„Walk away“: Warum Minderheitenangehörige (und nicht nur sie) in den USA den Linken den Rücken kehren

von Dr. habil. Heike Diefenbach

Haben Sie schon einmal von der U.S.-amerikanischen „#Walkaway Campaign“ gehört? Es handelt sich dabei um eine „grassroots“-Bewegung von Menschen, die sich politisch oder ideologisch als Linksliberale oder Linke verstehen oder in der Vergangenheit verstanden haben und bei der Demokratischen Partei aufgehoben gefühlt haben, aber nunmehr der Demokratischen Partei den Rücken kehren und öffentlich, d.h. auf verschiedenen sozialen Medien, erklären, dass sie es tun und warum sie es tun.

Die Kampagne wurde am 29 Juni 2018, vor der U.S.-amerikanischen Kongresswahl, von Brandon Straka, gegründet, der auf YouTube ein Video einstellte, in dem er seinen eigenen Abschied von der Demokratischen Partei erklärte, weil er sich von dieser Partei nicht mehr repräsentiert fühle, und Menschen, die ebenso fühlen, dazu aufrief, es ihm gleichzutun (s. hierzu i24-Bericht;). Und in den ersten 130 Tagen nach Einstellung des Videos taten es ihm 174 Personen gleich. Sie alle drehten ein Video, in dem sie ihren Abschied von der Demokratischen Partei erklärten und stellten es auf dem YouTube-Kanal, den Straka zu diesem Zweck eingerichtet hatte, ein (1-2). Derzeit findet man auf Strakas YouTube-Kanal 299 „#walkaway“-Videos, und der Kanal hat 132.706 Abonnenten.

Viele weitere Personen haben ihre „walkaway“-Videos auf anderen YouTube-Kanälen eingestellt. Auf YouTube gibt es eine Sammlung von 384 „#walkaway“-Videos, die vom 10. September 2018 stammt, und niemand weiß, wie groß insgesamt derzeit die Anzahl derer ist, die ein „#walkaway“-Video gedreht und irgendwo auf sozialen Medien veröffentlicht haben.

Was die „#walkaway“-Bewegung besonders bemerkenswert macht, ist, dass sich in ihr nicht nur Menschen sammeln, die der Demokratischen Partei den Rücken kehren, und ihre Gründe hierfür öffentlich nennen, sondern dass sich in der Bewegung viele Menschen sammeln, die nach zeitgenössischer Lesart diversen Minderheiten zuzurechnen sind, vor allem Homosexuelle und Afroamerikaner, aber auch Angehörige anderer ethnischer Minderheiten und Immigranten der ersten Generation, wie z.B. eine russische Immigrantin, und der zweiten Generation, wie z.B. der Mann, der im Video von seinen Eltern erzählt, die aus dem kommunistischen China geflohen sind. (Beide wissen wahrscheinlich, wie es um real existierenden Sozialismus bestellt ist.)

 

Dass so viele Menschen „#walkaway‘-Videos veröffentlichen, die gemeinhin zu sozialen oder ethnischen Minderheiten gezählt werden, hat sicherlich (auch) damit zu tun, dass Brendon Straka, ein 42-jähriger Friseur aus Harlem, selbst offen schwul ist und sich öffentlich für Rechte von Homosexuellen engagiert, und dass Minderheitenangehörige bislang quasi-automatisch als Anhänger und Wähler von Parteien links der Mitte angesehen wurden, vor allem von den Repräsentanten dieser Parteien selbst, sind sie es doch, die den Anspruch erheben, für vermeintlich Entrechtete, Benachteiligte, Diskriminierte, Ausgeschlossene oder Nicht-Gleichgestellte zu sprechen und ihnen Rechte zu verschaffen – ganz so, als wären dieselben dazu prinzipiell nicht selbst im Stande. Dass diese Instrumentalisierung bei sogenannten Minderheitenangehörigen auf Widerspruch stößt ist nicht überraschend. Überraschend ist allerdings, dass es so lange gedauert hat, bis dieser Widerspruch von ihnen öffentlich und einprägsam formuliert wurde wie dies ein „Rückenkehrer“ in seinem „#walkaway“-Video tut, der über die „Bewildering Black Dedication to Democrats“ spricht:

Unter denjenigen, die die auf YouTube der Demokratischen Partei öffentlich den Rücken kehren, sind Menschen aus vielen verschiedenen Bevölkerungsgruppen und weltanschaulichen Lagern, vom „Drag-Artist Kitty,“ bis zum ehemaligen Polizisten, von der Feministin bis zum Pastor.

Daneben sind unter ihnen verschiedene Prominente, darunter die Song-Schreiberin und Sängerin Joy Villa, die u.a. mit ihrem Lied „Freedom (Fight For It)“ (featuring Flint Bedrock) Inhalte bearbeitet, die auch für die „#walkaway“-Bewegung ein Anliegen sind (wie z.B. dieses und dieses „#walkaway“-Video zeigt, und der für einen Grammy nominierte argentinische Komponist Al Conti, der sein „#walkaway“-Video auf Facebook veröffentlicht hat.

Es wird für die meisten Leser kaum überraschend sein, dass es Versuche gab, die „#walkaway“-Bewegung zu diskreditieren, indem z.B. behauptet wurde, russische Bots würden sie benutzen, um der Demokratischen Partei bei der anstehenden Kongresswahl zu schaden oder die „#walkaway“-Bewegung würde Photos von Bildagenturen benutzen, um zu suggerieren, dass die abgebildeten Leute der Demokratischen Partei den Rücken gekehrt hätten (hierzu und zur Erwiderung Strakas). Fake News und Petsies gehören heutzutage anscheinend zur ganz „normalen“ Ausstattung des Baukastens für den ideologischen Kampf.

