Sind wir alle Terroristen?

Jan Philipp Reemtsma hat ZEIT Wissen ein Interview gegeben – in der neuen Ausgabe. Die Highlights dieses Interviews, die Passagen, die man bei der ZEIT für die Highlights hält, sind bereits vorab veröffentlicht, quasi als Compress-Version.

Wir haben die Compress-Version gelesen, und seitdem zweifeln wir, am Verstand, an unseren Mitmenschen, an Jan Philipp Reemtsma, am Leben, dem Universum und allem – aber vor allem an der Rationalität von Journalisten und den von Ihnen Interviewten.

Was uns Reemtsma in aller Kürze sagen will, das ist Folgendes:

Gewalt wird verliehen, sie ist die “‘größte Macht, die man einem Menschen verleihen kann: seinen Mitmenschen töten und tottreten. Nicht jeder fährt darauf ab, aber genug tun es. Diese Leute – um ganz ins Extrem zu gehen – gehen zum IS. Darf ich mich bitte in die Luft sprengen. Darf ich köpfen?’, so der 63-Jährige.”

Und weiter:

Gewalt kann man dadurch verhindern, dass man sie nicht akzeptiert, dass man sie gesellschaftlich ächtet. In Kurz und von uns: Wenn es keine Gewalt gibt, dann gibt es keine Gewalt.

Und schließlich:

“Ich bin sehr für Rache – sie darf nur nicht sein”.

Und übrigens:

“Gedanken, die man hat”, muss man nicht umsetzen.

Der Mann ist Professor für Neue Deutsche Literatur an der Universität Hamburg.

Collins Violence.jpgWie ist das mit Ihnen, sind Sie auch ein potentieller Terrorist? Wollen Sie Köpfe abschlagen und sich selbst in die Luft sprengen, weil Ihnen jemand Gewalt verliehen hat? Sind Sie auch eine dieser wandelnden Zeitbomben, die darauf warten, dass der IS des Weges kommt und ihnen Gewalt verleiht – oder sind sie eine dieser wandelnden Zeitbomben, die “von der Gesellschaft” entschärft werden? Sie wissen schon, die Gesellschaft, die Gewalt ächtet und nicht akzeptiert? Sind Sie auch ein Befürworter von Rache, die nicht sein darf?

Oder sind Sie noch bei gesundem Menschenverstand und halten es mit denen, die Gewalt als Tätigkeit ansehen, als etwas, das man ausübt, nicht etwas, das einem verliehen wird, wie ein Orden oder eine Auszeichnung? Sind Sie vielleicht der Ansicht, dass Menschen Gründe für Handlungen benötigen und entsprechend nur dann Gewalt ausüben werden, wenn sie einen sehr guten Grund für diese Gewalt haben, weil sie z.B. denken, sie würden bedroht oder weil sie der Ansicht sind, dass sie gerade von westlicher Kulturhegemonie erdrosselt werden oder weil sie schlicht dafür sorgen wollen, dass die Erträge aus dem Verkauf des Öls, das aus einem Stück Wüste gepumpt wird, dem ISIL und nicht dem Irak oder Syrien zu Gute kommen?

Das wäre beruhigend, denn die Vorstellung, dass auf deutschen Straßen Millionen von Personen unterwegs sind, die beim Anblick anderer denken, “Kopf abschlagen” oder sich selbst in die Luft sprengen wollen, sie ist doch eher beunruhigend, fast so beunruhigend wie die Vorstellung, dass Jan Philipp Reemtsma sie hat.

Aber, die Entwarnung folgt auf dem Fuße, denn Rache darf ja nicht sein oder war es Gewalt, die nicht sein darf? Wie auch immer, man muss die Gedanken, die man hat, so spricht Reemtsma im Interview, nicht umsetzen, und entsprechend kann man sich so lange in Sicherheit wähnen, so lange es den Anschein hat, dass die gesellschaftliche Ächtung und Nicht-Akzeptanz von Gewalt auch wirkt, denn, so Reemtsma: das einzige, was die Gewalt im Menschen, den Terroristen in uns einzudämmen in der Lage ist, ist die gesellschaftliche Ächtung von Gewalt.

Allerdings: Man stelle sich vor, 12 Uhr Nachts, Stadtpark Leipzig, zwei vermummte Gestalten springen mit je einem Klappmesser bewaffnet hinter einem Baum hervor und stellen Sie vor die folgenden Wahlalternativen: Entweder Geld oder Leben! Wie entscheiden Sie sich? Nach der Methode Reemtsma: Ich akzeptiere Eure Gewalt nicht, Gewalt ist gesellschaftlich geächtet und das ist gut so. Oder nach der Methode gesunder Menschenverstand: Wie wahrscheinlich ist es, dass ein Faustschlag auf A dazu führt, dass A außer Gefecht und B so verdutzt ist, dass Flucht möglich ist? Unwahrscheinlich? Dann besser Geld statt Leben.

