Im Lebensstilghetto der Gesinnungsklone

Es hat uns früher amüsiert, wenn wir mit Deutschen konfrontiert waren, die viel Wert darauf gelegt haben, dass man zusammenpasst, wobei zusammenpassen bedeutet, dass diejenigen, die in den erlauchten Freundes- oder Bekanntenkreis oder in den Kreis derer, mit denen man sich gerne identifiziert oder schmückt, aufgenommen werden, in allen Punkte übereinstimmen müssen, von der politischen Einstellung über den Lebensstil bis zur Frage, was man Freitagsabends denn so macht.

darwin-greatDas Amüsement hat in der Weise nachgelassen, in der wir festgestellt haben, dass es Deutsche gibt, die das tatsächlich ernst meinen, die zu Leuten, die in einem Punkt nicht ihrer Meinung sind oder ihr Verhalten nicht teilen, jeglichen Kontakt abbrechen oder ihn zukünftig verweigern. Ob man zusammenpasse, das wollten Wissenschaftlerinnen aus Oldenburg prüfen, um zu entscheiden, wer in ein Graduiertenkolleg aufgenommen wird, für das sie eine Förderung durch die DFG beantragt hatten. Zum Glück war Dr. habil. Heike Diefenbach Mitglied der Kommission, die über die Förderung zu befinden hatte. Das Oldenburger Gesinnungs-Ghetto wurde verhindert.

Die Erlebnisse der Art, dass Deutsche, mit denen man gestern noch gute Kontakte hatte und mit denen man in einem Punkt verschiedener Meinung ist, diese Meinungsverschiedenheit so unerträglich finden, dass sie alle Gemeinsamkeiten der Vergangenheit über Bord werfen und sich in die vermeintliche Behaglichkeit ihrer Schmollecke zurückziehen, sie reichen bis in dieses Blog, in dem uns immer einmal wieder ein enttäuschter Kommentar eines Lesers erreicht, der bislang, ja über Jahre immer gerne ScienceFiles gelesen hat, bis der eine Artikel kam, der nicht seiner Meinung entsprochen hat, und deshalb hat ist er jetzt tief verletzt und verstört darüber, dass er sich in der Heiligsprechung von ScienceFiles so getäuscht hat.

Witzigerweise sind die Begründungen immer dieselben: empfundene Kälte, das Bild vom kalten rationalen Wissenschaftler, der keine Rücksicht auf die Herzleiden seiner Leser und ihre Befindlichkeit nimmt, sondern sein Argument macht. Schrecklich, vor allem dann, wenn man sich auf der falschen Seite dieses Arguments wiederfindet und in seiner Hilflosigkeit nur für sich reklamierte Gutheit ins Feld führen kann.

Wir fragen uns dann regelmäßig, ob es möglich ist, dass man z.B. unsere Beiträge über Gutmenschen gelesen haben und dennoch nicht in der Lage sein kann, zu verstehen, dass wir formale und keine inhaltlichen Argumente machen? Wir haben an Gutmenschen vor allem auszusetzen, dass sie sich formal zu mehrwertigen Menschen erklären, die notwendig von ihnen zu minderwertigen Menschen erklärten Menschen sagen wollen, was richtig für sie ist. Diese brummend primitive Form versuchter Herrschaft ist unabhängig vom Inhalt brummend primitiv. Offensichtlich sind manche Leser der Ansicht, dass wir an Gutmenschen vor allem die Inhalte bemängeln und stimmen uns, weil sie dieselben Inhalte gerade bemängeln, aus ganzem Herzen zu.

Popper objektive ErkenntnisUns sind die Inhalte aber weitgehend wurscht. Zur Erinnerung: Wir sind ein Wissenschaftsblog und wir argumentieren formal, z.B. am Konzept der prozeduralen Gerechtigkeit entlang, und aus Sicht prozeduraler Gerechtigkeit gibt es an der Feststellung, dass es einen Verstoß gegen die Regeln der Gerechtigkeit darstellt, wenn Personen, die nicht oder nur wenig oder gar nichts in eine Versicherung eingezahlt haben, genauso oder besser behandelt werden, wie Personen, die über Jahre eingezahlt haben.

