Niedergang der Sozialwissenschaften: Eine Erklärung

“Eine wissenschaftliche Gemeinschaft besteht so gesehen aus den Fachleuten eines wissenschaftlichen Spezialgebietes. In einem auf den meisten anderen Gebieten nicht vorhandenen Ausmaß sind sie einer gleichartigen Ausbildung und beruflichen Initiation unterworfen gewesen. Dabei haben sie dieselbe Fachliteratur gelesen und vielfach dasselbe daraus gelernt. Im allgemeinen bezeichnen die Grenzen dieser Standardliteratur die Grenzen eines wissenschaftlichen Gegenstandsgebietes, und jede Gemeinschaft hat gewöhnlich ihr eigenes Gegenstandsgebiet. Es gibt Schulen innerhalb der Wissenschaften, Gemeinschaften, die denselben Gegenstand von miteinander unvereinbaren Standpunkten aus angehen. Doch sie sind dort viel seltener als in anderen Gebieten; sie liegen immer in Konkurrenz miteinander, und ihre Konkurrenz endet gewöhnlich schnell. Folglich stellen Mitglieder einer wissenschaftlichen Gemeinschaft für sich und die anderen diejenigen dar, die als einzige für die Verfolgung einer Reihe von gemeinsamen Zielen einschließlich der Ausbildung ihrer Nachfolger verantwortlich sind. Innerhalb solcher Gruppen gibt es eine relativ starke Kommunikation, und die fachlichen Urteile sind relativ einheitlich. Da die Aufmerksamkeit verschiedener wissenschaftlicher Gemeinschaften andererseits auf verschiedene Inhalte konzentriert ist, ist die Kommunikation zwischen den Gruppen manchmal mühsam, führt oft zu Missverständnissen und kann, wenn sie weitergetrieben wird, bedeutende und vorher unvermutete Meinungsverschiedenheiten hervorrufen.“ (Kuhn 1988: 188-189)

Das schreibt Thomas Kuhn im Postskriptum von 1969 zu seinem 1962 erschienen Buch „The Structure of Scientific Discovery“.

Was Kuhn hier für eine wissenschaftliche Gemeinschaft beschreibt, ist nichts anderes als ein abgeschlossener Raum, der die Gefahr in sich trägt, zum Echozimmer einer Sekte zu werden. Die Voraussetzungen dafür sind alle vorhanden: Die Ausbildung und Auswahl der Nachfolger ist inklusiv und findet ohne Intervention von außen statt. Der Gegenstand der Ausbildung ist standardisiert und vorgegeben. Die Sprache ist eine geteilte Sprache, die von anderen Sprachen abweicht und nur mit Schwierigkeiten in die Sprache anderer Schulen oder der Allgemeinheit übersetzt werden kann.

Das einzige, was die von Kuhn beschriebenen wissenschaftlichen Gemeinschaften davon abhält, zu esoterischen Zirkeln zu werden, in denen wirre und von der Außenwelt losgelöste Ideen diskutiert werden, ist der Bezug der wissenschaftlichen Gemeinschaften zur Realität.

Sie testen ihre Aussagen an der Realität. Entsprechend müssen sie Aussagen über die Realität machen, in welcher verquasten Form auch immer.

Durch den Test von Aussagen an der Realität ist sichergestellt, dass falsche Aussagen entdeckt und modifiziert oder falsifiziert werden.

Durch die gemeinsame Sprache ist sichergestellt, dass andere Mitglieder der eigenen wissenschaftlichen Gemeinschaft die Aussagen und deren Prüfung nachvollziehen und die Ergebnisse kontrollieren können. So ist gewährleistet, dass wissenschaftliche Gemeinschaften nicht zu Religionsgemeinschaften verkümmern.

Nun nehmen wir die Aussagen über die Realität und die damit verknüpfte Prüfbarkeit von Aussagen weg, lassen sie als zentralen Bestandteil einer wissenschaftlichen Gemeinschaft fallen.

So wie das Konstruktivisten tun.

So wie das in den Gender Studies der Fall ist.

So wie es in vielen Sozialwissenschaften zunehmenden der Fall ist.

Der Niedergang großer Teile der deutschen Sozialwissenschaften ist damit erklärt.

Mit dem Verzicht, Aussagen über die Realität aufzustellen und diese Aussagen zu prüfen, wird der Bezug zur Realität gekappt. Die entsprechenden Gemeinschaften entwickeln ihre Sprache also ohne Bezug zur Außenwelt, ausschließlich für ihren esoterischen Zirkel, in dem dann von intersektionalen Machtstrukturen und patriarchaler Herrschaft geschrieben werden kann, ohne dass jemand den Einwand erhebt, dass es dergleichen in der Realität nicht gibt.

Auch die Kontrollfunktion über wissenschaftlichen Nachwuchs entfällt. Normalerweise haben Nachwuchswissenschaftler einen Anreiz, neue Aussagen über die Realität aufzustellen und zu testen, um das gemeinsame Wissensprojekt der jeweiligen Gemeinschaft zu erweitern. Dieser Anreiz entfällt. Niemand prüft, was er sagt, an der Realität. Die Prüfinstanz ist nunmehr, ob das, was Nachwuchswissenschaftler sagen, mit dem übereinstimmt, was etablierte Wissenschaftler von sich geben. Die Gemeinschaft zirkelt um sich selbst. Ein Zugewinn an Wissen ist ebenso ausgeschlossen, wie das Entdecken falscher Aussagen. In dieser Situation, in der die Prüfung auf Übereinstimmung mit der Realität durch Prüfung auf Übereinstimmung mit Vorgaben ersetzt wurde, kommt Bewertungen eine große Bedeutung zu.

Aussagen, die ein Nachwuchswissenschaftler aufstellt, können nur auf Übereinstimmung mit der akzeptierten Autorität geprüft werden. Folglich gibt es übereinstimmende oder gute Aussagen und nicht-übereinstimmende oder abweichende Aussagen. Für letztere ist in der wissenschaftlichen Gemeinschaft kein Platz.

Um die Verbreitung guter, übereinstimmender Aussagen durch Nachwuchswissenschaftler anzureizen, werden nicht nur Belohnungsstrukturen dahingehend geschaffen, dass derjenige, der zum Klon seines „Lehrers“ geworden ist, belohnt wird, sondern auch dahingehend, dass die Klone und ihre Aussagen positiv bewertet werden. Die wissenschaftliche Leistung als Kriterium für das, was jemand an Beitrag erbracht hat, entfällt. An ihrer Stelle steht die Bewertung durch den Lehrer, die wiederum davon abhängig ist, ob der Nachwuchswissenschaftler seinen Katechismus auswendig gelernt hat  und richtig aufsagen kann.

Die Dynamik, die aus einst wissenschaftlichen Gemeinschaften der Sozialwissenschaften Religionsgemeinschaften gemacht hat, wäre hiermit beschrieben, ebenso wie erklärt wäre, warum aus den Sozialwissenschaften nur noch vereinzelt neue und spannende Ideen kommen.

Eine Konsequenz dieser Erklärung ist es, dass Veränderung, eine Re-Adjustierung der Sozialwissenschaften nur von außen erfolgen kann, schon weil die Idee einer Prüfung dessen, was behauptet wird, mit dem, was der sozialwissenschaftlichen Religionsgemeinschaft heilig ist, inkommensurabel ist.

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