Feinstaub-Hysterie: Wie funktioniert die Berechnung der Toten?

Wir sind belustigt. Angesichts der Art und Weise, in der in Deutschland über die Anzahl der Toten diskutiert wird, die man auf Feinstaub zurückführen können soll, eine Zahl, die niemand kennt, kann man nur belustigt sein.

Aber halt: Das Umweltbundesamt hat sie berechnet, die Toten: Jährlich sterben nach Ansicht des Umweltbundesamts 44.900 Menschen an Folgen, die dem Einatmen von Feinstaub zugerechnet werden können. Im Ärzteblatt ist man etwas pessimistischer: 66.000 Deutsche lässt man dort als Folge des Kontaktes mit Feinstaub über die Klinge springen. Im „Air Quality in Europe – 2018 Report“ der European Environment Agency sterben dagegen nur 62.300 Deutsche an Folgen, die Feinstaub zugerechnet werden können sollen, 422.000 Europäern sagt die Agentur einen vorzeitigen Tod voraus. Die neueste Zahl, die die Runde macht, Ergebnis angeblich neuer Forschung, die bislang unveröffentlicht ist, schlägt alle bisherigen Prognosen: 120.000 Deutsche sind des Feinstaub-Todes geweiht, sterben, weil u.a. die Landwirtschaft Feinstaub in die Umwelt pestet.

Die Zutaten, aus denen man in Deutschland eine Hysterie machen kann, sie könnten nicht besser sein. Ergebnis: Hysterie.

Bei all der Hysterie, die zwischenzeitlich Lungenärzte auf die Barrikaden gebracht hat, ist es überraschend, dass niemand die Frage stellt, wie die unterschiedlichen Zahlen eigentlich berechnet werden.

Wir haben diese Frage gestellt.

Hier die Antwort.

Zunächst sind die berechneten Toten natürlich keine wirklichen, sondern prognostizierte Tote. Ein Simulationsmodell, nein, das ist zu viel gesagt, eine schlichte Berechnungsformel wird benutzt, um sie vorherzusagen. Wie immer, wenn man auf Grundlage von Zahlen etwas vorhersagen will, hängt die Qualität der Vorhersage davon ab, wie gut es gelingt, intervenierende Variablen auszuschließen. Wenn der prognostizierte Feinstaubtote, der im Alter von 66 Jahren das Zeitliche segnen soll, im Alter von 65 Jahren von einem Amokfahrer dahingerafft wird, dann ist das schlecht für die Prognose.

Das ist natürlich eine pointierte Aussage, aber sie illustriert den Punkt. Der Punkt wird in der Wissenschaft als Ceteris Paribus Regel bezeichnet. Wenn sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten nichts ändert, das die Annahmen der Berechnung von Feinstaub-Toten in Frage stellt, dann stimmt die Prognose.

Mit anderen Worten: Ob eine Prognose auch nur ansatzweise in die Nähe der Wirklichkeit kommt, hängt von der Fähigkeit der Prognostizierenden ab, den Einfluss des Faktors, der sie interessiert, vom Einfluss all der vielen anderen Faktoren, die das Leben eines Menschen beenden können, zu isolieren.

Damit sind wir beim Kern der Frage angekommen, wie die vielen Toten auf Basis von Feinstaub denn überhaupt geschätzt werden.

Sie werden so berechnet:

Die Gleichung wird u.a. von Lelieved et al. vom Max-Planck-Institut verwendet, auf die die neuerlich vermeldeten 120.000 Toten zurückgehen.

Die Gleichung sieht schrecklicher aus, als sie ist.

∆Mort soll berechnet werden und bezeichnet den Teil der Toten, die auf z.B. Feinstaub zurückgeführt werden können (sollen).

Y0 steht für die jährliche Sterblichkeit in einer Bevölkerung, hier der Bevölkerung der über 30jährigen: Pop.

Die Musik spielt in der eckigen Klammer, in der sich die sogenannte „Concentration-Response Function“ findet: R(β, ∆x) soll angeben, wie sich eine Veränderung in der Konzentration von Feinstaub auf die Sterblichkeit auswirkt, wobei ∆x für die Veränderung der Konzentration von z.B. Feinstaub in der Luft und z.B. einem Jahr auf das andere steht und β für das damit verbundene Sterblichkeitsrisiko.

