Ist die CDU eine Volkspartei? Der Kaste-Raschke-Test

Heute haben sich eine Reihe von Polit-Darstellern unseren Ärger ob ihrer inadäquaten Verwendung wissenschaftlicher Begriffe zugezogen.

Das war die freundliche Variante.

Wir hätten auch schreiben können, dass es uns massiv ärgert, Polit-Darsteller ständig Begriffe in den Mund nehmen zu hören, deren Bedeutung sie nicht kennen.

Volkspartei ist ein solcher Begriff.

Den trägt derzeit jeder, der denkt, er habe etwas zu sagen, vor sich her.

Angela Merkel zum Beispiel:

„Eine Woche vor der Hessen-Wahl hat CDU-Chefin Angela Merkel ihre Partei davor gewarnt, den Status einer Volkspartei zu verlieren. Wenn man sich weiter so stark damit beschäftige, was in der Flüchtlingspolitik 2015 vielleicht anders hätte laufen müssen, statt zukunftsorientierte Politik zu machen, “dann werden wir den Charakter einer Volkspartei verlieren”, sagte Merkel beim Landesparteitag der Thüringer CDU in Leinefelde-Worbis.

Wir werden jetzt nicht auf die Seltsamkeit eingehen, dass Polit-Darsteller wie Merkel, die ihren Bürgern ständig und gleich wieder erzählen, man müsse aus der Geschichte lernen, eben dieses Lernen ablehnen, wenn es an ihre eigene Adresse gerichtet ist. Nein, wir beschäftigen uns mit dem Begriff Volkspartei und dem Status, den Merkel die CDU verlieren sieht.

Der Begriff der Volkspartei ist – wie so viele Begriffe des Politischen – eine Schöpfung des 19. Jahrhunderts. Er sollte den Gegensatz zum feudalistisch-absolutistischen System zum Ausdruck bringen, eine – wie Richard Stöss (1986: 122) schreibt: „Anwaltschaft allgemeiner Menschheitsinteressen“. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben sich vor allem im nicht-preußischen Teil Süddeutschlands „Volksparteien“ gegründet, z.B. die Schwäbische Volkspartei, um die föderalistische Demokratie zu propagieren.

Sozialisten, die den Sozialismus sein lassen wollten und statt dessen, eine Demokratisierung der politischen Ordnung angestrebt haben, ohne Revolution, ohne Enteignung und ohne Gewalt, haben sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts als „linksliberale Volksparteien“ begriffen.

In der Weimarer Republik ist der Begriff der „Volkspartei“ dann nach rechts gewandert, wegen des Gehalts des Begriffes „Volk“. Deshalb finden sich Volksparteien in nationalistischer Variante z.B. als Deutschnationale Volkspartei.

Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Volkspartei oder die Allerweltspartei, wie sie Otto Kirchheimer genannt hat, zu einem vieldiskutierten und dann in den 1990er Jahren still und leise beerdigten politikwissenschaftlichen Konzept geworden, war die Volkspartei doch im Rahmen der Befürchtung, die Bundesrepublik Deutschland entwickle sich zum Einparteienstaat, diskutiert worden, nicht, weil es nur noch eine Partei gegeben hätte, sondern weil sich die ideologischen Inhalte der Parteien immer mehr angeglichen hätten.

Noch 1977 haben Hermann Kaste und Joachim Raschke, die folgenden Merkmale als Eigenschaften einer Volkspartei benannt [Wir übersetzen was Kaste und Raschke schreiben in eckiger Klammer]:

  • Quelle

    Eine Volkspartei sieht die Massen primär oder ausschließlich als Objekt der Wahlmobilisierung;
    [Wähler sollen wählen und ansonsten die Klappe halten];

  • Eine Volkspartei verschafft ihren Funktionsträgern im Staatsapparat eine hohe Autonomie gegenüber möglichen Einmischungen der Massen und Parteimitglieder im politischen Entscheidungsprozess;
    [Volksbegehren oder Volksentscheide oder andere Elemente direkter Demokratie gibt es nicht];
  • Eine Volkspartei versucht gesellschaftlichen Wandel primär in Gestalt von Anpassungsreform zu bewältigen; [Veränderungen werden erst dann zur Kenntnis genommen, wenn man nur noch reagieren und nicht mehr gestalten kann];
  • Eine Volkspartei steht permanent und prinzipiell in Widersprüchen zwischen ihrem Legitimationsprogramm und ihrer realen Interessenvertretungs- und Steuerungsfunktion;
    [Den Wählern wird das eine versprochen, nach der Wahl wird das andere getan.];
  • Eine Volkspartei zeichnet sich durch eine breite Wählerbasis aus;
    [Viele Wähler aus allen Schichten der Bevölkerung];
  • Eine Volkspartei hat ein für die jeweiligen Situationen und Gruppen anpassungsfähiges Programm, das primär der Integration vieler Tendenzen dient
    [Wahlprogramme sind dazu da, Wähler zu gewinnen, nicht dazu, umgesetzt zu werden.]

Wie ist das nun mit der CDU?

Ist die CDU selbst mit Merkel eine Volkspartei?

Machen wir den Test nach Kaste und Raschke:

Wähler sollen wählen und ansonsten die Klappe halten;
Elemente direkter Demokratie werden abgelehnt;
Regiert wird gemeinhin, wenn es zu spät ist;
Versprochen wird viel, gehalten wenig;
Viele Wähler aus allen Schichten der Bevölkerung;
Wahlprogramme dienen dem Marketing, nicht der Umsetzung;

Fünf von sechs Eigenschaften, die eine Volkspartei auszeichnen, sind somit erfüllt. Merkels CDU ist demnach eine Volkspartei, dass sie eine zunehmend erfolglose Volkspartei ist, die eben keine „Massenbasis“ mehr hat, ändert nichts am Erscheinungsbild einer Partei, in der politisches Personal in erster Linie damit beschäftigt ist, Wählerstimmen zu ergattern, um die eigene Versorgung und das eigene Auskommen zu sichern.

Wer sich über die Begriffe wundert, die Kaste und Raschke verwenden, z.B. „Massen“. Man hat auch in den 1980er Jahren nicht viel Phantasie benötigt, um zu wissen, bei welcher Partei bestimmte Politikwissenschaftler ihr Kreuz machen. Indes waren die damaligen Politikwissenschaftler, im Vergleich zu vielen, die sich heute so nennen, noch durch das Bemühen ausgezeichnet, unabhängig von der Wahl der Begriffe, ansatzweise Argumente vorzutragen.

Kaste, Hermann & Raschke, Hans-Joachim (1977). Zur Politik der Volkspartei. In: Narr, Hans-Dieter (Hrsg.). Auf dem Weg zum Einparteienstaat. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Stöss, Richard (1986). Einleitung: Struktur und Entwicklung des Parteiensystems der Bundesrepublik Deutschland: Eine Theorie. In: Stöss, Richard (Hrsg.). Pateien-Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945-1980. Wiesbaden: Springer, S.26-74.

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