Die Brexit Party Revolution

Manchmal hat man als Politikwissenschaftler die Chance, bei einer historischen Veränderung des Parteiensystems (einer friedlichen) dabei zu sein. Das ist selten genug der Fall.

Wir beobachten derzeit im Vereinigten Königreich das, was Politikwissenschaftler früher eine „grassroot revolution“ genannt haben, ein – in den Worten von Russel J. Dalton – komplettes De-Alignment von Wählern von den Parteien, mit denen sie sich bislang identifiziert haben. Interessanter Weise hat Dalton 2014 einen Text über Deutschland veröffentlicht, in dem er auf Grundlage von Daten, die den Zeitraum von 1972 bis 2009 abdecken, zeigt, wie sich die Partei-Identifikation in Deutschland immer weiter abschwächt, eine Entwicklung, die letztlich in ein „re-alignment“ mit der AfD und zuletzt den Grünen gemündet ist.

Für das Vereinigte Königreich, die stabilste der europäischen Demokratien, hat sich bislang kein Politikwissenschaftler gefunden, der die radikalen Veränderungsprozesse im britischen Parteiensystem beschreibt, die sich seit rund einem halben Jahr und zuletzt mit zunehmender Geschwindigkeit vollziehen.

Zwar gibt es eine Reihe von Politikwissenschaftlern, die eine Müdigkeit des Elektorats mit dem, was Politikwissenschaftler immer noch als politische Elite bezeichnen, beobachten. Sie diskutieren diese Müdigkeit, die Abwendung von denen, die als Laiendarsteller die Schuhe richtiger Politiker füllen wollen, aber ausnahmslos unter der Überschrift „Rechtspopulismus“. Nichts könnte falscher sein.

Wir haben schon vor einiger Zeit über die Apokalypse des Berliner Parteiensystems geschrieben, die eine relevante Wählerwanderung von etablierten und ausgezehrten Parteigerippen zu neuen Parteien wie der AfD sieht. Schon damals haben wir darauf hingewiesen, dass die Triebkraft dieser Entwicklung nicht so sehr die AfD ist, sie stellt einfach nur die Alternative bereit, sondern die Abkehr der Wähler von dem, was ihnen die vermeintliche „politische Elite“ anbietet. Angesichts des Dilettantismus, der ideologischen Verbrämung und der intellektuellen Verarmung, die die etablierten politischen Schausteller auszeichnet, war die Abkehr von etablierten Parteien eine Art Selbsterhaltung, eine Art Notwehr, eine Form des angewiderten Abwendens, kurz: Eine Abwahl des bisherigen Angebots. Es war weniger eine Wahl eines anderen Angebots, aber dazu ist es zwischenzeitlich geworden, dank der unsäglich dummen Reaktion, mit der die etablierten Parteien der AfD begegnen.

In Großbritannien ist der Umschwung dramatischer. Er ist ein rationaler Umschwung, der als „single-issue“ Umschwung begonnen hat. Mit einem Wort: Brexit. Die Unfähigkeit, die Theresa May in den Brexit-Verhandlungen an den Tag gelegt hat, ihre Unfähigkeit einzusehen, dass ihre Zeit vorbei ist und ihre Unwilligkeit, mit den vielen Störfeuern von denen angemessen umzugehen, die sich auf dem Kontinent und in Britannien als Anti-Demokraten entpuppt haben, die einen per Referendum hergestellten klar artikulierten Willen der Bürger zu ignorieren können glauben, weil sie sich einbilden, zu irgend einer Art von Elite zu gehören (auch unter Dummen gibt es besonders Dumme, die sich entsprechend als Elite qualifizieren), haben dazu geführt, dass der Unwillen in der Bevölkerung immer größer geworden ist.

Wir haben bereits aus Anlass der Kommunalwahlen in Teilen von England und in Nordirland davon berichtet.

Was aus Ärger über das, was in Britannien „Brexit-Betrayal“ (Brexit-Verrat) heißt, begonnen hat, wurde von Nigel Farage, aufgenommen und über die Brexit Party zunächst in offenen Widerstand auf Basis des noch nicht erfolgten Austritts aus der EU transferiert. Zunächst deshalb, weil die Brexit Party trotz des Namens, mehr als eine Protestpartei ist, viel mehr.

Während Mainstream-Medien auf dem Kontinent vor allem dadurch glänzen, dass sie gar nicht oder bestenfalls im Nebensatz über die Brexit Party berichten, die das britische Parteiensystem aufmischt, weil sie ihrer eigenen Erzählung der rechtspopulistischen Anti-Establishment Partei auf den Leim gehen, vollzieht sich eine Revolution, wie wir sie noch nicht gesehen haben.