Damit sind wir ein Stück weiter, denn das Sterblichkeitsrisiko, das sich z.B. mit bestimmten Konzentrationen von Feinstaub verbinden soll, steht und fällt mit dem Wert von β, was die Frage aufwirft, wo man dieses β herbekommt.

Nun, man bekommt es von der Weltgesundheitsorganisation als Relativen Risiko-Wert, der im Rahmen des HRAPIE Projects „Health Risk of Air Pollution in Europe“ bestimmt bzw. aus einer Metaanalyse vorhandener Literatur abgeleitet (herausgerechnet) wurde. Mit anderen Worten, der Wert, an dem alles hängt, der den Effekt, den ein Unterschied der Feinstaub-Konzentration im Vergleich zweier Regionen oder Jahre auf die Sterblichkeit haben soll, beschreibt, wird aus Studien gewonnen, in denen versucht wurde, die Mortalität bestimmter Populationen auf bestimmte Faktoren zurück zu binden. Wie reliabel diese Studien sind, ist eine andere Frage.

Nun kann man den Wert nicht einfach aus den Tabellen der WHO entnehmen.

Man muss sich zunächst entscheiden, ob man Feinstaub (Particulate Matter) mit einem Durchmesser von 2,5 Mikrometer (PM2.5) oder mit einem Durchmesser von 10 Mikrometer (PM10) untersuchen will. Die meisten Forscher, die in den Medien Widerhall finden, untersuchen PM2.5, also Feinstaub mit einem Durchmesser von 2,5 Mikrometer. Im nächsten Schritt muss man sich entscheiden, welchen Fehler man mit seiner Berechnung machen will. Die WHO sieht zwei Gruppen von Werten vor: Gruppe A: Werte, von denen angenommen wird, dass sie reliabel sind, und Gruppe B, Werte, von denen angenommen wird, dass sich mit ihnen mehr Unsicherheit verbindet, also ein größerer Berechnungsfehler, als mit Werten der Gruppe A. Die Fehler der Berechnung, den Werte- und Vertrauensbereich geben Medien natürlich grundsätzlich nicht an, und bislang hat sie noch keiner der Forscher eingeklagt, obwohl man ohne die Fehlerterme nicht wirklich etwas über die Qualität der Toten-Prognose aussagen kann.

So haben Lelieveld et al. im Jahre 2015 einen Beitrag veröffentlicht, in dem sie die Mortalität aufgrund von Feinstaub weltweit mit 3,3 Millionen vorzeitigen Toten angeben. Der Vertrauensbereich, also die Menge der Werte, die auch richtig sein können, reicht von 1,61 Millionen vorzeitig Verstorbenen bis 4,81 Millionen vorzeitig Verstorbenen. Es können also halb so viele vorzeitige Tote oder 50% mehr sein. Mit solchen Angaben kann natürlich niemand wirklich etwas anfangen, vermutlich wird die Angabe der Vertrauensbereiche deshalb unterlassen.

Sei’s drum.

Wir müssen noch zwei weitere Entscheidung treffen: Sollen Effekte einer langfristigen Exposition mit PM2.5 vorhergesagt werden oder Effekte einer kurzfristigen Exposition? Und was soll im Einzelnen vorhergesagt werden: Die erhöhte Sterblichkeit durch PM2.5 als jährlicher oder als täglicher Mittelwert für alle Ursachen oder für Erkrankungen der Atemwege, Herz- und Kreislauferkrankungen oder für Bronchialerkrankungen von Kindern im Alter von 6 bis 12 Jahren. Für jeden dieser Unterschiedlichen Fälle sieht die Tabelle der WHO ein anderes relatives Risiko, also ein anderes β vor, das in die obige Gleichung eingesetzt werden muss. Langfristige Exposition mit Feinstaub für alle Todesursachen sieht z.B. ein β von 1,062 pro 10 Mikrogramm PM2.5 pro Kubikmeter Luft vor. Dieselbe Berechnung für eine kurzfristige Exposition sieht ein β von 1,0123 pro 10 Mikrogramm PM2.5 pro Kubikmeter Luft vor.

