Abgeordneten-Haus der Selbstgerechten und Ahnungslosen: Hindenburg ist nicht mehr Ehrenbürger von Berlin

Natürlich hätte keiner derjenigen, die Hindenburg gerade die Berliner Ehrenbürgerschaft mit ihrer Stimme aberkannt haben, wäre er vor 97 Jahren an der Stelle des alten Reichspräsidenten Hindenburg gewesen, Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Jeder dieser modernen Helden, deren Taten in der Vorstellung stattfinden, hätte seinem Umfeld, dem Druck, der von von Papen, Sohn Oskar, Staatssekretär Otto Meißner und vielen anderen ausgegangen ist, standgehalten. Keiner wäre der Versuchung erlegen, nach Jahren der autoritären Regierung GEGEN den Reichstag, eine Regierung zu installieren, die, wie von Papen stets versichert hat, es ermögliche, die NSDAP zu zähmen und mit einer Mehrheit im Reichstag zu regieren. Und natürlich hätten alle diese satten Helden, die heute im Abgeordnetenhaus von Berlin ein Schnellurteil über einen Mann fällen, dem das herzlich egal sein kann, weil er schon seit 86 Jahren tot ist, den Nationalsozialismus mit allen nur erdenklichen Mitteln bekämpft, denn sie hätten bereits 1933 gewusst, was am Ende im Jahre 1945 dabei herausgekommen sein wird.



Die Fraktionen von SPD, Bündnis90/Grüne und LINKE im Berliner Abgeordnetenhaus, sie bestehen eben ausschließlich aus Helden, die durch ihre umfassende Ignoranz in der Lage sind, Urteile auf genau eine einzige Begebenheit zu stützen. Und so heißt es im Antrag der Fraktion der SPD, der Fraktion Die Linke, der Fraktion Bündnis90/Die Grünen mit dem Zweck “Paul von Hindenburg aus der Ehrenbürgerliste Berlins” zu streichen:

“Am 30. Januar 1933 hatte Hindenburg Hitler zum Reichskanzler ernannt. Neuere geschichtswissenschaftliche Forschungen belegen, dass Hindenburg dabei im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war.”

Ob diejenigen, die diese Sätze formuliert haben, im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte waren, ist eine Frage, die die geschichtswissenschaftliche Forschung erst noch beantworten muss. Allein die Vorstellung, ein Reichspräsident, der zugegebenermaßen hochbetagt war, der nie einen Hehl daraus gemacht hatte, das parlamentarische System nicht zu mögen, der sich aber mit diesem ungeliebten System in einer Weise arrangiert hat, wie das wohl nur ein in soldatischer Tradition und Pflichterfüllung erzogener Preuße kann, lässt Zweifel daran zu, dass derjenige, der für den Antrag der drei Fraktionen verantwortlich ist, noch alle sieben Sinne beisammen hat (oder je hatte).

In der Tat, der Mann Hindenburg, Reichspräsident und Mythos zu Lebzeiten, der Held von Tannenberg, der von der Nationalsozialistischen Propaganda für die Erzählung vom “Marschall und dem Gefreiten” einvernahmt wurde, er war im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte als er der Kanzlerschaft von Schleichers ein Ende bereitete und mit Hitler den Gefreiten, den er nicht ausstehen konnte, zum Reichskanzler ernannt hat. Keiner der Berliner Helden hätte das natürlich getan. Sie alle wären in den Widerstand, den Untergrund gegangen, hätten mit und ohne Waffen gekämpft, was das Zeug hält. Nur deshalb können sie sich heute anmaßen, ein Urteil über die Handlung eines Mann in einer historischen Konstellation zu fällen, die sie so ganz genau kennen.

Oder etwa nicht?



