DIW-Studie erbringt neue Indizien einer Benachteiligung von Jungen im Bildungssystem

Es ist eine Binsenweisheit, die in allen PISA-, PIRLS oder Element-Studien bestätigt wird: Jungen sind in Schreiben und Lesen schlechter als Mädchen, während Mädchen bei ihren Leistungen in Mathematik hinter Jungen zurückbleiben. Erklärungen für diesen Befund gibt es bislang nur als ad-hoc-Phantasien in feministisch: Rollenbilder sind schuld, in biologisch: männliche und weibliche Gehirne sind unterschiedlich aufgestellt, wenn es um Lesen, Schreiben und Rechnen geht.

Vor diesem Hintergrund ist eine Studie aus dem DIW, Ludovica Gambaro, Tobias Linberg und Frauke Peter haben sie erstellt, von besonderem Interesse für uns, schon weil die drei Autoren gar nicht gesehen haben, was an bildungspolitischem Sprengstoff ihre Ergebnisse enthalten.

Die drei aus dem DIW haben etwas anderes entdeckt: Mittelwerte als solche sagen nichts aus, man muss auch die Streuung betrachten. Das ist in Zeiten, in denen Bildungsministerien in Baden-Württemberg Schwierigkeiten mit Prozentrechnung haben, eine Erzählung aus dem wissenschaftlichen Leben von Dr. habil. Heike Diefenbach, die wir immer wieder gerne hören, nicht selbstverständlich. Deshalb kurz zur Studie: Gambaro, Linberg und Peter wollen zeigen, dass man im Hinblick auf schulische Leistungen nicht nur auf Mittelwertanalysen zurückgreifen darf, sondern die neueste Spielerei am Markt statistischer Möglichkeiten, die sogenannte „unkonditionierte Quantilsregression“ benutzen muss.

Der Grund ist einer, der sich unter Statistikern und empirischen Sozialforschern, die zur Gruppe der Statistiker gehören, schon seit Jahren als festes Wissen etabliert hat: Mittelwerte streuen. Wenn man ein Maß zentraler Tendenz berechnet, dann erhält man ein Maß zentraler Tendenz. Der Mittelwert der Reihe 12,24,36,48,60,72,84 ist 48, die Standardabweichung beträgt 25,9. Der Mittelwert der Reihe 96,144,2,2,2,48,42 ist ebenfalls 48, die Standardabweichung beträgt satte 54,63. Ohne Standardabweichung ist ein Mittelwert weitgehend aussagelos.

Im DIW hat sowas scheinbar Neuigkeitswert. Entsprechend werden neuerdings „unkonditionierte Quantilsregressionen“ gerechnet, um bei der Sprachkompetenz von Kindern die Unterschiede in der Bildung der Eltern zu berücksichtigen, als erklärende Variable. Dabei ergibt sich tatsächlich kein anderes Ergebnis als sich vorher auch schon ergeben hat: Kinder von Eltern, unter denen sich mindestens ein Akademiker befindet, schneiden besser ab als Kinder von Eltern mit Sekundarschulabschluss. Soweit, so alt. Und was die Tatsache angeht, dass die Unterschiede zwischen Eltern im niedrigen und hohen Bildungssegment unterschiedlich stark streuen, das zeigen die Autoren bereits zu Beginn ihrer Ergebnisdarstellung (auf Seite 289), was danach kommt, ist statistische Spielerei mit dem Ergebnis, das man schon seit Jahrzehnten trotz aller Fördermaßnahmen unverändert erhält: Kinder von Eltern mit Migrationshintergrund schneiden schlechter ab, wenn zuhause kein Deutsch gesprochen wird, sind die Leistungsunterschiede in der Sprachkompetenz besonders hoch, ladiladilada…

Dennoch ist die Studie interessant.

Fangen wir mit dem an, was gemessen wurde: Sprachkompetenz, und zwar bei Kindern im Alter von vier bis fünf Jahren, die noch nicht grundschulisch verdorben sind. Ihnen wurden im Rahmen von NELS (Nationales Bildungspanel) 77 Wortschatzaufgaben und 48 Grammatikaufgaben vorgelegt. Im Durchschnitt, den die Autoren übrigens ohne Streuung angeben, wurden 65 Aufgaben von den Kindern richtig gelöst. Insgesamt können die Autoren auf die Angaben zu und Leistungen von 1.985 Kindern zurückgreifen. Und auf ihrer Grundlage versuchen sie die Leistungsunterschiede, die sich für die 10% der 4- bis 5jährigen finden, die im Test am schlechtesten abgeschnitten haben, zu erklären. Das Ergebnis haben wir in Ansätzen bereits oben dargestellt. Wer sich für mehr interessiert, möge den DIW-Wochenbericht lesen oder die Tabelle rechts betrachten.

Wir betrachten auch die Tabelle rechts. Vierte Ergebniszeile bei den unabhängigen Variablen: Geschlecht, in allen Modellen vertreten, in keinem der Modelle hat Geschlecht einen Effekt und dies obwohl doch Jungen, wenn es um Lesen und Schreiben geht, schlechtere Leistungen zeigen als Mädchen, jedenfalls im Laufe der Grundschule und im weiteren Verlauf ihrer schulischen Karriere. Im Leistungstest BEVOR sie eingeschult werden, sind diese Unterschiede – wie die Ergebnisse der drei vom DIW zeigen – überhaupt nicht vorhanden. Deshalb müssen die geschlechtsspezifischen Leistungen in Deutsch und wohl auch in Mathematik im Laufe der Grundschule ausgebildet werden. Mit anderen Worten: Dass Jungen in Mathematik besser als Mädchen sind und schlechter als Mädchen in Lesen und Schreiben ist, so legen die Ergebnisse nahe, das Resultat schulischer Einflussnahme, die in Grundschulen vornehmlich von Lehrerinnen vorgenommen wird. Damit würde die Grundlage der geschlechtsspezifischen Unterschiede, die Vorteile von Mädchen in Deutsch und die Nachteile von Jungen generell im Bildungssystem erst durch das Bildungssystem geschaffen.

Das ist bildungspolitischer Sprengstoff, der bestätigt, dass Jungen im deutschen Bildungssystem aktiv benachteiligt werden. Dr. habil. Heike Diefenbach hat in einem Beitrag aus dem Jahre 2007 auf Grundlage der PISA-Daten gezeigt, dass Jungen bessere Leistungen erbringen müssen, um dieselben Noten wie Mädchen zu erhalten. Die Hamburger LAU-Studien haben gezeigt, dass Jungen bessere Leistungen erbringen müssen, um dieselbe Grundschulempfehlung zu erhalten wie Mädchen. Die Daten der DIWler legen die Hypothese nahe, dass die Nachteile von Jungen im Bereich von Lesen und Schreiben Ergebnis schulischen Einwirkens sind.

Der Feminismus hat ganze Arbeit geleistet.

Diefenbach, Heike (2007). Die schulische Bildung von Jungen und jungen Männern in Deutschland. In: Hollstein, Walter & Matzner, Michael (Hrsg.). Soziale Arbeit mit Jungen und Männern. München: Reinhardt, S.101-115.


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