Das ist eine logische Konsequenz, die man akzeptieren muss, wenn man am Konzept der Gerechtigkeit, der prozeduralen Gerechtigkeit festhalten will. Es wäre jedem Kommentatoren, der sich darüber echauffiert hat, dass wir z.B. bemängeln, wenn Kindererziehungszeiten aus Beiträgen zur Rentenversicherung honoriert werden, möglich festzustellen, dass es ihm nicht darum geht, prozedurale Gerechtigkeit herzustellen, sondern darum, Kinderbesitzer anderen gegenüber zu bevorteilen. Seltsamerweise legen aber gerade diejenigen, die reagieren, wie ein Hühnerhaufen, wenn man sie mit logischen Schlussfolgerungen ihrer Haltung konfrontiert, einen besonders großen Wert darauf, als herzensgut und natürlich gerecht zu erscheinen.

Dieser scheinbar innere Zwang, sich als Anhänger bestimmter Konzepte zu beschreiben, gut, gerecht, herzlich, was auch immer, er entspricht der Manie, die Genderisten an den Tag legen, die partout als Wissenschaftler gelten wollen. Sie machen zum Teil erbarmungswürdige Verrenkungen, um sich als andere Art von Wissenschaftler zu inszenieren und zeigen mit jeder Verrenkung nur ein weiteres Mal, wie wenig Ahnung und Kenntnis sie von Wissenschaft doch haben. Auch Genderisten könnten sich aus ihrer peinlichen Lagen einfach befreien, wenn sie sagen würden, was sowieso jeder Wissenschaftler weiß, dass sie nämlich keine Wissenschaftler, sondern Ideologen sind, die Vorteile für sich erheischen wollen. Aber aus irgendwelchen nicht nachvollziehbaren Gründen, wollen Genderisten als Wissenschaftler erscheinen.

Es ist, als wäre die Persönlichkeit mancher, selbst mancher ScienceFiles-Leser davon abhängig, eine bestimmte Wertigkeit für sich in Anspruch nehmen zu können, sich z.B. als gut, gerecht, lieb, nicht kalt und nicht rational zu inszenieren. Derartige Surrogatidentitäten bringen es mit sich, dass man in höchst ungesunder Weise von dem Bild abhängig ist, das man nach außen abgibt. Zudem haben Surrogatidentitäten die unangenehme Konsequenz, nicht aus eigener Kraft aufrechterhalten werden zu können, denn sie leben von der Bestätigung durch andere, eine Bestätigung, die man sich einfach und häufig durch soziale Zuordnung holen kann.

Deshalb ist es für manche Deutsche so unglaublich wichtig, sich gegen jede Form der Kritik und jede Form von Meinung, die nicht der ihren entspricht, zu versichern, sich in einem Lebensstil-Ghetto einzumauern, in dem alle Bezugspersonen so leben wie man selbst, sich mit Facebook-Freunden zu umgeben, die nichts anderes „liken“ als man selbst, und wehe dem, der aus versehen bei der AfD Sachsen-Anhalt ein „Like“ geklickt hat, sich in einer Sprechblase von Worthülsen wiederzufinden, die alle dem entsprechen, was man selbst sagen würde, wenn man etwas unabhängig formulieren könnte, sich zum Gesinnungsklon derer zu machen, die man anhimmelt: Den Gesinnungsheiligen bzw. denen, die man irrtümlich dafür hält. Aber wehe, der zum Gesinnungsheiligen Auserwählte sagt etwas, was nicht der Selbstinszenierung entspricht, von der die Möchte-Gern Gesinnungsklone so massiv abhängig sind.

