Zeitgeistmythen: Work-Life-Balance
1870 gab es keine Kaffeemaschine – oftmals nicht einmal Kaffee.
Es gab keine Waschmaschine, keine Geschirrspülmaschine, kein Auto, kein Telefon, keinen Fernseher.
Man musste ohne Kühlschrank auskommen, ohne Elektroherd und ohne Kochfeld, ohne Wasserkocher ohne Mikrowelle.
Die meisten Öfen wurden mit Holz beheizt oder mit Kohle. Erdöl und Elektrizität fristeten ein Nischendasein.
1870 waren in Deutschland rund 44% der Bevölkerung erwerbstätig. Sie haben im Durchschnitt 2841 Stunden pro Jahr oder 57 Stunden in einem 50-Wochenjahr gearbeitet.
Fast Forward mit Kapitalismus und Globalisierung.
In den 1990er Jahren hat jeder Haushalt einen Kühlschrank, eine Geschirrspülmaschine, Küchenmaschinen, von denen 1870 niemand zu träumen gewagt hätte, Herde, Öfen, Zentralheizung, Elekrizität, Waschmaschine, Fernseher (Multimedia-System), Kühlschrank, Tiefkühltruhe, Telefon, das alles ist Standard.
In den 1990er Jahren sind rund 44% der Bevölkerung erwerbstätig. Sie arbeiten im Durchschnitt 1.523 Stunden pro Jahr oder 30 Stunden pro Woche in einem 50-Wochen-Vergleichsjahr (aber natürlich arbeiten die meisten max. 250 Tage im Jahr…).
Die durchschnittliche Arbeitszeit hat sich nahezu halbiert.
Der Anteil der Erwerbstätigen ist mit rund 44% gleich geblieben.
Die Produktivität der Wirtschaft, der Lebensstandard der Einzelnen, sie haben sich im Vergleich zu 1870 potenziert.
Den Menschen, die 1870 gelebt und gearbeitet haben, würden die 1990er Jahre wie ein Science-Fiction-Roman oder ein Märchen erscheinen.
Aber es ist kein Märchen.
Die Menschen, die in den 1990er Jahren arbeiten gehen, sie haben ein Problem.
Sie haben ein Vereinbarkeitsproblem. Sie bringen ihre – verglichen mit 1870 – sehr viele Freizeit nicht mehr mit ihrer Arbeitszeit unter einen Hut.
Es scheint, je einfacher das menschliche Leben durch technische Errungenschaft wird, desto größer werden die Probleme, die sich manchen Menschen stellen, vermutlich deshalb, weil die Freistellung, die z.B. Hausarbeit erfahren hat, weil man heute z.B. in 10 Minuten den Teppich staubsaugt, den man früher in Stunden ausgehängt und ausgeklopft hat, mit Langeweile und dem Problem einhergeht, eine sinnvolle Beschäftigung zu finden. Für manche besteht eine sinnvolle Tätigkeit darin, sich Probleme auszumalen, sie hochzureden, mystisch zu verklären und als Druckmittel einzusetzen, um Unterstützung, Rücksicht, finanzielle Subventionen vom Staat und vieles andere mehr zu erhaleten.
Und so kommt es, dass mit der vielen Freizeit das Problem einhergeht, wie man die Freizeit mit der Arbeit vereinbaren kann.
Früher war man froh, Freizeit zu haben, die man sinnvoll genutzt hat, z.B. zur Weiterbildung im Arbeiterbildungsverein. Heute wird mit jeder Minute mehr Freizeit, die Freizeit als solche zum Problem und von einem Bedeutungsverlust heimgesucht, den Homans in seiner “Deprivations-Sättigungshypothese” schon beschrieben hat: “Je häufiger eine Person in der jüngsten Vergangenheit eine bestimmte Belohnung erhalten hat, desto weniger wertvoll wird für sie jede weitere Einheit dieser Belohnung”.