Machen wir eine kleine Zeitreise ins Jahr 1932. Hindenburg, Paul von, wird im Oktober sein 85stes Lebensjahr erreichen. Es ist Präsidentschaftswahlkampf in der Weimarer Republik. Amtsinhaber: Paul von Hindenburg. Herausforderer u.a.: Ernst Thälmann, internationaler Sozialist und Adolf Hitler, nationaler Sozialist. Die Gefahr, dass Hitler zum Reichspräsidenten gewählt wird, sie ist real. Das bürgerliche und demokratische Lager sieht sich in die Zange zwischen der KPD und der NSDAP genommen. Die NSDAP ist seit der Wahl vom 14. September 1930 mit 107 Abgeordneten im Reichstag vertreten. Hitler ist in Deutschland beliebt. Seine Wahl eine Möglichkeit, wenn es nicht gelingt, einen charismatischen Kandidaten zu finden, der die demokratische Tradition der Weimarer Republik retten kann. Heinrich Brüning, noch Reichskanzler, bearbeitet Paul von Hindenburg, sich abermals zur Wahl zu stellen. Er bearbeitet die SPD, Hindenburg zu unterstützen und hat Erfolg: Hindenburg erklärt sich bereit, noch einmal Reichspräsident werden zu wollen, die SPD erklärt, ihn zu unterstützen.

Wir schreiben den 1. Februar 1932. Heinrich Sahm, der Oberbürgermeister von BERLIN, gründet den Hindenburgausschuss. Ziel des Ausschusses ist es, Hindenburg zur Kandidatur zu bewegen und seine Kandidatur zu unterstützen. Hindenburg, “der Erste im Kriege, der Erste im Frieden” und der “Erste im Herzen seiner Mitbürger” wie es im Aufruf heißt, ist die letzte Hoffnung der Demokratie. Die Bedrohung der Republik ist real. “Hindenburg muss siegen, weil Deutschland leben muss”, sagt Heinrich Brüning. Der Aufruf aus Berlin wird u.a. von Gerhard Hauptmann, Max Liebermann, Ernst Lemmer unterschrieben. Sie alle machen sich stark für den Kandidaten Paul von Hindenburg, den Retter der Weimarer Republik und Helden von Tannenberg.

In der SPD ist man besonders engagiert. Otto Braun, der sich 1925 erfolglos um die Nachfolge des verstorbenen Reichspräsidenten Friedrich Ebert beworben hatte, und sich Paul von Hindenburg geschlagen geben musste, sieht in Hindenburg “Ruhe und Stetigkeit und “Mannestreue”, einen Präsidenten, der seine Pflichterfüllung für das ganze Volk über alles stelle (Winkler 1993: 447). Ernst Heilmann, Fraktionsführer der SPD im Preußischen Landtag und Reichstagsabgeordneter, sieht “Lebensgefahr für die Arbeiterklasse” und die Notwendigkeit, einen Nazipräsidenten zu verhindern. Hindenburg, so hat Heilmann geschrieben, müsse gewählt werden, damit in der “Wilhelmstraße ein verfassungstreuer Reichspräsident atmet”. Gesagt getan:

Wahlplakat der SPD zur Präsidentschaftswahl 1932
Quelle

Der Rest ist Geschichte. Hindenburg wurde mit 53,1% der Stimmen zum Reichspräsidenten gewählt, ein Amt, das er bis zu seinem Tod am 2. August 1934 nur noch kurze Zeit bekleidet hat. In diese Zeit fällt freilich die Ernennung von Adolf Hitler als Reichskanzler. Die Entscheidung, die natürlich rationale Entscheidung, Hitler zu ernennen, kann man nicht außerhalb des historischen Kontextes sehen, in dem sie gefallen ist, eines Kontextes, der vor allem dadurch geprägt war, dass zwischen den Extremisten der KPD und den Extremisten der NSDAP nur sehr wenig Raum für demokratische Entfaltung geblieben ist. Ein Problem, das Franz von Papen, dadurch lösen wollte, dass er Hitler in einer gemeinsamen Regierung aus NSDAP und DNVP “zähmt”. 