Northampton.pngSchluss ist mit dem Gesinnungsheiligen. Die Gefolgschaft wird ihm aufgekündigt. Er wird vom Heiligen zum Teufel transformiert. Die langen Jahre, in denen man sich in trauter Gesinnungseintracht wähnte, sie werden zu Jahren der Täuschung umgedeutet, in denen man nicht wusste und vor allem nicht bemerkt hat, was das für einer ist. Dass die Jahre, in denen man nicht bemerkt hat, was das für einer ist, die Jahre waren, in denen man sich mit seiner Freundschaft oder in der Gesinnungs-Heiligkeit, die man ihm zugesprochen hat gesonnt hat, ist schnell vergessen: Die Not, sich zu klonen und keine andere als die eigene Gesinnung und keinen anderen als den eigenen Lebensstil zuzulassen, sie ist überwältigend.

Und deshalb scheitern in Deutschland Versuche, einen rationalen öffentlichen Diskurs aufzubauen und Versuche, eine demokratische Kultur, eine civic culture zu etablieren.

Es gibt Tonnen von Papier, die mit Forschung zu Kooperation und zu den Voraussetzungen von Kooperation beschrieben wurden. Das markanteste Ergebnis, das immer wieder zu Tage tritt, ist: Man muss sich mit gutem Willen begegnen, um eine Kooperation initiieren und aufrecht erhalten zu können. Kooperation, auch als Arbeitsteilung, ist der Mechanismus, der Gesellschaften zusammen- und am Laufen hält. Kooperation verspricht den Kooperierenden eine Auszahlung, die sie alleine nicht erreichen können, um nur einen Nutzen von Kooperation zu nennen. Da Kooperationen oftmals damit verbunden sind, dass ein Partner eine Vorleistung bringt, der andere nachzieht, ist guter Wille, mit dem man sich gegenübertritt, so wichtig, denn warum soll man mit jemandem kooperieren, dem man nicht zugute hält, dass er sich an Absprachen hält und seinen Teil zur Kooperation beiträgt.

Wer sich etwas näher mit alltäglichen Situationen der Kooperation auseinandergesetzt hat, der sieht schnell, wie unmöglich eine Kooperation ist, wenn der gute Wille fehlt: Wer von Euch steigt ohne darüber nachzudenken, wer die U-Bahn fährt, in den Zug ein? Was, wenn der Fahrer die Kooperation aufkündigt und die Bahn im Tunnel stehen lässt? Offensichtlich denken das nur ganz wenige. Alle anderen treten dem Bahnfahrer, den sie in der Regel nicht einmal kennen, mit gutem Willen gegenüber und vertrauen sich ihm für kurze oder längere Strecken an. Was wäre wohl los, wenn jeder Fahrgast sich erst davon überzeugen wollte, dass der Bahnfahrer auch die richtige Gesinnung hat, ein Gesinnungsklon seiner selbst ist. Die Frage ist leicht beantwortbar: Nichts. Es führen keine U-Bahnen mehr.

Axelrod1Oder wie ist das in privaten Beziehungen? Die Männerbewegung beklagt seit Jahren, dass durch Gesetze asymmetrischen Bedingungen zu Gunsten von Frauen geschaffen werden. Die Gesetze und die Infiltration der Öffentlichkeit durch das Propagandaministerium führen dazu, dass Männer, wenn es zum Konflikt kommt, immer die schlechteren Karten haben und im Stereotyp immer die Täter, nie die Opfer sind. Trotzdem gibt es private gegengeschlechtliche Beziehungen. Warum? Wegen Goodwill, weil niemand, der eine Beziehung eingeht, an die Folgen denkt, die sie haben könnte, wenn sich sein Gegenüber als fieses Schwein erweist.

Ohne guten Willen gibt es keine Gesellschaft.

