Die Mitte lebt! Verteidigung der Mitte gegen (akademische) Extremisten

von Dr. habil. Heike Diefenbach

Von der Mitte der Gesellschaft war in den letzten Jahren und ist heute nach wie vor viel die Rede. Gemeint ist damit die politische Mitte, von der einige fürchten, dass sie in einer sich fortschreitend polarisierenden Gesellschaft verschwinden werde. Seltsamerweise wird in diesem Zusammenhang regelmäßig das Droh-Bild von einer Mitte gezeichnet, die nach rechts rückt, während die Gefahr, dass die Mitte nach Links rücken könnte, von Politikwissenschaftlern und anderen Sozialwissenschaftlern oder denen, die als solche gelten wollen, ohne jede Erwähnung bleibt; die sogenannten Mitte-Studien illustrieren diesen Punkt deutlich. Ihnen scheint die Mitte gar nicht weit genug nach Links rücken zu können. Bedauert wird also nicht der angeblich anstehende Verlust der Mitte als solcher, sondern nur ein angebliches Nach-Rechts-Rücken der Mitte, während ein Nach-Links-Rücken der Mitte nicht als Anlass zur Sorge angesehen wird. Diese Sichtweise ist die Sicht von Linken, versteht sich, denn Rechten würde das Rücken der Mitte nach Links Sorgen bereiten, und der Mitte selbst würde ihre drohende Auflösung unabhängig von der Richtung, in die sie wandert, Sorgen bereiten.

Was genau ist die politische Mitte der Gesellschaft? Wer repräsentiert die Mitte der  Gesellschaft? Wofür stehen Personen, die sich in der Mitte der Gesellschaft verorten? Sucht man nach einer Definition der „politischen Mitte“, so stellt man schnell fest, dass man nicht fündig wird bzw. keine auch nur ansatzweise zufriedenstellende Definition findet. Man stellt auch schnell fest, dass die Mitte von Personen, die über sie schreiben, mit spitzen Fingern behandelt wird, dass ihnen die Mitte suspekt ist. Da liest man z.B. vom „Mythos der Mitte“ und davon, dass die Mitte „… auf der Landkarte des Politischen eine terra incognita, ein nahezu gänzlich weißer Fleck“ (Lenk 2009) sei. Betzin kennt in seiner Bachelor-Arbeit neben der leeren Definition: „Die Heuristik, deren Teil die ‚politische Mitte‘ ist, ist das Links-Rechts-Schema“ (Betzin 2014: 10; man beachte, dass der Ausdruck „politische Mitte“ in Anführungszeichen gesetzt wird, der Ausdruck „Links-Rechts-Schema“ jedoch nicht, so, als ob beides eben doch nicht gleichermaßen den Status einer Heuristik hätten) nur eine negative Definition der Mitte. Er schreibt: „Die Frage danach, wodurch sich die ‚politische Mitte‘ qualitativ auszeichnet, ließe sich über ihre identitäre Abgrenzung zu den Extremen beantworten oder, vereinfacht gesagt: Die Mitte ist dort, wo die Extreme nicht sind. Damit ergibt sich … ein Abhängigkeitsverhältnis zur Definition der Extreme, was die ‚politische Mitte‘ zur dynamischen Größe macht, …“ (Betzin 2014: 35). Es ist klar, dass die politische Mitte nur dann „dynamisch“ sein kann, wenn die Extreme „dynamisch“ sind, d.h. wandern, wenn also z.B. etwas, was gestern noch als linksextrem angesehen wurde, heute salonfähig geworden ist und als einfach Links gilt. Wenn Links zu sein nun als Standard angesehen wird, dann ist klar, dass alles, was rechts von der Linken liegt, als nach rechts verschoben wahrgenommen wird.

Wichtig ist, dass diese Dynamik eine Dynamik ist, die sich nur auf das Rechts-Links-Schema als solches, als Schema, als Heuristik bezieht; wenn die Mitte in ihm wandert, dann heißt das nicht oder nicht notwendigerweise, dass Menschen, die sich in der politischen Mitte verorten, ihre Überzeugungen oder Einstellungen verändert hätten. Es heißt nur, dass ihre Überzeugungen oder Einstellungen von denjenigen, die gestern linksextrem waren und heute „nur“ links sind, als weiter rechts eingeordnet werden als dies gestern der Fall war.