Bei vielen von denen, die sich derzeit berufen fühlen, zu ISIL, Terrorismus oder Extremismus den Mund aufzumachen, fragt man sich unwillkürlich ob es nicht besser gewesen wäre, sie hätten den Mund gehalten. Das Bild vom Menschen, das Reemtsma verbreitet, vom Wilden, der mit “köpfen, köpfen” durch die Welt hüpft oder wahlweise “mich in die Luft sprengen, mich in die Luft sprengen” intoniert, und der nur darauf wartet, dass ihm “Gewalt verliehen” wird und vom nicht weniger Gestörten, der Rache empfindet, die nicht sein darf und sich ansonsten von morgens bis abends vorsagt, dass Gewalt geächtet und nicht akzeptiert ist, es ist nur insofern interessant als man sich unwillkürlich fragt, auf welcher Seite sich Reemtsma verortet.

Mit der Realität hat dies alles nichts zu tun. In der Realität (wie sie sich u.a. Gewaltforschern, Soziologen, Kriminologen und Philosophen darstellt) ist Gewalt eine Handlungsoption, die jeder Mensch als Mensch hat, und wie immer, wenn viele Menschen mit derselben Handlungsoption konfrontiert sind, sind manche eher bereit, Gewalt anzuwenden als andere. Somit kann man Gewalt nicht an Menschen verleihen, denn Menschen sind bereits Eigentümer von Gewalt. Jeder Mensch. Dass Gewalthandlungen nicht häufiger sind als sie es sind, liegt daran, dass man mit Gewalt in der Regel wenig erreicht, schon weil in Gesellschaften wie der deutschen, fast jede Form von Gewalt mit Geldstrafe oder Freiheitsentzug bedroht ist, kurz mit Kosten, die diejenigen, die zur Anwendung von Gewalt bereit wären, noch einmal kalkulieren lässt: Genugtuung, die davon ausgeht, dem Gegenüber die Faust ins Gesicht zu schlagen, mal Wahrscheinlichkeit, von der Staatsgewalt zur Rechenschaft gezogen zu werden und vor einem Richter zu landen, mal Höhe der Strafe. Wenn das Produkt aus dieser Kalkulation geringer ist, als die Genugtuung, dann Faustschlag. Wenn nicht, nicht.

Entsprechend muss man konstatieren, dass diejenigen, die Gewalt anwenden, auch die, die das bei der ISIL tun, der Ansicht sind, dass der Nutzen, der ihnen daraus entsteht, höher ist, als die Kosten, die damit verbunden sind. ISIL ist daher, wie jede Armee, eine Organisation, deren Zweck darin besteht, den Nutzen von Gewaltanwendung für diejenigen, die zur Gewaltanwendung bereit sind, zu erhöhen oder die Kosten, die aus einer Nichtanwendung von Gewalt resultieren, zu erhöhen. In jedem Fall sind diejenigen, die sich entschließen, auf der Seite von ISIL Krieg zu führen, mehrheitlich keine irrationalen Spinner, die Köpfe abschlagen wollen, schon seit frühester Kindheit, sondern Menschen, die sich vom Kampfeinsatz einen Zugewinn an Status oder Prestige oder Selbstachtung oder Geld versprechen. Das heißt nicht, dass es nicht auch Spinner gibt. Es gibt sie in jeder Gesellschaft, aber es heißt, dass die Mehrheit derjenigen, die für ISIL in den Krieg ziehen, das aus rationalen Motiven und für sich tun.

Jede andere Erklärung würde zu der absurden Schlussfolgerung führen, dass wir alle verhinderte Terroristen sind, die nur deshalb keine Köpfe abschlagen, weil uns entweder ISIL nicht die “Gewalt verleiht” oder “die Gesellschaft” Gewalt geächtet hat. In beiden Fällen, so scheint Jan Philipp Reemtsma zu denken, wird der Terrorist in uns krude unterdrückt, und das in einer Zeit, in der so ungeheuer großer Wert auf freie Selbstentfaltung gelegt wird. Und wie stehen Sie zur Selbstentfaltung des Individuums, Herr Reemtsma?

P.S.

Ansonsten sind die Einlassungen des Professors für Neue Deutsche Literatur ein Beleg dafür, (1) dass Fachgrenzen in Deutschland hermetisch zu sein scheinen und die Erkenntnisse aus Anthropologie, Kriminologie, Soziologie, Sozialpsychologie bei Professoren für Neue Deutsche Literatur offensichtlich nicht ankommen, was die Frage aufwirft, warum die ZEIT einen Professor für Neue Deutsche Literatur zu einem Thema interviewt, von dem er keine Ahnung hat, und (2) dass eine Professur nicht notwendig mit dem Wissen verbunden ist, wann es besser ist, den Mund zu halten und die eigenen Fachgrenzen zu akzeptieren.

 

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