Die Aussagekraft der Anzahl der Toten, die in den Medien so reißerisch berichtet werden, kann man nur beurteilen, wenn man genau weiß, welche Annahmen die Forscher gemacht haben und welche Werte sie in ihre „Concentration-Response-Function“ eingesetzt haben. Das sind jedoch Informationen, die Mainstreammedien in aller Regel nicht berichten oder haben oder für die sie sich auch nur interessieren. Allein dieses Fehlen belegt schon, dass es vornehmlich darum geht, Stimmung zu machen, nicht darum, wissenschaftliche Ergebnisse zu berichten, geschweigen denn kritisch zu hinterfragen.

Mainstreammedien können vielmehr durch die weitgehende Abwesenheit des kritischen Hinterfragens ausgezeichnet werden. Dabei muss man nicht einmal mathematische Kenntnisse haben, um sich einen Eindruck davon zu verschaffen, was die Forscher z.B. beim Max-Planck-Institut berechnen, um zu dem Schluss zu kommen, dass es unlauter ist, die Behauptung, es würden 120.000 Menschen pro Jahr an den Folgen von Feinstaub in Deutschland sterben, zu verbreiten, ganz so, als sei dies eine Tatsache, denn ob dem so ist, das weiß niemand. Die Forscher werden die ersten sein, die das zugeben, rechnen sie doch mit einer Risikofunktion deren konkrete Interpretation wäre, dass dann, wenn die Annahmen, auf denen die Berechnung basiert, korrekt sind, ein erhöhtes Risiko an den Folgen von Feinstaubbelastung zu sterben besteht, das zu 120.000 Toten pro Jahr führen kann.

Wie irrsinnig diese Zahl ist, zeigt sich daran, dass im Jahr 2017 in Deutschland 932.272 Menschen gestorben sind. Die Behauptung lautet also, dass 12,9% der Toten als Folge von Feinstaub gestorben sind, was voraussetzt, dass sie keinerlei sonstige Todesursachen haben, denn hier wird eine Kausalität zwischen Feinstaub und Tod hergestellt, obwohl in der Gleichung lediglich ein erhöhtes Risiko, also eine Korrelation berechnet wird. Die häufigsten Todesursachen in Deutschland sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen (338.687 Tote 2015), Krebserkrankungen (230.725 Tote 2015) und Lungen- und Bronchialkrebs (45.776 Tote 2015).

Feinstaub soll zu Erkrankungen der Lunge und zu Herz-Kreislauferkrankungen führen. Aber Feinstaub ist nicht die einzige mögliche Ursache einer entsprechenden Erkrankung. Wer kurz googled, der wird eine Unmenge möglicher Ursachen der entsprechenden Erkrankungen finden und damit die Bedeutung von Ceteris Paribus verdeutlicht bekommen, denn die Berechnung von Feinstaub-Toten basiert darauf, dass die Feinstaub-Toten fein säuberlich von den Toten, die Lungenkrebs entwickelt haben, weil sie rauchen, die Lungenkrebs entwickelt haben, weil sie in ihrem Beruf mit Asbest konfrontiert sind oder Kohle abbauen oder in einer Stahlfabrik arbeiten, getrennt werden können. Die möglichen Ursachen für Lungenkrebs sind zu vielfältig, als dass man, die Feinstaub-Lungenkrebs-Opfer herausdeuten könnte. Dasselbe gilt für Menschen, die an Herz-Kreislaufleiden gestorben sind. Wer will entscheiden, ob sie gestorben sind, weil sie zu fett und zu viel gegessen haben, sich zu wenig bewegt haben oder sich zu viel an Straßen bewegt und entsprechend Feinstaub eingeatmet haben?

Niemand kann das entscheiden, auch kein Forscher. Forscher können schöne Gleichungen aufstellen und nette oder weniger nette Zahlen damit berechnen, Zahlen, die man den mathematisch und in gesundem Menschenverstand Illiteraten der Medien zum Fraß vorwerfen kann und von denen man sicher sein kann, dass sie Hysterie auslösen, denn nichts ist geeigneter, um in Deutschland Hysterie auszulösen, als Zahlen, die als schrecklich bezeichnet werden, von denen aber kaum jemand auch nur den Hauch einer Ahnung hat, wie sie zustande gekommen sind.

Lelieveld, J., Evans, J.S., Fnais, M., Giannadaki, D. & Pozzer, A. (2015). The Contribution of Outdoor Air Pollution Sources to Premature Mortality on a Global Scale. Nature 525(36); 367-371.


 

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