Nehmen wir ein Beispiel aus der neuesten sogenannten Mitte-Studie: Dort wird die Zustimmung zu der Aussage „Die meisten Asylsuchenden werden in ihrem Heimatland gar nicht verfolgt“ als „Abwertung“ von Asylsuchenden dargestellt. Dass dies eine Abwertung darstellen soll, macht bestenfalls dann Sinn, wenn man meint, dass die Aussage „Die meisten Asylsuchenden werden in ihrem Heimatland gar nicht verfolgt“ keinesfalls richtig sein könne. Das darf seinerseits als eine extreme Position angesehen werden, denn selbstverständlich ist es immer möglich, dass Menschen die Möglichkeit, Asyl zu beantragen, nutzen, um ihr Leben zu verbessern, auch, wenn sie nicht in ihrem Heimatland verfolgt werden. Das ist nicht nur nachvollziehbar, sondern liegt in der menschlichen Natur, ist normal, denn wer würde nicht seine Lebenssituation verbessern wollen, wenn sich ihm die Gelegenheit bietet? Jemand, der sich in der gesellschaftlichen Mitte verortet, wird das vermutlich genauso sehen und akzeptieren und daher nicht meinen, dass das verwerflich sei; es ist vielmehr Aufgabe derer, die über Asylanträge entscheiden, deren Begründetheit zu prüfen. Wenn diese Prüfung unter Verletzung gesellschaftlich vereinbarter Regeln erfolgen würde, dann wäre das verwerflich.

Dementsprechend ist es auch für jemanden in der gesellschaftlichen Mitte nicht „abwertend“, wenn er einer Aussage zustimmt, in der formuliert wird, dass viele oder vielleicht auch die meisten Leute Gelegenheiten zur Verbesserung ihres Lebens nutzen, obwohl sie nicht die Zielgruppe sind, die diejenigen im Auge hatten, die diese Gelegenheiten geschaffen haben. Vielmehr werden sie es als eine Entwertung dieser Gelegenheitsstruktur, hier: Asyl, auffassen, wenn nicht sichergestellt wird, dass sie denjenigen zugute kommt, für die sie gedacht ist.

Es sollte deutlich geworden sein, dass diese Sichtweise Extreme vermeidet, Extreme wie „Asylsuchende sind immer oder mehrheitlich böswillige Ausnutzer eines Sozialsystems“ oder „Asylsuchende sind immer oder mehrheitlich Menschen, die in ihrem Heimatland verfolgt werden“. Dennoch kann man nicht sagen, dass die Mitte keine Inhalte hätte und nur eben negativ definiert sei, nämlich durch die Vermeidung von Extremen – auch das sollte erkennbar geworden sein –, denn Menschen, die sich in der politischen Mitte verorten, sind u.a., aber vielleicht vor allem, dadurch ausgezeichnet, dass sie ein realistisches Menschenbild haben, eines, das Menschen Menschen sein lässt, sie nicht in Nur-Gute und Nur-Böse unterteilt, allen Menschen gleichermaßen zugesteht, dass sie ihre Interessen verfolgen – und dabei notwendigerweise in Konflikte mit anderen Menschen geraten, die ihrerseits ihre Interessen verfolgen. Menschen in der politischen Mitte können Differenzen aushalten, Spannungen ertragen, suchen Wege, sie aufzulösen, statt sich auf die Heiligsprechung der Einen und die Verdammung der Anderen zurückzuziehen. Parteinahme erfolgt für Menschen in der politischen Mitte aufgrund von allgemeinen und angebbaren Kriterien, z.B. Gerechtigkeitserwägungen, sie ist eben nicht „identitär“ oder emotional geprägt, sondern (mehr oder weniger) vernünftig.

