Vom Schaden des Wahlaktes und seinem Nutzen

Stellen Sie sich vor, Sie seien ein Alien, der auf die Erde geschickt wurde, um die Bräuche der Menschen zu studieren. Ein bestimmtes wiederkehrendes Verhalten erregt nach einiger Zeit ihre Aufmerksamkeit. An einem bestimmten Tag gehen viele oder die meisten Menschen in einem regionalen Gebiet in ein bestimmtes Gebäude, um von dort Anwesenden einen Zettel in die Hand gedrückt zu bekommen, für kurze Zeit hinter einer Stellwand zu verschwinden, zurückzukehren, den Zettel, nunmehr gefaltet, in eine Kiste zu werfen und das Gebäude wieder zu verlassen. Die im Gebäude Verbliebenen werfen nach einer bestimmten Zeit alle gefalteten Zettel auf einen Haufen und zählen die Kreuze. Die Anzahl der Kreuze wird benutzt, um nach mehr oder weniger sinnvollen Verfahren Sitzplätze in einem anderen Gebäude an Personen zu verteilen, die von sich behaupten, der Anspruch, den sie auf einen Sitzplatz erheben, stünde in irgendeinem Zusammenhang mit Kreuzen auf den Zetteln, die vor kurzem noch auf einem Haufen lagen. Die Sitzplatz-Besitzer nehmen sich nunmehr das Recht alle, die keinen Sitzplatz erhalten haben, mit Regeln zu belegen, die die Freiheit derjenigen, die noch vor kurzem ein Kreuz auf einem Zettel gemacht haben, in der Regel einschränkt, entweder dadurch, dass Handlungsoptionen genommen werden oder dadurch, dass ihnen Steuern und Abgaben auferlegt werden, was letztlich wieder dazu führt, dass ihnen Handlungsoptionen genommen werden.

Wie, so fragen Sie sich, weil sie ein Alien sind, kann man erklären, dass verschiedene Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt ein gleiches Verhalten vorweisen, dass von anderen Menschen, die Sitzplätze in einem zentralen Gebäude reklamieren, als Vorwand genommen wird, um diese Menschen zu schädigen?

Keine leichte Aufgabe.

Nach kurzer Suche stolpern sie als Alien über Anthony Downs oder Josef Schumpeter. Beide sind der Meinung, Kreuze machen, sie nennen das „Wählen“, sei irrationales Verhalten, weil ein einzelner mit seinem Kreuz keinerlei Einfluss auf das Gesamt haben kann. Als Konsequenz betrachten beide Nichtwähler als rationale Akteure, während Wähler als irrationale Akteure angesehen werden. Ein nachvollziehbares Urteil, schließlich sorgen die Wähler durch ihr Kreuz dafür, dass Sitzplatzinhaber in zentralen Gebäuden, die, wie sie nach der Lektüre wissen, Parlament genannt werden, Regeln erlassen, die Wähler und Nichtwähler in gleicher Weise schädigen. Wenn man schon geschädigt wird, so denken Sie, dann will man nicht noch der eigenen Schädigung per Kreuz zugestimmt haben.

Das denken Sie, bis Sie auf etwas stoßen, das sich normative Demokratietheorie nennt. Ein deutscher Autor, namens Joachim Behnke (zu finden in: Schmidt, Manfred G. (2019). Demokratietheorien. Eine Einführung, S.247) erklärt ihnen, dass Kreuze in Kreisen oder Kästchen, die als Wahlentscheidung bezeichnet werden, nicht nur schädlich sind, dass sich mit ihnen tatsächlich ein Nutzen verbindet, der größer als der nachfolgende Schaden ist. Die Wahl an sich habe einen Nutzen, sei sie doch Symbol einer demokratischen Verfassung und als solche komme sie zudem mit einem Demokratieobolus. Demokratie, so erfahren sie, ist die beste Regierungsform. Ist es nicht verständlich, dass Menschen Kreuze in Kästchen und Kreisen machen, um die beste Regierungsform für sich zu sichern, wenngleich die Sitzplatzinhaber in den Parlamenten dies zum Anlass nehmen, um die Wähler mit Gesetzen und Regeln zu schädigen?