Die Brexit Party wurde am 5. Februar 2019 als Partei zugelassen. Drei Monate später liegt die Brexit Party bei unterschiedlichen Umfrageinstituten vorne, wenn die Frage lautet, wen man bei der Europawahl wählen wird.

Die neueste Umfrage stammt von Opinium Research. Im Vergleich zum letzten Ergebnis, das YouGov Ende April veröffentlicht hat, ist die Brexit Party um weitere 7% (die Angaben in der Grafik beziehen sich auf eine  auf eine etwas länger zurückliegende Umfrage von Opinium Research) nunmehr 34% gewachsen. Bis zum Wahltag am 23. Mai wird die 40%-Marke mit großer Wahrscheinlichkeit hinter der Brexit Party liegen.

Kein Zweifel, solche Ergebnisse werden von den politischen Kommentatoren in Deutschland als Indiz dafür gewertet, dass die Brexit-Party eine rechtspopulistische Protestpartei ist, die vom Europagegner Nigel Farage lebt. Natürlich ist Nigel Farage Gesicht und Stimme der Partei. Wer Farage einmal erlebt hat, weiß, warum das der Fall ist. Aber diese Sichtweise der neuen Partei verdeckt, dass es dieser neuen Partei in nur wenigen Wochen gelungen ist, Kandidaten in allen Wahlkreisen zur Europawahl aufzustellen. Nicht zuletzt verfügt die Brexit Party bereits über 14 Mitglieder im Europäischen Parlament, ehemalige Abgeordnete von UKIP, die zur Brexit Party gewechselt sind.

Wer kennt noch eine Partei, die es in so kurzer Zeit geschafft hat, landesweit 34% der Wählerstimmen in Umfragen auf sich zu vereinigen?

34% der Wähler sind zu viele, als dass man noch von Protest sprechen könnte. Wenn eine Mehrheit der Wähler angeblich gegen das Establishment protestiert, dann stellt sich die Frage, auf welche elektorale Legitimation das Establishment die für sich in Anspruch genommenen Definitionsmacht für den Status Quo, gegen den andere dann protestieren müssen, baut.

Nein, die Brexit Party ist keine Protestpartei, und sie ist keine Partei, die nach der Europawahl verschwinden wird. Die Brexit Party ist eine neue politische Kraft, die zu einer Bewegung gehört, die man in vielen Demokratien beobachten kann, eine Bewegung, die sich gegen die Personen richtet, die sich in politischen Ämtern breit gemacht haben, gegen die Parteien, die sich seit Jahrzenten auf Kosten von Steuerzahlern immer neue Strategien der Selbstbereicherung überlegen, gegen die Polit-Darsteller, deren Intelligenz bestenfalls als mäßig zu bezeichnen ist, die aber dennoch der Ansicht sind, sie könnten bestimmen, wie andere zu leben haben.

Was die Brexit Party derzeit in Rallyes landauf landab, in Newport, Luton, Fylde, Nottingham oder Durham einsammelt, sind Bürger, die die Nase von ihren politischen Vertretern, die vergessen haben, dass sie Vertreter und nicht Erzieher sind, gestrichen voll haben, die die Zügel selbst in die Hand nehmen und dabei sein wollen, wenn die derzeitige Besatzung von Westminster zum Teufel gejagt wird.

„Change Politics for Good“ lautet der griffige Slogan, den die Brexit Party dafür entwickelt hat.

Und einen Wandel kann man auch im Hinblick auf die Wahlabsicht für Westminister bereits nach drei Monaten Brexit Party feststellen. In manchen Umfragen ist die Brexit Party kurz hinter den Tories, in anderen Umfragen hat die Brexit Party die Tories bereits hinter sich gelassen.

Die Revolution ist in vollem Gange.

Für die Tories geht es entsprechend, wie für Labour übrigens auch, ums nackte Überleben. Nächste Woche am Mittwoch ist Theresa May vor das 1922 Komitee bestellt. Die Abgeordneten, die das Komitee aus Backbenchers bilden, wollen ein definitives Datum hören, an dem Theresa May zurücktritt. Und die Gerüchteküche brodelt, denn die letzte Umfrage, die die Tories hinter der Brexit Party bei Unterhauswahlen sieht, wurde heute veröffentlicht, nach der Bestimmung des Komitee-Termins, so dass sich mancher fragt, ob May die nächste Woche politisch überleben wird.

Wetten: Wenn der Rücktritt von May nächste Woche erfolgt, dann kommt er für die deutschen Medien völlig überraschend und wird auf das Wirken von rechten anti-Europäern zurückgeführt werden?


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