Franz von Papen

Franz von Papen hat für seine Idee geworben, Verhandlungen geführt, zwischen Hindenburg, der Hitler nicht ausstehen konnte, und Hitler, vermittelt. Kurt von Schleicher hat in dieser Phase eine mehr als unglückliche Rolle gespielt. Otto Meißner, als Staatssekretär eine der wenigen Konstanten der Weimarer Republik, war ebenso daran beteiligt, den widerspenstigen alten Reichspräsidenten für die Papen-Idee zu begeistern wie der Sohn des alten Herrn, Oskar von Hindenburg. Karl Dietrich Bracher hat auf vielen Seiten die Situation beschrieben, die zur Ernennung von Hitler als Reichskanzler geführt hat. Das Urteil, das Politdarsteller heute aus einer Handlung entnehmen zu können glauben, weil ihr Bemühen virtue signalling auf Kosten von anderen zu betreiben, sich zu inszenieren, weil Inszenierung mangels politischer und sonstiger Kompetenz das einzige ist, zu dem sie fähig sind, war früher Gegenstand umfassenden Aktenstudiums, der Anwendung wissenschaftlicher Methoden und des Bemühens, historischen Personen gegenüber fair zu sein. Dieses Bemühen kann natürlich da keinen Bestand haben, wo selbstgerechte, sich selbst überschätzende “Abgeordnete”, die weitgehend ohne Berufsausbildung geblieben sind, sich auf Kosten Dritter inszenieren wollen.

Und so kommt es, dass die Berliner Selbstgerechten auf einen Mythos hereinfallen, den die Nazis sorgfältig geschmiedet haben, um den Hindenburg-Kult, der in der Weimarer Republik verbreitet war, für sich zu nutzen: Der “Marschall und der Gefreite”, sorgfältig am Tag von Potsdam, dem 21. März 1933, der Wiedereröffnung des Reichstags in der Potsdamer Garnisonskirche von Göbbels inszeniert, dokumentiert im Bild des demütigen Gefreiten im Handschlag mit dem Marschall. Natürlich hat sich Hindenburg nicht öffentlich gegen seine Vereinnahmung gewehrt. Vielleicht hat es sein Ego gepinselt. Wer wird nicht gerne in der Öffentlichkeit gefeiert? Jesko von Hoegen hat die Funktionalisierung des Hindenburg-Mythos durch die Nationalsozialisten in seinem Beitrag “Der „Marschall“ und der Gefreite anschaulich” beschrieben. Der Beitrag ist über die Seiten der Humboldt-Universität einsehbar. Selbst ein Abgeordneter der drei selbstgerechten Fraktionen aus Berlin hätte ihn lesen können

Aber Wissen schadet natürlich der eigenen Inkompetenz, und Inkompetenz ist die Voraussetzung für Selbstinszenierung und virtue signalling, die beide in Zweifeln schnell untergehen. Zweifel wiederum, sind die natürliche Folge von Wissen.

Sicher, die Abgeordneten der Stadt Berlin können Ehrenbürgertitel vergeben und entziehen, wie es ihnen beliebt. Schließlich sind sie (wie Hitler) gewählt, und es scheint niemanden in Berlin zu kümmern, was sie im Abgeordnetenhaus so treiben. Wenn die Begründung für willkürliche Akte zur Selbstbeweihräucherung der Geschichte aber Gewalt antut, wenn die Selbstbeweihräucherung ohne rudimentärstes historisches Wissen, aber im Einklang mit dem (vom Berliner Senat) zu verantwortenden unterirdischen Bildungssystem der Stadt erfolgt, wenn die Heuchelei so dick wird, dass Atemnot entsteht, muss widersprochen werden.

Auf Platz 57 der Rangliste der Berliner Ehrenbürger ist übrigens Max Liebermann zu finden. Der Max Liebermann, der 1932 den Hindenburgaufruf unterschrieben hat und der in der Unlogik der Berliner Selbstgerechten damit (mit)verantwortlich für die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler durch von Hindenburg ist. Muss nicht auch Liebermann die Ehrenbürgerschaft entzogen werden, und muss nicht die gesamte SPD verboten werden, als diejenigen, die 1932 das Zünglein waren, dem die Wiederwahl von Paul von Hindenburg zu verdanken ist?

Fragen über Fragen, deren Beantwortung viel virtue signalling Potential verspricht und das ist wichtig in einer Zeit, in der sich Ahnungslose ohne bekannte Leistung in Selbstgerechtigkeit suhlen und sich auf Kosten von historischen Personen und ohne Rücksicht auf Wissen und Kompetenz inszenieren wollen. Eigentlich haben diejenigen, die das notwendig haben, Mitleid verdient… wir tun unser Bestes, alas …


Winkler, Heinrich August (1993). Weimar 1918-1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie. München: Beck.



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