Ein kleines Brevier von John Stuart Mill mit dem Namen „Representative Government“ scheint ihre Vermutung zu bestätigen. Darin schreibt Mill in dem ihm eigenen englischen Idiom:

„In any political election, even by universal suffrage […] the voter is under an absolute moral obligation to consider the interest of the public not his private advantage, and give his vote, to the best of his judgement, exactly as he would be bound to do if he were the sole voter” (Mill 2001: 125-126).

Ein Kreuz in einem Kästchen zu machen, stellt eine moralische Verpflichtung dar, schreibt Mill. Die Verpflichtung beinhaltet, das Kreuz verantwortlich in dem Kästchen zu machen, dessen Inhaber den größten Nutzen für die Gesellschaft bereitzustellen verspricht. Die Auswahl desjenigen, der den besten Nutzen bereitstellt, ist die moralische Verpflichtung der Wähler und damit sie dieser Verpflichtung auch nachkommen, so schreibt Mill weiter, müsse jede Wahl, auch die allgemeine Wahl, öffentlich erfolgen.

Aber die Wahl, die sie beobachtet haben, ist nicht öffentlich erfolgt, sondern geheim, und der nachfolgende Schaden, den Wähler durch ihr Kreuz nehmen, der ihnen durch Sitzplatzbesitzer im Parlament zugefügt wird, scheint im Widerspruch zur moralischen Verpflichtung zu stehen, den Kandidaten zu wählen, der den größten gesellschaftlichen Nutzen bereitstellt.

Sie kratzen sich an ihrer Alienstirn. Nichts passt zu nichts.

Es sei denn … Sie lesen weiter: Geheime Wahl, so schreibt Mill, ist da zu empfehlen, wo ein autokratischer Herrscher Wähler bei Falschwahl mit Konsequenzen bedroht, sie empfiehlt sich für totalitäre und oligarchische Systeme, die „false democracies“ sind, weil sie Minderheiten drangsalieren und Freiheitsrechte stehlen und sie empfiehlt sich dann, wenn die Bevölkerung aus Sklaven besteht, die Gefahr laufen, von ihrem politischen Herrscher für ihre Wahlentscheidung bestraft zu werden.

Wahlsklaven, Oligarchie, Konsequenzen falscher Wahl, geheime Wahl von Sitzplatzinhabern, die ihren Wählern Schaden zufügen …

Wozu ist eine Wahl noch einmal notwendig, wenn sie als geheime Wahl Wahlsklaven vor Konsequenzen schützt, durch Herrschaftsoligarchen zur Rechenschaft für ihre konkrete Wahlentscheidung gezogen zu werden, aber dennoch in der Bestimmung von Sitzplatzinhabern mündet, die die Wähler schädigen?

Nur ein rationaler Grund, zur Wahl zu gehen, will Ihnen einfallen: Der Protest! Die Wahl von Paria, von denen, die die bisherigen Sitzplatzinhaber nicht mögen, die sie fernhalten wollen, um nicht die Beute, die nach Wahlen verteilt wird, mit ihnen teilen zu müssen. Denn: So stellen Sie fest: Nicht nur wählen Wähler Sitzplatzinhaber in Parlamenten, die sie schädigen, sie bezahlen auch noch dafür über Parteienfinanzierung und Wahlkampfkostenerstattung, dass die Sitzplatzinhaber sie schädigen.

Mit dieser Erkenntnis beenden Sie ihre anthropographische Forschung und kehren auf ihren Planeten zurück.

Die Prämisse unseres Alien ist natürlich falsch: Sitzplatzinhaber in Parlamenten schädigen Wähler und Nichtwähler nicht, im Gegenteil: Sie produzieren ein Gemeinwohl. Deshalb gehen Wähler wählen.


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