Je mehr Freizeit, desto größer die Langeweile, desto wichtiger die Eventkultur und desto größer die Not, die Sinnlosigkeit der Freizeitgestaltung zu erklären. Das ist ein Problem, ein Vereinbarkeitsproblem, denn Freizeit hat in der Moderne einen geradezu verklärten Stellenwert, den Status von etwas “Sakrosankten”. Jeder sehnt sich nach Freizeit. Jeder will viel Freizeit. Jeder fragt sich, was er mit seiner Freizeit machen soll. Viele haben keine Idee, was sie mit ihrer Freizeit machen sollen. Das ist das real-existierende Vereinbarkeitsproblem.
Während die Arbeitszeit zumeist mit Sinn und entsprechender Tätigkeit gefüllt ist, fehlt häufig der Sinn von Freizeit. Die Folge sind kognitive Dissonanzen, denn Freizeit ist gut, wichtig, man braucht Zeit für die Familie, die Bekannten, die Kneipe, das Restaurant, die Kultur, das Event … und man braucht noch jemanden, der die entsprechende Zeitver(sch)wendung mit Sinn füllt.
Bob Marley hat einmal gesungen: „In the abundance of water, the fool is thirsty“ – eines der besten Bilder für Wahnsinn, das wir kennen, kannten, bevor das Problem der Vereinbarkeit von Familie und Beruf erfunden wurde …
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Der Weg zur Muße geht durch die Langeweile.
Mein Zeichenlehrer, Pro. Jaentsch, formulierte mal Ende der 60iger Jahre: „Mai, Juni, das ist wie Schweizer Käse. Da wollen die Kinder nicht lernen!“ Damals verhalf mir das zur Erkenntnis, dass das ständige Umpolen von Arbeit und süßer Freizeit misslaunig macht. In der Freizeit dachte man an die blöde Schule, in der Schule an die Freizeit. Das dürfte auch für machen Lehrer ein unterschwelliges Problem sein, zumal dort der ständige Wechsel vom Alfatier vor der Klasse zum Untertanen in der Beamtenhierarchie die Nebennierenrinde anschwellen lässt.
So wie der wohlhabende Geheimrat Goethe möchte heute kein Mensch mehr bei uns leben.
Ein Lied aus dem Schwarzwald:
Ja, unser Hans im Schnakennest,
der hat das Leben satt.
Denn was er will, das hat er nicht,
und was er hat, das will er nicht.
Ja unser Hans im Schnakennest …
Bei Möbius findet sich der wunderbare Satz: ” So ist eben das Leben, es gestaltet nie vollkommen, und alle Vollkommenheit lebt nur in der Sehnsucht.”
Meinen Beobachtungen nach ist das eines der zentralen Punkte die die Menschheit nie zur Ruhe (besser Muße) kommen läßt, denn eines der schwersten Dinge überhaupt ist es etwas zu erkennen und dann auch zu halten.
Sehr interessante Gegenüberstellung 1870 – 2016 !
Jede Arbeit erforderte 1870 mehr körperliche Anstrengung und Geschicklichkeit als heute.
Selbst im Stehen in einem Kontor zu arbeiten erforderte einiges mehr an körperlicher Anstrengung als heute, schon der Arbeitsweg ohne Auto, also weitgehend zu Fuß.
Das befriedigt vielleicht viel mehr.
Interessantes zur Ernährung: 1870 ernährte sich noch die gesamte Menschheit biologisch,
und zwar in einer Qualität wie sie heute nirgends mehr zu bekommen ist.
Jede Milch handgemolken, jeder Käse aus Rohmilch, von regional angepaßten Kühen,
jede regional angepaßte Feldfrucht von Hand geerntet und verarbeitet.
Keinerlei Ackergifte, kein chemischer Dünger.
Von der vielleicht grausigen Hygiene mal abgesehen, geradezu paradiesische Zustände.
In meiner Kindheit konnte ich das in Hochschwarzwald noch erleben wegen der Armut
der dort fast autarken Bauern-Bevölkerung bis dann der “Grüne Plan” zuschlug,
was letztlich (unter anderem) zur Vernichtung der dortigen Landwirtschaft führte.
Wer sich in der Qualität von 1870 heutzutage ernähren wollte würde kläglich scheitern.
Diese Qualität ist heute unerreichbar, auch unbezahlbar.
Uns ist heute so vieles selbstverständlich, daß die Lebensverhältnisse von 1870 kaum vorstellbar sind.
Dafür mussten die Leute 1870 auch deutlich länger arbeiten, um sich einen Liter Milch oder ein Stück Käse kaufen konnten. Oft genug blieb es daher bei Brot mit Butter.
Sich ausreichend uns ausgewogen zu ernähren, erforderte einiges mehr an Anstrengung als heute. Fleisch war ein seltenes Festtagsessen, wenn man es sich überhaupt leisten konnte, Gemüse Saisonware und Obst ein Traum vieler hart arbeitender und schlecht verdienender Tagelöhner.
Verglichen dazu sind die heutigen Zustände paradiesisch.
Jeder, selbst die ALG II-Bezieher, kann sich jederzeit das Essen kaufen, das er mag. Jeder, selbst ALG II-Bezieher, kann jeden Tag Fleisch und Wurst essen.
Abgesehen von der Essensqualität war die heutige Versorgungslage damals unerreich- und unbezahlbar.
Ich habe Verständnis für deine Einwände. Es ist halt der Blickwinkel aus unserer heutigen Sicht. Ich möchte aber zu bedenken geben, daß Lebensmittel der Qualität von 1870 heutzutage nicht billiger zu erwerben wären, wenn es sie denn gäbe. Übrigens, Inflation wird eben nicht nur über Preiserhöhung erzeugt, sondern auch über Qualitätsminderung. Wer heute im Schichtdienst sitzend konzentriert am Bildschirm arbeitet muß viel Geld und Zeit aufwenden fürs Fitness-Studio und Sportartikel, ebenso für Nahrungsergänzungsmittel und das Gesundheitswesen ganz allgemein. Unser Leben heute ist ja keineswegs gesund. Während ich heute mit 30Kg Übergewicht kämpfe gab es in den 1950er Jahren in meinem Schwarzwalddorf keinen einzigen Dicken. Unser Paradies ist leider trügerisch, wenn auch der Kurzurlaub in Thailand so manchem große Befriedigung bereiten mag.
Die Zustände von 1870 wünsche ich mir allerdings auch nicht zurück.
In meiner Wohnung, erbaut 1910, finden sich noch Gasleitungen in den Decken die zum Leuchten dienten; Toiletten-Abflußleitungen im Treppenhaus; Bad und Waschküche im Keller; Kaminzüge in jedem Zimmer für jede Etage für Kohle- oder Holzöfen.
Diese Wohnungen mit 3,40m Deckenhöhe waren damals für höhere Angestellte einer Schiffswerft erbaut worden, also keine Tagelöhnerhöhlen.
Es ist wirklich nicht leicht sich die Lebensumstände umfassend vorzustellen die nur 150 Jahre zurück liegen, aber spannend.
Lebensmittel “der Qualität von 1870” muss man sicherlich differenzieren.
Geht es rein um die physiologische/biologische Qualität der Nahrungsmittel?
Oder geht es auch um den Verarbeitungsgrad, die Natürlichkeit und die Produktionsbedingungen?
Der Weizen von heute ist in physiologischer Hinsicht sicherlich nicht schlechter als der von damals. Gutes Brot von einem Bäcker kostet heute (in derselben Qualität von damals) trotzdem weniger als 1870. (Dafür zahlt die Gesellschaft indirekt die Kosten der industriellen Landwirtschaft).
Auf der anderen Seite hat man im 19. Jhd. viel Häufiger Tiere selbst gehalten und statt für die Produkte das Futter gezahlt. Dafür gab es die Milch, die Eier oder das Fleisch dann auch “für lau”.
Ob man sich früher “hochwertiger” ernährt hat, hängt also hochgradig davon ab, was man darunter versteht – und ob man die Lebensmittel isoliert betrachtet, oder die gesamte Nahrungsversorgung.
Bei ersterem stimme ich Ihnen teilweise zu, bei letzterem sehe ich die heutige Zeit klar vorn.
Was die Lebensbedingungen angeht, haben wir heute sicherlich andere Probleme als damals, aber weitaus weniger gravierende.
