es nur noch 8%, die mit einer Inhaftierung rechnen mussten. Die Härte der Strafe und die Art der Strafen, die von Richtern verhängt werden, hat sich seit 1882 demnach massiv verändert. Die Strafen sind milder geworden, die Strafformen u.a. durch die Einführung der Strafaussetzung zur Bewährung variabler.

Beides scheint dazu geführt haben, dass die Anzahl der Straftaten sprunghaft gestiegen ist. Ein Ergebnis, das für viele Kriminologen nicht überraschend ist, denn die Begehung einer Straftat ist das Ergebnis eines Abwägungsprozesses: Wer die Gelegenheit hat, eine Straftat zu begehen, wer nicht damit rechnen muss, dabei erwischt zu werden oder wer damit rechnen kann, selbst dann, wenn er erwischt wird, keine nennenswerte Bestrafung zu erfahren, der wird die entsprechende Straftat auch begehen.

Die Daten von Oberwittler sind somit ein eindrücklicher Beweis dafür, dass eine Reduzierung der Härte der Sanktionen, die für Straftaten verhängt werden, bei weitgehend gleichbleibendem Erfassungsrisiko zu einer Zunahme von Straftaten führt. Mit anderen Worten: Die sprunghafte Zunahme von Kriminalität, die in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg zu verzeichnen ist, ist hausgemacht, sie ist nicht zuletzt Ergebnis einer Reduzierung der Härte der Strafe.

Oberwittler; Dietrich(2016). Kriminalstatistik: Lange Zeitreihen dokumentieren die Entwicklung von Verbrechen und Strafe. Informationsdienst Soziale Indikatorren, ISI 55 (Februar): 1-6.

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