Und ohne guten Willen gibt es keine Demokratie. Demokratie lebt vom Streit der Gegensätze, davon, dass alle ihre Ideen und Argumente einbringen und sich gegenseitig daran messen können: Konkurrenz der Argumente, nicht Einheitsfront der Gesinnung ist der Nährboden, auf dem Demokratie wachsen kann. Das setzt aber voraus, dass man miteinander spricht und streitet, sich nicht in sein eigenes Gesinnungsghetto einschließt, in dem man Gesinnungsgleichschaltung betreibt und alle, die sich nicht als eigener Gesinnungsklon erweisen, ausschließt. Eine solche Vorgehensweise macht auf Dauer schnell einsam, was psychologisch betrachtet dazu führen muss, dass die entsprechenden Gesinnungsfetischisten zu Gesinnungsfanatikern werden, denn mit jedem, den man wegen einem Punkt, in dem man nicht übereinstimmt, aus der eigenen Bezugsgruppe geworfen hat, wird nicht nur die Bezugsgruppe kleiner, es wird auch die Notwendigkeit größer, die eigene Meinung als Walhalla der richtigen Ansicht zu feiern, was zwangsläufig wieder dazu führen wird, dass kleine Abweichungen vom Gesinnungsmainstream, wie sie Mitglieder der Bezugsgruppe aufweisen, abermals mit dem Kappen aller Gemeinsamkeiten beantwortet werden.

Was man individuell vielleicht noch als Manie ansehen und als Gegenstand einer entsprechenden Therapie behandeln könnte, wird dann, wenn es endemisch wird, zu einer Gefahr für die Gesellschaft, denn Letztere zerfällt zwangsläufig in eine Anzahl von Gesinnungsghettos, in denen Gesinnungsheilige verehrt werden, die wiederum die Gesinnungsgleichschaltung propagieren und den Kontakt mit Abweichlern abbrechen. Da kein Gesinnungsghetto die Meinung, die in anderen Gesinnungsghettos als richtig angesehen wird, auch nur akzeptiert, hat man sich gegenseitig immer weniger zu sagen und wenn man nicht mehr miteinander spricht, dann gibt es immer weniger Kooperation und immer weniger Möglichkeiten, Gemeinsamkeiten zu entdecken. Es folgen Radikalisierung und Fanatismus und alles nur, weil es für manche unerträglich ist, dass es Menschen gibt, die in dem einen oder anderen Punkt anderer Meinung sind.

Die Politikwissenschaft kennt eine Vielzahl politischer Systeme neben der Demokratie, die Diktatur, die Autokratie, den Totalitarismus. Wir möchten an dieser Stelle die Infantilokratie ergänzen, die direkt in den Gesinnungsfanatismus führt, dessen politische Ausdrucksform der Faschismus ist.

sciencefiles_atlas2
Sie wollen uns unterstützen? Einfach klicken!

Hinweise für ScienceFiles?
Schreiben Sie uns.

Folgen Sie uns auf Telegram.
Anregungen, Hinweise, Kontakt? -> Redaktion @ Sciencefiles.org
Wenn Ihnen gefällt, was Sie bei uns lesen, dann bitten wir Sie, uns zu unterstützen. ScienceFiles lebt weitgehend von Spenden. Helfen Sie uns, ScienceFiles auf eine solide finanzielle Basis zu stellen.
Wir haben drei sichere Spendenmöglichkeiten:

Donorbox

Unterstützen Sie ScienceFiles


Unsere eigene ScienceFiles-Spendenfunktion

Zum Spenden einfach klicken

Unser Spendenkonto bei Halifax:

ScienceFiles Spendenkonto: HALIFAX (Konto-Inhaber: Michael Klein):
  • IBAN: GB15 HLFX 1100 3311 0902 67
  • BIC: HLFXGB21B24

Print Friendly, PDF & Email
6 Comments

Schreibe eine Antwort zu R1D2Antwort abbrechen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Entdecke mehr von SciFi

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen

Entdecke mehr von SciFi

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen