Abiturprüfung zu schwierig: Rund 30.000 unterschreiben Petition gegen Englisch-Prüfung

Times, they are changing.

Bob Dylan hat es gesungen, und Bob Dylan ist heute über 70 Jahre alt.
Daran kann man sehen, wie die Zeit vergeht und dass man selbst alt geworden ist. Gut, man sieht, vor allem merkt es auch an anderen Dingen, aber das ist nebensächlich.

O tempora o mores, der Ausruf von Cicero, der die Dekadenz seiner Zeit beklagt, nie war er so angemessen wie heute, wo es die Regel ist, dass man vor Anforderungen einknickt und die Ausnahme, dass man an Überforderung wächst. Wozu auch? Man hat heute ein Recht auf fast alles, verliehen vom Staat und ganz ohne eigene Anstrengung zu haben. Strengt man sich an und hat Erfolg, dann kommen die Neider gleich mit, mit dem Finanzamt. Strengt man sich nicht an, dann gibt es keine negativen Konsequenzen, im Gegenteil, man wird wegen Burnout behandelt und von einem Psychologen zum nächsten gereicht – auf Kosten der Beitragszahler.

Die neue Zeit, sie duldet keine Ungerechtigkeit, keine Unfairness, keine Benachteiligung.

Denkt man von sich, man sei ungerecht behandelt worden, dann stehen Legionen von Helfern bereit, die vorgebliche Gerechtigkeit zu ihrem Geschäft und angebliche Fairness zu ihrem Einkommen gemacht haben, aber natürlich ist die Erzählung eine andere: Nicht um des Eigennutzes willen wird geholfen, sondern aus Altruismus und Menschenfreundlichkeit (ergänzt um ein meist üppiges Salär). Der moderne Mensch ist ein Märtyrer, ein moderner Märtyrer, der den Kampf mit der Ungerechtigkeit aufnimmt, nicht für sich, sondern für andere. Der moderne Mensch ist einer, der keinerlei eigene Interessen hat. Sein Leben ist den anderen geweiht. Er opfert sich für sie. Sein Einkommen nur eine Aufwandsentschädigung, die er widerstrebend für seinen Dienst am Nächsten annimmt. Und das Opfertum, es beginnt bereits in der Schule, dem Ort, an dem die Ungerechtigkeit in Noten gegossen wird.

So geschehen in Baden-Württemberg und im Zuge der Abiturprüfung, die ein moderner Nachwuchs-Märtyrer zum Anlass genommen hat, um die Interessen seiner Mitschüler, nicht etwa die eigenen, zu vertreten und eine Petition zu starten. Er, der starke, der gute Schüler, er wirft sich in den Ring, für die Unterlegenen, die schlechten, die schwachen Schüler, stellt sich schützend vor sie, die ohne seine Hilfe der Notenwillkür ausgeliefert wären:

„Auch als eine Person, die gute Noten schreibt und gut in Englisch ist, fand ich den Text der Reading Comprehension enorm schwierig. Gerade für sonst schlechtere Schüler, war die Prüfung daher noch anspruchsvoller. Ich habe mich in meiner Stufe mit Schülern mit unterschiedlichen Leistungsstandards unterhalten und auch im Internet haben viele diese Meinung vertreten. Daher schreibe ich diese Petition im Interesse aller Schüler.”

Der Gegenstand der Petition ist ein schlechter Roman von Henry Roth, “Call it Sleep“, der 1934 geschrieben und schnell vergessen und erst 1964 wiederbelebt wurde, in einer Rezension von Irving Howe für die New York Times Book Review. Seitdem wird er gelesen und die Geschichte der jüdischen Einwandererfamilie, die 1907 in die USA kommt und heute das Herz politisch korrekter Zeitgenossen höher schlagen lässt, die mit Sohn David mitleiden und selbst der Brachiallösung des Stromschlags, der die Familie heilt, noch etwas abgewinnen können. Kein Wunder also, dass es im grün-schwarzen Baden-Württemberg der Stoff ist, aus dem die Abiturprüfung in Englisch wird.

Die Sprache des Buches ist einfach, die Worte, die benutzt werden, bis heute in Verwendung. Das Sprachverständnis selbst dann, wenn man nicht alle benutzten Worte kennt, ein leichtes. Und dennoch ist es Anlass für das Gefühl, ungerecht, unfair behandelt worden zu sein.

Die Anklagepunkte der Petition sind umfangreich:

  • Das Buch ist aus dem Jahre 1934. Es enthalte alte Worte.
  • Es ist ein Roman und enthalte unklare Personenkonstellationen.
  • Die Multiple Choice Aufgaben seien schwieriger als im Vorjahr.
  • Der schwierigste Teil des Textes sollte analysiert werden.

Das sind nach Ansicht des anonymen Verfassers der Petition oder seiner Eltern, denn der Text wirkt über weite Stellen zu erwachsen, als dass er „von einer Person, die gute Noten schreibt“, stammen könnte, schwere Vorwürfe, die die Forderung, den „Erwartungshorizont anzupassen und die genannten Aspekte bei der Bewertung zu berücksichtigen“ begründen.

Mit anderen Worten, die Petition verlangt, dass das Niveau der Bewertung dem subjektiven Empfinden von Schülern, die generell und in jeder Abiturprüfung der Ansicht sein werden, die Aufgaben waren zu schwierig, anzupassen. Eine Anpassung, für die er, „die Person, die gute Noten schreibt“, es in Kauf nimmt, von der Absenkung des Niveaus auch zu profitieren. Was tut man nicht alles, für seine schlechten Mitschüler…

Und warum soll man das Niveau der Abiturprüfung nicht den Wünschen der Schüler anpassen? Gerechtigkeit und Fairness sind subjektive Maße. Ein Berufs-Mörder hat andere Vorstellungen davon, was eine faire Bezahlung für seine Dienste ist als seine Opfer. Generell haben diejenigen, denen eine Leistung abverlangt wird, eine andere Vorstellung davon, was Fairness ist als diejenigen, die die Leistung verlangen. Und natürlich haben schlechte Schüler eine andere Vorstellung von Fairness als gute Schüler. Deshalb ist es so heldengleich, dass ein guter Schüler, der es eigentlich gar nicht nötig hat, eine Petition für seine schlechten Mitschüler startet.

Am besten, wir richten die Fairness am subjektiven Empfinden aus: Fair ist, was als fair empfunden wird, nicht, was anhand von Kriterien als fair belegt werden kann,

Fair ist, wenn Schüler eine Aufgabe als fair empfinden. Fair ist nicht, ein Leistungsniveau zu definieren und zu prüfen, ob Schüler dieses Leistungsniveau erreicht haben. Fair ist, wenn Schüler denken, sie müssen nicht mehr leisten als der Jahrgang vor ihnen. Fair ist nicht, wenn eine Form der funktionalen Äquivalenz, die einzig bisher gefundene Methode, um kaum Vergleichbares doch zu vergleichen, genutzt wird, um transgenerationale Fairness unter Schülern herzustellen.

Wie gut, dass unser kritischer Schüler nicht weiß, was in anderen Bundesländern in der Abiturprüfung gefragt wird. Was hätte er wohl für Probleme mit der Fairness, kennte er die Prüfungsaufgaben aus Bremen. Daraus folgt: Fairness ist immer eine „bounded fairness“, die am Horizont des subjektiven Empfindens derer endet, die sie einklagen.

Angesichts einer Generation, in der der Paternalismus für die vermeintlich „Armen und Schwachen“ schon verinnerlicht ist, in der keinerlei Stolz daraus genommen wird, eine Leistung erbracht zu haben und an Anforderungen gewachsen zu sein, in der es normal ist, eine Überforderung zu beklagen und sich zum Opfer von Unfairness zu stilisieren und in der eine Veränderung als Unfairness verstanden wird, muss man um die Zukunft Deutschlands nicht bangen, denn die Zukunft ist bereits vorbei.

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