Die politische Mitte ist also nicht sozusagen der Mittelwert der gerade in einer Gesellschaft vorhandenen Vorstellungen und Überzeugungen, sie ist nicht einfach die „Normalität“, die je nach Zeitgeist hin- und herwandern kann. Vielmehr repräsentiert sie den Versuch, vernünftig, d.h. kriteriengeleitet und stringent zu denken und zu handeln und dabei möglichst – im Interesse des größtmöglichen Gesamtwohles – sozusagen Fünf gerade sein zu lassen. Sie involviert Besonnenheit und Maßhalten, die als Sophrosyne der griechischen Antike als eine hohe Tugend galt (North 2019), und dies gewöhnlich vor dem Hintergrund der Kenntnis der menschlichen Natur und der Relativität der Dinge, wie der „Mittlere Weg“ im Buddhismus illustriert (s. z.B. Dalai Lama 2009). Die politische Mitte bzw. „Gemäßigte“ ist/sind eben keine Art von Verhandlungsmasse im politischen Kampf zwischen Rechts und Links, sondern existieren als solche, als Gemäßigte in eigenem Recht und aus guten philosophischen wie sozialwissenschaftlichen Gründen.

Wenn sich in der sogenannten Mitte-Studie eine große Zahl von Menschen weigert, den Sprachregelungen der politisch Korrekten, gewöhnlich: Linken, zu huldigen und sich nicht scheut, einer Auffassung Ausdruck zu verleihen, nach der „[d]ie meisten Asylsuchenden […] in ihrem Heimatland gar nicht verfolgt [werden]“, dann zeigt dies deutlich, dass die politische Mitte in Deutschland am Leben ist und der „Dynamik“ trotzt, sich nach Rechts verschieben zu lassen. Ich persönlich bin zuversichtlich, dass sie ggf. – unter veränderten politischen Bedingungen – auch der „Dynamik“ trotzen wird, sich nach Links verschieben zu lassen. Linke und Rechte mögen in einiger Selbstüberschätzung meinen, dass die Mitte sich über ihr Verhältnis zu ihnen definieren müsste, nach dem Motto „Wer nicht mein Freund ist, ist mein Feind“, das – erschreckenderweise – selbst Politikwissenschaftler oder Parteiensoziologen vertreten, wie z.B. Maurice Duverger, der zu wissen meint, dass „[d]ie natürliche Bewegung der Gesellschaft […] zum Dualismus der Parteien“ [neigt]“ (Duverger 1959: 425), was mich fatal an einen Schundfilm mit dem Titel „Gozilla – Die Rückkehr des King Kong“ aus den 1960er-Jahren erinnert, den ich als Kind sah, und vielleicht die menschlich sehr negativ berührende Unversöhnlichkeit vieler Linker und Rechter erklärt, aber durch die derzeitigen Entwicklung hin zu mehr und kleineren Parteien in Parlamenten sowie mehr parteiunabhängigen Parlamentariern falsifiziert wird – es sei denn, man wolle die Leiche des guten alten Klassenkampfes wiederbeleben und die Auflösung des politischen Dualismus als „unnatürlich“ behaupten und daher als, ja was? Zu meinen, dass alles „unnatürliche“ schlecht sei, ist ein naturalistischer Fehlschluss, aber das nur am Rande. Die Mitte selbst dürfte sich jedenfalls mehrheitlich nicht als „Rest“ zwischen Links und Rechts oder Nicht-Linke bzw. Nicht-Rechte betrachten, sondern sich eigenständig definieren, als Menschen, die der Realität Rechnung tragen wollen – statt Weltflucht zu betreiben – und in ihr möglichst vernünftig – statt auf Emotionen oder Identitäten basierend – und effizient – statt symbolisch – und zum Wohl möglichst vieler Menschen – nicht nur bestimmter Gruppen von Menschen –, inklusive ihrer selbst, handeln wollen.


Zitierte Texte:

Betzin, Tobias, 2014: Der lange Weg zur Mitte. Konstruktionsstrategien des Begriffs „Politische Mitte“ und seine Verwendungskontexte. Bachelorarbeit, vorgelegt an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Institut für Politische Wissenschaft.

Dalai Lama, 2009: The Middle Way: Faith Grounded on Reason. Boston: Simon and Schuster.

Duverger, Maurice, 1959: Die politischen Parteien. Tübingen: Mohr.

Lenk, Kurt, 2009: Vom Mythos der politischen Mitte. Aus Politik und Zeitgeschichte (APUZ) 38/2009; 

North, Helen, 1966: Sophrosyne: Self-knowledge and Self-restraint in Greek Literature. Ithaka, NY: Cornell University Press.


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