Während damals vor allem äußere Einflüsse (Armut, Knappheit, Unfrieden, niedrige Standards bei Hygiene, Medizin usw., schlechte Lebensbedingungen) Leiden erzeugt haben, sind es heutzutage Leiden, die mehr im individuellen Verhalten liegen.
Der heutige Nahrungsüberfluss verlangt Maßhaltung bei den Bürgern. Manche schaffen das, manche nicht*. Durch geschickte Beeinflussung über die Werbung, Lobbying und geänderte gesellschaftlicher Werte sind das leider immer weniger, die es schaffen.
Man muss heutzutage höllisch aufpassen, dass man nicht zu VIEL isst. Damals musste man darum bangen, dass es nicht ZU WENIG ist.
Auch wenn der heutige Fertigfraß mit hochgradig verarbeiteten, industriell hergestellten Zutaten in sensorischer Hinsicht nicht an ein Festessen von 1870 heran kommt, hätte man damals trotzdem für einen ähnlichen Geldeinsatz nicht annähernd so viele Nährstoffe (und damit sind nicht nur Kalorien gemeint) bekommen.
Deswegen würde ich in Sachen Essen nicht mit den Menschen aus 1870 tauschen wollen.
*gesundheitliche Ursachen seien hier mal ausgeklammert.
„… ernährten sich die Menschen biologisch … „
Wichtiger ist aber, sich gesund zu ernähren.
Eine der größten Probleme bei der Ernährung waren damals Pflanzengifte und insbesondere Gifte durch verdorbene Lebensmittel. Sehr viele Menschen durften daran sterben.
Es ist ein Märchen, dass biologisch mit giftfrei gleichzusetzen ist, denn die meisten Pflanzen produzieren Gifte um sich gegen Pilzbefall und gegen Fressschädlinge zu wehren. Das ist Natur!
Da von besserer Lebensmittelqualität in alter Zeit zu sprechen hat leider nichts mit dem realen Leben zu tun.
Es stimmt. Die Langeweile ist eine “Erfindung” des späten 19. bzw. des 20. Jahrhunderts.
Durch die zunehmende Mechanisierung des Alltags können langwierige Routinearbeiten immer mehr an Maschinen delegiert werden und der arbeitende Mensch hat vergleichsweise viel Zeit übrig – für manche zu viel, die sie nicht sinnvoll nutzen können. So entsteht Langeweile.
Die “Work-Life-Balance” hat damit aber nur bedingt zu tun. Die Aufgaben neben der Arbeit sind im Vergleich zu 1870 mehr geworden. Kinder haben damals die Großeltern betreut, die Hausfrau hat sich um den Haushalt gekümmert, während der Mann arbeiten war.
Heute müssen die Kinder in die Schule gebracht werden, nachmittags zum Musikunterricht, Sport, Arzt/(Physio-)Therapeuten/der AG und abends auch noch bespaßt werden und Haushalt machen häufig beide – wenn es überhaupt eine Familie gibt!
Die durchschnittliche Haushaltsgröße hat von knapp 5 Personen im Jahr 1870 auf heute 2 Personen abgenommen. Es gibt also viel mehr Einzelpersonen-Haushalte und auf die kommt neben der Arbeit heute mehr Hausarbeit und dergleichen dazu.
Zudem ist der Arbeitslohn durch “Kapitalismus und Globalisierung” heutzutage meist der größte Kostenfaktor, was zu einer Arbeitsverdichtung geführt hat. Während Tante-Emma ihren Laden damals relativ entspannt geführt hat, räumen heute Leiharbeiter mit Werkverträgen im Akkord Regale ein. Kranken- und Altenpfleger, aber auch Reinigungskräfte kommen mit ihrem Arbeitspensum dank Renditedruckes nicht mehr hinterher. Deren Job ist sicher nicht einfacher als vor 80 Jahren. Oder anders gesagt: Die gleiche manuelle Arbeit wird heute von weniger Menschen verrichtet als 1870.
Und nicht zuletzt bezieht sich das Problem der “Work-Life-Balance” (WLB) nicht auf Menschen mit EINEM Teilzeitarbeitsplatz. Die WLB betrifft Vollzeitarbeitskräfte. Wie viele Stunden die leisten, gibt die Statistik leider nicht wider.