Der Ökonomieprofessor Daniel Klein von der George Mason University und der unabhängige Forscher Cy Fleming haben 150 „#walkaway“-Videos analysiert, die in den ersten 130 Tagen, nachdem Straka sein Video veröffentlicht hatte, auf Strakas Kanal veröffentlicht wurden. Sie haben festgestellt, dass es in ihnen mehrheitlich gar nicht um tagespolitische Fragen und nicht einmal um politische Ideologien oder Weltanschauliches ging; vielmehr wurden von den Menschen in diesen Videos als Gründe dafür, dass sie der Demokratischen Partei den Rücken kehren, am häufigsten die mangelnde Toleranz, die Unanständigkeit und die Bigotterie der Partei genannt. Dementsprechend ist ein häufig wiederkehrendes Motiv in diesen Videos, dass es weniger die Menschen in diesen Videos sind, die die Demokratische Partei verlassen haben, als vielmehr sich diese Menschen von der Demokratischen Partei verlassen fühlen, insbesondere was die freiheitlichen Grundrechte betrifft. Bezüglich der mangelnden Toleranz berichtet eine Person in ihrem Video davon, sich erst der „#walkaway“-Bewegung angeschlossen zu haben, nachdem sie die Toleranz der eigenen Facebook-Freunde, die dem demokratischen Lager angehörten, und der Konservativen getestet hätte:

„I remember I posted one article. Within about an hour of posting this article, I had lost over 500 friends in FaceBook. That just propelled me forward more than ever. I was so heartbroken that people I’d known my whole life, people that I trusted and cared about, people who loved me, would suddenly completely turn their backs on me just because I refused to think exactly the way that they do. I decided to do a couple of experiments because people said the Republican Party will never accept you, as a gay man, they’re against this lifestyle, they hate you. So I found the largest Trump, pro-Trump groups on FaceBook,, I joined them, and I posted in these groups – intentionally the ones that felt the most extreme-right to me – about my sexual preference, about being raised Buddhist, about my feelings on same-sex marriage, how I felt about equality. And I wanted to see the reactions of these people. And I said in my post that I had just been trashed by so many people on the left for expressing my opinions. And in one of these groups I got over 1,000 responses. I read every single one of them. And there was not a single disparaging word. There was not a single insult …” (aus dem Video von Justin, zitiert nach Klein & Fleming 2019:12).

Diese und ähnliche persönliche Erfahrungen haben bei vielen Menschen ein Bewusstsein dafür geweckt, dass sich nicht unbedingt besser verhält, wer meint, auf der „richtigen“ weltanschaulichen Seite zu stehen, dass diejenigen, die sich damit hervortun, Toleranz von anderen einzufordern, nicht unbedingt diejenigen sind, die ihrerseits andere Menschen und Meinungen tolerieren. Dass es hier nicht um Parteipolitik und auch nicht um Personen geht, zeigt sich auch deutlich in anderen Einzelergebnissen der Studie von Klein und Fleming, so darin, dass in den analysierten Videos keine überwältigende Unterstützung für Donald Trump zum Ausdruck kommt, und keine überwältigende Ablehnung oder Kritik an Barack Obama (Klein & Fleming 2019: 8), und darin, dass sich bei den Menschen in den Videos ihre politischen Ansichten nicht besonders stark verändert haben (Klein & Fleming 2019: 10).

Wenn es Toleranz und Freiheitsrechte sind, von denen die Menschen in den analysierten Videos Repräsentanten der Demokratischen Partei zwar viel reden hören, aber erkennen müssen, dass im öffentlichen Leben gerade angeblich Liberale oder Linke Andersdenkende ablehnen, ausschließen, beleidigen, diskreditieren und u.a. auf politisch korrekte Sprache und Verhaltensweisen bestehen, dann ist auch das Ergebnis nicht überraschend, dass eine große Mehrheit (von über 60 Prozent) der Menschen in den Videos das Wort „liberal“ bzw. „freiheitlich“ oder „Freiheit“ im Zusammenhang mit der Demokratischen Partei nicht nennen.

Nicht nur in den USA spüren immer mehr Menschen, dass das öffentliche Klima durch politische Korrektheit, Bevorzugungs- und Benachteilungspolitiken, Anreize zur Denunziation und systematische Manipulation im Rahmen des Umbaus der Gesellschaften im Zuge von linker Identitätspolitik vergiftet ist. Aber in den USA machen Angehörige sozialer und ethnischer Minderheiten den Schritt in die Unabhängigkeit von denjenigen, die sich zu ihren Sprechern und Anwälten erklärt haben. Inwieweit das in Europa auch der Fall ist, wissen wir nicht – mangels Interesse und mangels Forschung, vielleicht auch mangels Phantasie. Wenn Entwicklungen in den USA – wie so oft – mit einiger Verzögerung in Europa ankommen, werden wir es aber vielleicht bald wissen. Und wir bei ScienceFiles vermuten jedenfalls, dass es eine Frage der Zeit ist, bis sich auch in Europa soziale und ethnische Minderheiten von ihren politischen „Freunden“ emanzipieren, die ihnen die eigene Stimme bestreiten und sie für die eigenen Zwecke und Ziele instrumentalisieren – und missbrauchen.



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